Brasilien | Comic | Nummer 565/566 - Juli/August 2021

KUNSTSCHAFFENDE ALS ERKLÄRTE FEINDE

Zensur und Prozesse gegen kritische Karikaturen und Comics

Rund 60 Fälle registrierte die brasilianische Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst seit 2017. Das Justizministerium leitete gegen Zeichner*innen, Verlage und Medien Ermittlungsverfahren ein, u.a. wegen „Verleumdung des Präsidenten“, was zu mehrjährigen Haftstrafen führen kann. Werke und Publikationen wurden aus Ausstellungen oder von Messen entfernt. Immerhin werden die Betroffenen häufig von Solidaritätskampagnen unterstützt, auch die Justiz urteilt im Nachhinein oft zu ihren Gunsten. Ein Ende der Versuche der neuen Rechten, in die Kunstfreiheit einzugreifen, ist aber nicht in Sicht.

Von Lea Hübner

Nicht mehr für den Unterricht Bücher über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit (Foto: Bahoe Books)

Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira. Diese zeigte Bolsonaro mit Farbtopf und Pinsel in der Hand, mit denen er das Rote Kreuz – als Symbol für medizinische Hilfe – zum Hakenkreuz verändert hatte. Nach der Veröffentlichung leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen Zeichner und Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Medienschaffende und Intellektuelle reagierten empört: Unter dem Hashtag #somostodosaroeira (#wirsindallearoeira) wurden Hunderte von Zeichner*innen aktiv.

Unter ihnen war auch Carol Ito, die in ihrem Beitrag den Hashtag-Slogan um die weibliche Endung von „alle“ ergänzte: „Somos todos – e todas! – Aroeira“. Ito ist Journalistin und Cartoonistin, Autorin des Comicstrips Quarentiras und betreibt den Cartoon-Blog Salsicha em Conserva, dabei engagiert sie sich für die Sichtbarkeit von Frauen und trans Personen. Ihre Kritik geht daher über die Kampagne hinaus. Im Gespräch mit LN sagte sie dazu: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“ Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um dies aufzubrechen, gründete Carol Ito 2017 mit einigen Mitstreiter*innen im Web Políticas, eine Plattform für politische Karikaturen aus der Feder von Frauen. Das Echo war jedoch bescheidener als erwartet.

Die Hetze gegen Künstler*innen schätzt sie so ein: „Frauen werden weniger eine Zielscheibe von Repressionen oder Zensur, sie werden gar nicht erst groß beachtet.“ Sie selbst sei noch nicht öffentlich angegriffen worden, was aber wenig verwunderlich sei, denn wie so viele Frauen publiziere sie vorwiegend selbst „im Web, wo einen die Leserschaft aufsucht und meist derselben Meinung ist.“

Kritische Kunst erfährt Zensur

Dennoch sei heute die Angst der Kolleg*innen, einen Prozess angehängt zu bekommen, real, so Ito. Es gäbe Gewalt, doch nicht die Attacke auf konkrete Künstler*innen sei dabei das Hauptziel, sondern durch moralische Feldzüge gegen diese die eigene Anhängerschaft zu bedienen oder auszuweiten. Beispielsweise sei mit der Kampagne „Escola sem Partido“ (Schule ohne Partei) eine Linie vorgegeben worden, die es verbiete, im Unterricht Diversität zu thematisieren: „Wir erleben eine diskursive Verdrehung, wenn es heißt, die Schwulen respektieren die Familie nicht.“ Dass „Kunstschaffende zum erklärten Feind gemacht“ werden, ist ihrer Ansicht nach symptomatisch für die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag aus São Paulo, thematisiert eine andere ideologische Kampagne der Rechten: „Bolsonaro lässt aus den Lehrbüchern für Geschichte das Wort Diktatur streichen“. Als Verleger kritischer Werke kennt de Campos die Folgen. Kulturelle Angebote seien in Brasilien ohnehin Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark, doch „in Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“ Es sei großartig gewesen, dass die 2014 und 2017 erschienenen Bücher des Autors Marcelo D’Salete über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, Cumbe und Angola Janga, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien. Heute aber könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein hat, nicht mit der Linie Bolsonaros konform zu sein, und zwar lange, bevor diese gesetzlich vorgegeben oder institutionell durchgesetzt sei: „Die Drohgebärden, die aggressiven Ansagen reichen aus und die Menschen trauen sich nichts mehr“.

Zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln würden auch Einzelpersonen, berichtet der Verleger weiter. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekar*innen oder Buchhändler*innen, dass Bücher an ihr Ziel fänden, ebenso im Vertrieb arbeitende Anhänger*innen evangelikaler Kirchen. Im Fall von Veneta war es der beauftragte Logistiker, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“ – auf dem Cover war eine Frau abgebildet, die ihre Bluse öffnet, die Brustwarzen sichtbar.

Verbote steigern die Auflage

Jede solcher restriktiven Aktionen bringe jedoch auch medialen Wirbel und damit die Chance, sich in der Debatte zu positionieren, so de Campos. Sehr viel mediale Beachtung erhielt zum Beispiel der Marvel-Comic Avengers: Der Kreuzzug der Kinder. In einem Panel werden zwei sich küssende Männer gezeigt. 2019 ließ der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, während der Buchmesse Bienal do Livro do Rio eigenmächtig die Bände der Neuauflage von den Messetischen entfernen. Er begründete dies mit moralischen Bedenken, falls das unversiegelte Buch Minderjährigen in die Hände falle. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung, begleitet von einer hitzigen öffentlichen Diskussion, mit dem Ergebnis, dass ein Bürgermeister zu so etwas nicht befugt ist, selbst bei jugendgefährdendem Inhalt. Der positive Nebeneffekt: Die Auflage war im Nu vergriffen. Von etlichen Fällen, gerade von Selbstzensur aus Angst vor Rufmord und Repressalien, dringt jedoch gar nicht erst etwas nach außen.

Die Debatte lässt sich nutzen

Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt Aroreira Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte. Eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig ist, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo. Sie war verknüpft mit einem „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwält*innen bereit erklärt, sich kostenfrei für Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung einzusetzen.

Denn es mangelt nicht an Fällen von Zensur: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) stellte seit 2017 in Brasilien rund 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst fest. Dort werden jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit registriert. So fehlt zum Beispiel der Fall der in der Zeitung Folha de São Paulo erschienenen Cartoons, in denen ein von der Polizei verübtes Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela kritisiert wurde. Im September 2019 wurden vier der Cartoonist*innen, u.a. Alberto Benett, dafür abgemahnt.

Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging es am Ende gut aus – im März dieses Jahres wurde das Verfahren eingestellt. Auch dazu stellt Comicforscher Ramos fest: „Der Inhalt des Zensierten bekommt mit einem Mal eine viel größere Reichweite. Und es gibt inzwischen die kollektive Wahrnehmung, dass wir in Zeiten einer echten Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats leben. Seit Jahrzehnten habe ich in diesem Land nicht mehr so viele Autoren gesehen, die sich äußern wollen, sei es in Zeitungen oder in sozialen Netzwerken.“

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