Kultur nicht verkaufen, sondern verschenken
Wie Gemeinschaftsbibliotheken Bücher in Gegenden bringen, die der chilenische Staat vergessen hat
Im März 1995 stach die Bibliolancha Itinerante (etwa: „wanderndes Biblioboot“) zum ersten Mal in See. Teolinda Higueras von der Insel Chiloé im zentralen Süden Chiles, damals Leiterin der öffentlichen Bibliothek von Quemchi, hatte sich die Reise auf einem Boot der Gemeinde zur Aufgabe gemacht: Sie wollte die abgelegensten Ortschaften der Inselgruppe anfahren und diese mit Büchern versorgen.
Seit der Gründung dieses einzigartigen Projekts sind fast dreißig Jahre vergangen. Noch immer steht es unter der Leitung von Teolinda und ihrer Familie, heute unter Schirmherrschaft eines Kulturvereins, der den Namen der Kunsthandwerkerin Otilia Yáñez trägt. Schon im Jahr 1998 konnte sich das Projekt den Traum eines eigenen Bootes erfüllen: Seitdem fährt die kleine Fähre, in der bis zu 32 Menschen Platz haben, die Inseln Tac, Metahua, San José, Añihue, Mechuque, Voigue, Cheniao, Chauques und Butachauques an und öffnet den abgelegenen Ortschaften die Türen zur Welt der Kultur.
Nach den ständigen Fahrten über die Inseln sei Teolinda in den ersten Jahren bewusst geworden, in welchen Realitäten die Menschen in dieser Gegend lebten: geprägt von der Einsamkeit der Ferne und dem fehlenden Zugang zu Kulturangeboten, die dem Rest des Landes zur Verfügung stehen. Im Laufe der Jahre bietet sie auf dem Boot nicht nur Bücher an, sondern auch Theater, Kino und reist zusammen mit Geschichtenerzähler*innen. „Dort, wo der der Staat nicht hinkommt, sind wir da“, berichtet sie. Die Gemeinschaftsbibliotheken wurden auf Initiative von Nachbar*innen gegründet und von ihnen verwaltet. Sie entstehen an Orten, in denen die Entfaltung kultureller Institutionen nicht ausreichend ankommt und somit als Antwort auf eine bestimmte Notwendigkeit: der Suche nach einem Raum, um sich Büchern und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu nähern. Doch oft werden die Bibliotheken auch zu dem Ort, an dem Menschen ihre gemeinsamen sozialen Kämpfe aufbauen können.
Um zur Villa Andes del Sur im Stadtteil Puente Alto von Santiago zu kommen, braucht man mehr als eine Stunde. An einer Haltestelle an der Kreuzung der Straßen Los Toros und Nuevo Continente wurde sich ein vernachlässigter Ort wieder angeeignet, um dort die heutige Bibliothek der Villa aufzubauen. Es ist ein bunter Ort voller verschiedenster Bücher entstanden.
„Mir wurden viele Bücher gespendet und alles Mögliche überlassen, das ist das Wichtigste. Filme, Poster, VHS-Kassetten, Zeitschriften. Auch beim Verfassungsplebiszit wurden mir die Ablehnungs- und die Zustimmungskampagnen überlassen, dieser Ort dient also kulturell gesehen sehr vielem“, erzählt Diego Riffo, der das Projekt leitet und Vizepräsident des Gemeinderats ist. Er erklärt auch, dass „die Bibliothek entstanden ist, um auf eine Forderung einzugehen, die nicht erst während des estallido (chilenische Revolte ab Oktober 2019, Anm. d. Übers.) aufkam: die Alphabetisierung. Es gab so wenig Kultur, Bücher hatten so wenig Prestige, das Lesen war immer sehr zentralisiert“.
Was Riffo sagt, wird von einer Studie der Stiftung Vivienda von 2019 untermauert, die untersuchte wie viele Familien aus Santiago Zugang zu Verkaufs- und Verleihstellen von Büchern haben. Hierbei stellte man eine beachtenswerte Schere zwischen verschiedenen Stadtteilen fest. Die geringsten Anteile von Familien mit Zugang zu Büchern – jeweils unter zehn, teilweise sogar unter fünf Prozent – wiesen die Stadtteile San Bernardo, Puente Alto, La Pintana, El Bosque, Quilicura, Macul, Renca und Conchalí auf. Diese Kommunen liegen größtenteils am Rande Santiagos, die Fahrtwege betragen teilweise mehrere Stunden.
Ein paar Kilometer weiter, in der Villa Doña Gabriela, findet man die Biblioteca Popular Ramiro, die an Mauricio Hernández Norambuena erinnert, auch bekannt als comandante Ramiro der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (linke Guerrillaorganisation der Zeit der Diktatur, Anm. d. Übers.). Auf einem Regal vor dem Haus von Juan Pablo Álvarez in Puente Alto stapeln sich die Bücher in die Höhe: Schulbücher, Fiktion, Literaturklassiker. In diesem Haus befand sich früher eine der öffentlichen Bibliotheken von Santiago, deren Verwaltung dem Gemeinderat überlassen wurde. Juan Pablo sitzt auf der Straße und erinnert an die Anfänge des Projekts, das im Mai 2020 von ihm gegründet wurde und inzwischen bis zu 3.600 Bücher besitzt, die den Nachbar*innen der Siedlung zur freien Verfügung stehen. Das Projekt wurde mit der Vision gestartet, die Bildung aus dem Stadtteil heraus zu organisieren.
„Die Idee für die Bibliothek entstand aus einer Unruhe heraus – und aus dem Aufruf dazu, dass es auch am Stadtrand Bibliotheken geben sollte“, sagt Álvarez, der sich selbst Professor der öffentlichen Bildung von unten nennt. Dabei hat er sich von anderen Bibliotheken der Kommune inspirieren lassen, die Bücher an Bushaltestellen oder vor Häusern platzierten und Workshops sowie Kulturangebote organisierten. All das wurde von den Nachbar*innen gut aufgenommen – vor allem während der Pandemie, als Bücher angesichts der sozialen Isolation zu einem Rückzugsort wurden. „Die Menschen, die am Stadtrand wohnen, brauchen Abwechslung, wenn sie ihr Zuhause zum Schlafen oder zusammen mit anderen benutzen. Ich denke, es braucht neben den Fußballplätzen und den Spielen auf den Plazas auch Orte der Entspannung und zum Lesen. Aber das Lesen fällt am Stadtrand schwer. Das liegt am Scheitern des Bildungssystems, weil in den Schulen nicht gelesen wird. Es gibt eine Krise des Leseverständnisses, der Textbearbeitung und der Textanalyse“, meint der Professor.
Das aktuelle Staatliche System Öffentlicher Bibliotheken (SNBP), das in Partnerschaft mit der Verwaltung für Bibliotheken, Archive und Museen (DIBAM) organisiert ist, deckt 96 Prozent der Fläche Chiles ab. Das heißt, dass es in 332 von 346 Kommunen mindestens eine Ausleihstelle für Bücher gibt. Da stellt sich die Frage: Warum haben sich die Gemeinschaftsbibliotheken von staatlichen Vorgaben und etablierten Strukturen unabhängig gemacht? Ihre Motivation liegt laut den Betreiber*innen darin, horizontale Strukturen in ihren Projekten zu fördern und nicht nur zum Lesen anzuregen, sondern auch Gemeinschafts- und Kulturräume zu schaffen.
Nachbarschaftliche Beziehungen knüpfen
Bibliotheken wie die von Teolinda, Diego und Juan Pablo beweisen eine Organisierung der Nachbarschaften rund um die Projekte. Die Initiativen haben ein Netzwerk der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftsgruppen geschaffen, das es ihnen ermöglicht, ihre Kontakte zu erweitern und mehr Teilnehmer*innen anzusprechen. So sind rund um die Demokratisierung des Lesens auch verschiedene Räume des Miteinanders sowie Kulturzentren entstanden.
Dass sich die Initiativen zusammenschließen und vernetzen, wird zur kulturellen und gesellschaftlichen Stärke: Juan Pablo erzählt, dass die Netzwerke zwischen verschiedenen Bibliotheken in Puente Alto schon ermöglichten, die Bibliotheken als Vorratszentren zu nutzen, um Notfälle wie Stürme oder Brände zu bekämpfen. Die Gemeinschaft besteht also nicht nur aus Leser*innen, die in den Büchern Zuflucht suchen, sondern aus aktiven gesellschaftlichen Akteur*innen.
Auch Diego Riffo von der Bibliothek aus Villa Andes Sur berichtet davon, dass durch die Vernetzung zwischen den Nachbar*innen aus Puente Alto eine Einheit entstanden ist, in der Unbekannte zu Bekannten wurden. „Was auch schön ist: Wenn neue Gemeinschaftsbibliotheken entstehen und bekannter werden, sehen die Leiter der anderen Bibliotheken ihre eigene Arbeit fruchten – weil eine nach der anderen entsteht“, freut sich Riffo.
Beide Initiativen in Puente Alto setzen einen Schwerpunkt darauf, das Lesen mit anderen Arten der Kultur zu verbinden. Juan Pablo erzählt davon, wie er Musikbands kennengelernt und dazu eingeladen hat, auf ihren Konzerten einen Bücherstand aufzustellen. „Anstelle die Kultur zu verkaufen, wird sie verschenkt“, sagt er mit Überzeugung.
So entstehen zwischen den Seiten der Bücher menschliche Bindungen. Nataly Nuñez, die die Bibliothek Villa Andes Sur benutzt, erzählt davon, wie sie Nachbar*innen näherkam, die vorher Fremde waren: „An einem Tag las ich gerade, als eine ältere Frau bei der Suche nach einem Buch hinfiel. Ich half ihr, aufzustehen und nun ja – heute gehen wir sogar zusammen zum Yoga. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir so dankbar für diesen Ort sind. Er bringt uns dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ In dem Stadtviertel, das weit entfernt vom Zentrum der Hauptstadt liegt, bilden sich Bindungen, die denen einer Familie ähneln. „Ich komme her, um die Bücher zu sortieren und die Frau von gegenüber gibt mir ein Eis, der von der Bäckerei schenkt mir Gebäck. Es ist sehr schön, was hier entsteht“, sagt Riffo, dankbar.
Den Betreiber*innen geht es auch darum, die Nachbarschaftsorganisierung mit Institutionen der Bürger*innenbildung und politischer Debatte in Verbindung zu bringen. In der Gemeinschaftsbibliothek Ramiro gab es während des ersten Verfassungsprozesses drei Bürger*innentreffen, zu denen auch Verfassungsdelegierte wie Alondra Carrillo kamen. Diego hat außerdem organisiert, dass der Bibliothek Exemplare des Vorschlags für den neuen Verfassungstext geliefert wurden.
Auch das Netzwerk der Gemeinschaftsbibliotheken von Gran Valparaíso ist ein Beispiel für die Nachbarschaftsorganisierung, die diese Kulturinitiativen auszeichnet. Das Netzwerk ist 2012 entstanden und erstreckt sich von den Hügeln Valparaísos bis Los Andes.
Eine der Bibliotheken des Netzwerks trägt den Namen von Irma Cid Parra, die als Französischlehrerin in der Mädchenschule von Viña del Mar arbeitete und im Jahr 1973 gefeuert wurde, weil sie der Kommunistischen Partei angehörte. Die Bibliothek wird aktuell von Alejandra Jiménez Cid geleitet, der Tochter von Irma. Jiménez erklärt, bei der Gründung sei es darum gegangen, einen Ort der Erinnerung und der Wiederbegegnung von Familien zu schaffen.
Ghislaine Barría, Bibliothekarin und Ex-Präsidentin des Netzwerks, führt die Zunahme an Bibliotheken auf das große Interesse zurück, neue Orte zum Lesen zu finden. Diese seien manchmal auch weniger konventionell, sondern entstünden beispielsweise durch Besetzungen.
Barría erklärt, dass diese Orte Teil der Geschichte der Hafenregion seien. Sie richteten sich an strategischen Orten ein, um gegen soziale Ungleichheiten wie etwa in der Bildung zu kämpfen. Auch wenn es den Orten primär darum gehe, ein Bewusstsein zu schaffen und neue Generationen zu unterstützen, kämpfen sie auch gegen den Rückgang der Alphabetisierungsrate unter älteren Generationen an, indem Lesekreise und Familien- oder Nachbarschaftstreffen organisiert werden. Die Bibliothekarin erinnert auch an die Bedeutung der Gemeinschaftsbibliotheken: „Wir dürfen nicht vergessen, dass solche Räume aus dem Widerstand heraus entstehen.“
Kulturpolitik von der Basis aus
In Chile gibt es aktuell 681 Bibliotheken, die dem Netzwerk der staatlichen Bibliotheken (SNBP) des Ministeriums für Kultur, Kunst und Kulturerbe angehören. Im Jahr 2022 wurden dort landesweit 1.448.148 Bücher ausgeliehen und 415.223 Bücher digital bereitgestellt. Hierbei ist ein Zuwachs von 61 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Im April 2023 wurde zudem eine nationale Politik des Lesens, des Buches und der Bibliotheken vorgestellt. Dass der Staat in den letzten Jahren versucht, mit seiner Kulturpolitik das Lesen zu fördern, Leseverständnis zu vermitteln und seine Bibliotheken zu professionalisieren, kann also nicht geleugnet werden. Dennoch wenden sich die Gemeinschaftsbibliotheken gegen solche Statistiken und versuchen, ein anderes Problem zu lösen: den schwierigen Zugang in ihren Regionen, sei es der Stadtrand von Santiago, die Hügelkette von Valparaíso oder die verborgenen Winkel der Insel Chiloé, die die Bibliolancha Itinerante besucht.
Laut Andrés Fernández, Soziologe an der Universidad de Chile, habe es hier Fortschritte gegeben: „Diese Politik stellt den Menschen und den kulturellen Ausdruck in den Fokus und entwickelt staatliche Strukturen, um den Menschen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Was der Buchpolitik bisher gefehlt hat, war zum Beispiel ein tatsächliches politisches Interesse daran, das, was auf dem Papier steht, auch in die Praxis umzusetzen“, so der Autor.
Dennoch: In einer Studie von Ipsos und der Stiftung La Fuente über Lesegewohnheiten und -wahrnehmungen in Chile geben 82 Prozent der Chilen*innen an, dass sie gern mehr lesen würden, als sie es aktuell tun. Aber warum? In der gleichen Studie bestätigen 53 Prozent der Befragten, der Zeitmangel sei der Hauptgrund, der sie vom Lesen abhalte. Dies ist insbesondere in den sozioökonomisch schwächeren Kommunen zu beobachten.
Deshalb sind die Gemeinschaftsbibliotheken für ihre Gemeinden so wichtig. „Diese Orte erfüllen die grundlegende Funktion, Identitäten zu stärken. Als kulturelle Treffpunkte versuchen sie, Orte anzuerkennen, die historisch gesehen in den Vierteln eine sehr wichtige Rolle spielten. Diese wurden aber nicht staatlich finanziert, weil sie das Spiel nicht mitspielen wollten“, erklärt Tomás Peters, Soziologe an der Universidad de Chile.
Auch der Soziologe Andrés Fernández erklärt, dass Bildung auf unterschiedliche Weise prekarisiert worden sei. Lehrbücher würden überarbeitet, ohne den Lernprozess der Menschen zu beachten, es würden keine Anreize geschaffen, Bücher zu lesen. Fernández hebt das SNBP hervor, kritisiert allerdings die Art und Weise, in der Geldvergabe über Wettbewerbe, nicht nachhaltig und langfristig konzipiert sei. „Der springende Punkt liegt beim Fokus auf das Bildungssystem: Wie bringen wir das Lesen bei und schaffen Lesegewohnheiten?”
Die Bibliolancha, die seit 29 Jahren über das Meer vor Chiloé schippert, ist wegen ihrer Langlebigkeit zu einer Ikone der Leseförderung geworden. Die kulturelle Demokratisierung, an den entlegensten Orten, ist mit der Zeit vorangeschritten. Heute bleibt Teolinda Higueras mit der Bibliolancha jeweils eine Woche an der Küste der Inseln, damit Kinder, Erwachsene und Nachbar*innen nicht nur an den Büchern, sondern auch an Workshops und anderen Aktivitäten Spaß haben können.
Mit den Erfahrungen und Meinungen der verschiedenen Organisationen und Expert*innen lässt sich die These des Soziologen Peters bestätigen: Diese Kulturzentren sind Orte des Zusammentreffens und strategisch wichtig für die kulturelle Demokratisierung des Landes.