Nummer 300 - Juni 1999 | Ökonomie

Krebsen am Existenzminimum

Überleben zwischen Bananen, Krabben und Tonfiguren in Ecuador

Valdivia ist ein kleines Fischerdorf an der ecuadorianischen Küste. Seit zehn Jahren hält durch die Globalisierung der Krabbenfang Einzug. Steigende Einkommen für die Fischer gehen allerdings mit einer fortschreitenden Umweltzerstörung einher. Jenseits dieses Sektors blieb alles beim Alten: Wer überleben will, muß flexibel sein und jede Einkommensmögklichkeit ergreifen.

Karin Gabbert

In das arme Fischerdorf Valdivia an der ecuadorianischen Küste verirren sich nur selten TouristInnen. Aber man kennt die Venus. Die Venus von Valdivia gilt als eine der ältesten Darstellungen einer Frau auf der Welt. Circa 3200 Jahre vor Christus formten die EinwohnerInnen diese Figur aus Ton mit den spitzen Beinen und Brüsten. Seit Archäologen ihren Wert entdeckten, formen sie die Venus wieder. Bis vor einigen Jahren gaben sie ihre nachgemachten Figuren als fünftausend Jahre alte Fundstücke aus, und wer auf den Schwindel hereinfiel, fühlte sich betrogen. Mittlerweile sind die EinwohnerInnen stolz auf ihre nachgemachten Figuren. EthnologInnen haben ihre Fertigkeit, die alte Kultur zu kopieren, als „künstlerisch wertvoll“ anerkannt. Nun geben KunsthandwerkerInnen aus der Gegend sogar Kurse im Formen der Venus. Dazu benutzen sie den gleichen Ton wie ihre Vorfahren, die gleichen Vorlagen, die gleichen Glasuren, und die gleichen Brenntechniken. Das einzig Neue ist: Sie müssen alt aussehen. Dafür werden sie mit einer speziellen Asche behandelt.
Das alles lernt Gloria Aguirre gerade. Sie hat Formen angefertigt für die Venus, für ebenso alte Urnen und für ein paar neue Motive. „Sie gehen beim Brennen leicht kaputt“, sagt sie. Deshalb hat sie erstmal mit kleinen Figuren angefangen. „Vielleicht kann ich in ein paar Monaten ein bißchen Geld damit verdienen“, so ihre Hoffnung. Gloria Aguirre ist 24 Jahre alt.
Wenn sie mit ihrem Freund durchs Dorf geht, erntet das Paar viele Blicke. Man runzelt die Stirn darüber, daß sie in ihrem Alter noch nicht verheiratet sind und keine Kinder haben. „Aber wir besitzen überhaupt nichts“, sagt Gloria Aguirre. „Nichts“ heißt bei ihr: wirklich wenig. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einem Raum einer verfallenen Hütte ohne Wasser und Strom. Sie haben kein Erspartes, keine regelmäßigen Einkünfte, oft nur das Nötigste zu Essen.
Aussichten auf einen Job gibt es in dem kleinen Fischerort nicht. Genau wie alle anderen muß sie sich ihre Möglichkeiten, an Geld zu kommen, selbst erschließen. So wie die Töpferei. Weil das aber nicht reicht, fertigt sie noch Schnittmuster an, die sie an Schneiderinnen, die so Kleidung herstellen, die noch billiger ist, als die importierte Massenware. So bleiben für die Schnittmuster nur ein paar Pfennige übrig. Das hat aber den Vorteil, daß es nur wenige gibt, die auf diese Branche setzen. Glorias Freund produziert massenweise Masken aus Papier. Masken für Carneval, Masken für Kindergeburtstage, Masken für Dorffeste.
„Wenn alles richtig läuft, dann können wir in ein oder zwei Jahren heiraten“, sagt Gloria Aguirre. Ihre Zukunft hängt an neuen alten Töpferarbeiten, an Schnittmustern und an Papiermasken. Oder auch nicht, denn wie alle Leute in den Fischerdörfern an der armen Pazifikküste mußte sie lernen, sich ständig etwas Neues einfallen zu lassen, um zu überleben. Und sie mußte lernen, sich mit wenig zufriedenzugeben. Aber darin, daß sie mit dem Heiraten und Kinderkriegen lieber noch wartet, solange sie keine eigene Hütte beziehen kann, darin unterscheidet sich Gloria von vielen anderen.
Dabei verdienen die meisten Leute in Valdivia genau wie Gloria ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht. Sie bauen Bananen, Wassermelonen und Yucca an, sie stellen Schuhe her, sie verkaufen Eis und bauen Tische und Schränke. Manche Männer fahren wie eh und je aufs Meer und fischen. Aber es gibt nur eines, was wirklich etwas einbringt: Die Garnelen.

Zurück aufs Meer

Glorias Schwager Nolasco Pérez ist deswegen vor fünf Jahren auf die Fischerei umgestiegen. Vorher war er ein paar Jahre lang Busfahrer. Jetzt hat er sich ein bongo, ein kleines, wendiges Boot gebaut. Darin fährt er mit seinem Bruder und seinem Sohn aufs Meer. Immer, wenn es Erfolg verspricht. „Das sehen wir daran, wie sich das Meer bewegt, oder wie ruhig es ist“, erklärt Nolasco. Seine Frau, Glorias Schwester Rosa, flickt die Netze. Eine Sorte ist für die traditionellen „weißen“ Fische. Die essen sie selber oder verkaufen sie im Dorf. Die Netze für die Garnelen sind länger und schmaler. Und dann sind da noch die knallroten Netze, die zwischen zwei Stäben hängen und malerisch vor beinahe jedem Haus an der gesamten Küste der Halbinsel Santa Elena lehnen, so daß jeder, der zum ersten Mal die Küste entlang fährt, sich sofort in eine andere Szenerie und eine andere Zeit versetzt fühlt: Als ob überall die eingerollten roten Fahnen auf den nächsten Marsch der rebellischen Landbevölkerung warteten.
Das sind die Netze für die Krabbenlarven. „Damit habe ich auch angefangen,“ sagt Nolasco. Vor etwas über zehn Jahren wurden hier an der südlichen ecuadorianischen Küste große Krabbenzuchtbecken angelegt. Da hatten sie sich bereits in den Mangrovensümpfen um Guayaquil, der größten Stadt des Landes, etabliert. Als klar wurde, welche Profite dieses „nicht-traditionelle Exportprodukt“ einbrachte, fanden sich soviele investitionsfreudige nationale und ausländische Unternehmer, daß sich die Krabbenzucht in den Mangrovensümpfen im Norden Ecuadors und auch hier auf der Halbinsel Santa Elena ausbreitete. Heute sind beinahe alle freien Stellen zwischen den Fischerdörfern der Halbinsel mit den riesigen Becken bedeckt. Die Krabben haben die Bananen als zweitwichtigstes Exportprodukt nach dem Öl verdrängt. Und Ecuador wurde nach China, Indonesien und Thailand zum viertgrößten Krabbenexporteur der Welt.
Um die Krabbenlarven zu fangen, braucht man nicht aufs Meer zu fahren. Immer wenn die Flut steigt, schieben Männer und Frauen und Kinder die feinmaschigen roten Netze wie große Segel langsam durchs Wasser vor sich her. Sie wechseln sich ab. Der Rest der Familie sitzt auf dem Strand und bewacht die Eimer, die sich mit winzigen, durchsichtigen Larven füllen. Wenn es Nacht wird, brennen dann viele kleine Lagerfeuer an der Küste. Kurz vor Ende der Flut fahren die Händler mit ihren Pick-Ups vor, kaufen die Ausbeute auf und transportieren sie zu den Zuchtbecken weiter.
Zunächst brachten die Larven mehr ein als alles andere. Deshalb stellten auch viele Fischer auf Krabben um. Dazu kam, daß die Fischbestände durch das Abfischen von Larven und Minifischen zurückgingen. Aber als bald jede Familie sich an der Larvenfischerei beteiligte, gingen die Preise zurück. Und dann kam das Wetterphänomen „El Niño“. Im vergangenen Jahr wurde die Küste monatelang durch Stürme und Überschwemmungen verwüstet. Dabei wurden auch die Zuchtbecken für Krabben und damit die wichtigste Einnahmequelle vieler Küstenleute zerstört. „Davon haben wir uns immer noch nicht erholt“, klagt Nolasco. Die Bauern, die Handwerker, die Händler, alle hätten weniger verkauft, weil niemand mehr Geld hatte. Er erinnert sich auch an die erste Gelegenheit, die Krabben zu probieren, deren Larven er im Meer gefangen hatte: „Wenn die Zuchtbecken überschwemmt wurden, schwammen die Krabben auf den überfluteten Straßen herum, und wir machten uns einen Spaß daraus, sie zu fangen“. Aber geschmeckt hätten sie nicht, die mit Kraftfutter hochgezüchteten Tiere. „Die Krabben, die wir im Meer fangen“, sagt er, „sind kleiner und besser“.
Zum Glück hatte er schon im Jahr vor El Niño sein bongo gebaut. Damit fährt er mit seinem Bruder und seinem Sohn Fausto aufs Meer und fischt nach trächtigen Garnelenweibchen. Diesen Schatz machen die Laboratorios mit Namen „La Larva feliz“ oder „Larvioro“, die an der Küste aus dem Boden sprießen, zu Gold. In den Laboratorios legen die Weibchen ihre Brut ab. Jetzt, wo überall Zuchtbecken wieder neu aufgebaut werden müssen, bringt ein Garnelenweibchen umgerechnet zwölf Mark. Gehen vier davon in einem Monat ins Netz, verdient die Familie Pérez mehr, als die meisten im Dorf.
„Aber jetzt waren wir zweimal draußen und haben nichts gefangen“, erzählt Nolasco. Das sei besonders ärgerlich, weil die Boote der Zwischenhändler wie wild zwischen den Fischern herumgeschossen seien, um sich die Weibchen zu sichern. „Sie hatten zwar vor, den Preis zu drücken“, lacht Nolasco. „Draußen am Strand hatten sie sich auf zehn Mark pro Tier geeinigt. Aber sobald einem von uns eines ins Netz ging, überboten sie sich gegenseitig. Es gab sogar eine Prügelei auf dem Meer.“ Wenn die Zwischenhändler keinen Nachschub liefern, bringen sie ihre Verträge mit den Laboratorios in Gefahr. Diese Exklusivverträge verhindern es, daß Nolasco seinen Fang direkt an ein Laboratorio verkauft. Dabei steht eines mitten in Valdivia, neben seinem Haus. Es hat hohe Mauern und keine Fenster. Nolasco kennt weder den Besitzer, noch weiß er, wieviel sie dort für die Garnelen bezahlen.

Die Mangroven bleiben auf der Strecke

In den Laboratorios wird auch das Futter für die Larven in den Becken entwickelt. Immer neue, effizientere Algensorten, Wachstumshormone und Chemie gegen Schädlinge und Krankheiten. Wo ein Becken aufgegeben wurde, sieht man mit einer weißen Kruste überzogene, aufgerissene Erde. Das sind versalzene Böden, auf denen jahrelang nichts wächst. Das interessiert aber niemanden. Nolasco glaubt nicht daran, daß die Erde oder das Meer oder die Fische einmal ausgehen könnten. „Sie waren doch immer da.“ Eine Frau, die im Nachbardorf von Valdivia eine kleine Umweltorganisation vertritt, erklärt, daß es nur dort Proteste gibt, wo für Zuchtbecken Mangroven gerodet würden: um Guayaquil herum und an der nördlichen Küste.
Die Hälfte der ecuatorianischen Mangrovenwälder sind bereits verschwunden, manche Quellen behaupten sogar, zwei Drittel. Um internationalen Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, verbot die Regierung 1994 die Rodungen für fünf Jahre und bemüht sich um ein umweltfreundliches Image. Im Umweltministerium wurde sogar eine eigene Abteilung eingerichtet, um die Garnelenindustrie zu überwachen. Doch seither haben sich die Zuchtanlagen weiter ausgebreitet. Die Umweltorganisation Greenpeace drohte Anfang des Jahres mit einem weltweiten Boykott von ecuadorianischen Krabben, falls die Regierung den Schutz der Mangroven nicht garantiere. Die Proteste kamen vor allem aus Spanien, dem zweitgrößten Abnehmerland nach den USA. Doch als Ecuador im März in eine akute Finanzkrise geriet, in der der Staat sogar die Banken schließen mußte, um eine Bankrotterklärung zu vermeiden, habe die Regierung unter der Hand Mangrovenwälder an Garnelenzüchter verkauft, behauptete die Zeitung El Universo.
In Valdivia würde wohl kaum jemand die Proteste gegen die Garnelenzüchter verstehen. Die Krabbenlarven und die Garnelenweibchen sind für die meisten die einzige gute Einnahmequelle. Wie tief sich die Garnelen in das Denken gefressen haben, zeigt Nolascos Sohn Fausto. Er geht wieder zur Schule, seit es in der Oberstufe eine Spezialisierung auf Biochemie gibt. „Das ist mein Traum“, sagt er, „Ich möchte in einem Laboratorio arbeiten.“ Sein Vater Nolasco kann ihm die Schule bezahlen, solange die Preise für Garnelen weiter gut sind. Aber er sieht seinen Sohn nicht im weißen Kittel in einem der respektablen Laboratorios: „Fausto ist zu sanft und ein bißchen langsam“, sagt er. „Doch es kann ja nicht schaden, zur Schule zu gehen.“ Wahrscheinlich wird Fausto also genau wie sein Vater Nolasco und seine Tante Gloria immer wieder seine eigene Mischung finden müssen, um etwas Geld zu verdienen: Mal Bananen anbauen, mal Bus fahren, mal Papiermasken basteln oder Fischen gehen.

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