KRIEG UM LAND VERSCHÄRFT SICH
Nicaraguas Indigene rufen um Hilfe, um ihre Territorien zu schützen und ihre Leben zu retten
Proteste gegen die von Siedlern provozierten Brände in dem Biosphärenreservat, Foto: Jorge Mejía Peralte (CC BY 2.0)
Die Küstenregion der nicaraguanischen Karibik wird von 304 Gemeinschaften bewohnt: den indigenen Mayangna, Miskito, Rama, Garífuna und afrodescendientes, deren Vorfahren aus Afrika verschleppt wurden. Sklav*innen, die sich während des transatlantischen Sklavenhandels nach Schiffshavarien und Sklavenrevolten auf der Karibikinsel Jamaika an die Küste retteten. 2002 verabschiedete das Parlament unter der liberal-konservativen Regierung von Enrique Bolaños das Gesetz 445, wodurch 36.000 Quadratkilometer Land in den Besitz der indigenen Gemeinschaften übergingen, die sich fortan durch eigene lokale Autoritäten selbst verwalteten. Zu dem Gebiet zählen die Biosphärenreservate Bosawás im Norden, das die größten, noch intakten Waldflächen des Landes beherbergt, und Indio Maíz Río San Juan im Süden. Die UNESCO verlieh Bosawás 1997 und Rió San Juan 2003 den Status als Biosphärenreservat, die seitdem zum Welterbe gehören.
Seit mehr als 10 Jahren leiden die indigenen Gemeinschaften unter der Invasion ihres Territoriums durch Siedler*innen, die sich mit Waffengewalt ihr Land aneignen. Hauptaktivitäten der Siedler*innen sind die Abholzung und Brandrodung der Wälder zur Gewinnung von Weideland und Anbauflächen. Der zerstörerische Umgang mit den Ressourcen der Reservate bedroht nicht nur die Artenvielfalt, sondern hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Gemeinschaften. Beispielsweise hat die Nichtregierungsorganisation Proyecto Tapir Nicaragua im Reservat Indio Maíz herausgefunden, dass die Siedler*innen verschiedene Arten von Chemikalien zum Fischen verwenden, wobei giftige Substanzen die Flüsse kontaminieren und über Krustentiere und Fische in die Nahrungskette gelangen. Die Einwohner*innen befürchten langfristige gesundheitliche Folgen wie Krebs, Schädigungen des Gehirns oder Hautinfektionen.
Die Coronapandemie hat die Landnahme in indigenen Territorien verschärft
„Wir müssen verstehen, warum es so viele bewaffnete Menschen gibt”, wird Lottie Cunningham, Miskita und Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste Nicaraguas (CEJUDHCAN), in einem Bericht der Online-Zeitung 100%Noticias zitiert. „Das sind keine armen Leute, keine einfachen Bauern. (…) Die meisten Siedler sind ehemalige Militärangehörige, die von Regierungsbeamten unterstützt werden; sie handeln gewaltsam, um ihre Präsenz auszuweiten und indigenes Land zu besetzten.” Cunningham räumt ein, dass sich unter den Siedler*innen möglicherweise auch Familien befinden, die von den Anführer*innen nur angestiftet und missbraucht würden. Dies zu regeln sei aber die Verantwortung des Staates, denn sämtliche Verbrechen blieben bisher straflos.
CEJUDHCAN hat seit 2015 vierzig von Siedler*innen verübte Morde, fünfzig Verletzte, vierundvierzig Entführte und vier Verschwundene in den indigenen Gemeinden sowie tausende Fälle gewaltsam von ihrem Land Vertriebener dokumentiert (Stand Februar 2020). Angaben der Organisation zufolge sind bis März 2020 allein in den Miskito-Gebieten aufgrund der Siedleraktivität 23.243 Hektar Ernten verloren gegangen, was in den betroffenen Gemeinschaften zu einer beispiellosen Nahrungsmittelkrise geführt hat.
„Wir sprechen von Menschen, die sterben, die sich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft befinden, die nicht schlafen können, die nichts zu essen haben und die Angst haben, angesichts der Möglichkeit bewaffneter Angriffe auf ihre Parzellen zu gehen, um Lebensmittel zu holen. Die größte Angst, die die indigenen Völker haben, ist der Ethnozid”, warnte Cunningham während einer öffentlichen Anhörung zur Untersuchung der Risikosituation der indigenen Miskito-Bevölkerung in der Karibik Nicaraguas, die vom Zentrum für Justiz und Völkerrecht (CEJIL) am 13. März dieses Jahres in der costa-ricanischen Hauptstadt San José veranstaltet wurde.
Allein die Zusammenstellung einiger exemplarischer Ereignisse aus diesem Jahr illustriert eindrucksvoll die existentielle Gefahr, in der sich die indigenen Gemeinschaften Nicaraguas befinden: Am 29. Januar überfielen etwa 80 bewaffnete Siedler*innen eine Gruppe der indigenen Mayangnas, als diese im Biosphärenreservat Bosawás jagten und fischten. Danach drangen sie in das Dorf der Gemeinde Alal ein, wo sie zwölf Häuser niederbrannten und das Feuer auf die Dorfbewohner eröffneten: Sechs Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben.
Am 18. Februar berichtete 100%Noticias über einen Angriff Bewaffneter auf die Gemeinde Santa Clara im Gebiet Wangki Twi Tasba Raya in Waspam, einem von Miskitos bewohnten Gebiet. Gegenüber Voz de América schilderte Susana Marley, indigenes Oberhaupt dieser Gemeinde, einen brutalen Überfall, bei dem eine Familie, die im Fluss badete, unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Eine Kugel traf eine Jugendliche mitten ins Gesicht und zerschlug ihren Kiefer. „Sie (die Siedler*innen, Anm.d.Red.) haben sich im Bergland niedergelassen und Gemeinschaften mit großen Weideflächen gegründet. Sie nennen ihren Ort Araguas. Von dort aus kommen sie mit ihren Waffen: Sie haben Häuser, Kirchen, Schulen niedergebrannt und Haustiere getötet”, erklärte Marley.
Am 28. Februar beklagte der Menschenrechtsverteidiger Joshwel Martínez einen weiteren Angriff auf die Miskito-Gemeinde Santa Clara. „In den frühen Morgenstunden dieses Freitagmorgens wurde die indigene Gemeinschaft Opfer eines neuen Angriffs, der von den Siedlern mit Kriegswaffen verübt wurde” und versicherte, dass sich die Angreifer*innen wie Paramilitärs verhielten. Mit „Der Krieg hat begonnen” ist auch ein Drohbrief überschrieben, der einen Tag zuvor in der indigenen Miskito-Gemeinschaft in Wisconsin aufgefunden wurde. Am 26. März bestätigten die lokalen Führer der Mayagnas eine Siedler*inneninvasion in der Wasakin-Gemeinde, bei der drei Gemeindemitglieder ermordet und vier durch Schussverletzungen schwer verletzt wurden.
Schon Tausende Indigene wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben
Angesichts dieser Entwicklung könnten Schicksale wie das der indigenen Sangni Laya-Gemeinschaft zu einem alltäglichen Bild werden: Mit Rucksäcken voller Kleider und Habseligkeiten auf den Schultern, die Kinder an der Hand und ein paar Säcken mit Lebensmitteln flohen am 2. September mehr als dreißig Familien der Sangni Laya im nordkaribischen Twi Yahbra-Gebiet vor der Androhung eines Angriffs durch bewaffnete Siedler*innen.
Juan Carlos Ocampo, Gemeindeführer der Sangni Laya, erklärte gegenüber der Internetzeitung Confidencial, dass die Untätigkeit der Polizeibehörden sowie der regionalen und territorialen Regierung ein Beweis für eine Komplizenschaft des Staates sei. Ihm zufolge gibt es keinen Grund, nicht zu handeln und die Siedler*innen, die in ihr Gebiet eindringen, nicht räumen zu lassen.
Regionale Behörden und die Polizei schützen die Siedler*innen
Für Selmira Flores geht es bei den Konflikten an der Karibikküste jedoch nicht allein um den Umgang mit Ressourcen. Ihrer Ansicht nach sind es auch kulturelle Konflikte zwischen zwei Weltanschauungen, bei denen es um die gegenseitige Wahrnehmung geht. „Da die Ureinwohner der Karibik ihrer Bevölkerungszahl nach in der Minderheit sind, glauben wir, dass sie nicht denkfähig, dass sie rückständig sind, dass sie faul sind, dass sie gerne leben, ohne zu arbeiten.” Der an jene Vorurteile geknüpfte traditionelle Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft befeuert nicht zuletzt auch die Gewalt in den indigenen Territorien. Ein weiterer grundlegender Widerspruch besteht in der Einstellung zum Besitz: Der indigene Grundbesitz ist Gemeinschaftsbesitz, die größten Landflächen sind kommunal und nicht privat.
Rassismus und Konflikte über unterschiedlichen Verhältnisse zum Grundbesitz heizen die Gewalt an
Gehör finden die Indigenen in ihrer Not bislang nur bei Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und ihren Organisationen. Diese sind sich einig in der Bewertung der Rolle des Staates, der Polizei, der Justiz, deren Untätigkeit die Präsenz von Siedler*innen und Unternehmer*innen in den indigenen Gebieten weiter fördert und die Korruption unter Staatsbeamt*innen in der Küstenregion deckt, die in die illegalen Aktivitäten und den Verkauf von indigenem Land verwickelt sind.