„Länger inhaftiert als Nelson Mandela“
Interview mit César Oyola, Anwalt des MRTA-Mitgründers Víctor Polay
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César Oyola ist Strafverteidiger und Menschenrechtsanwalt. Seit 20 Jahren ist er leitender Anwalt von Víctor Polay. Gemeinsam mit Familienangehörigen und Anwälten von Polay reichte er im Jahr 2007 eine Klage bei der Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) wegen Verletzung von Polays Menschenrechten ein, die 2022 angenommen wurde.
Wie kam es dazu, dass Sie Victor Polay als Anwalt vertreten?
Ich stamme aus Huancayo, die Region Perus, die nach Ayacucho am meisten vom bewaffneten Konflikt betroffen war. Ich war immer mit der katholischen Kirche verbunden, die aktive Menschenrechtsarbeit machte. Gleichzeitig sah ich, wie sich Nachbarn, Studenten und Berufstätige der MRTA anschlossen. Menschen aus vielen linken und sozialen Organisationen schlossen sich damals der MRTA an, etwa Bauern oder Bergleute. Aber auch Menschen, die nicht einmal links waren, wurden während des Konflikts gesucht, eingesperrt, gefoltert und verschwinden gelassen. Das hat mich sehr besorgt. Deshalb habe ich die Verteidigung einiger Personen übernommen, nicht nur völlig Unschuldiger, sondern auch von Personen, die zu 20 Jahre Haft verurteilt wurden, weil sie „MRTA“ auf eine Wand geschrieben hatten. Personen, die auf die eine oder andere Weise – verkehrt oder nicht – ein gerechteres, besseres Peru erreichen wollten. Ich und andere Anwälte vertraten die Ansicht, dass Víctor Polay und die Mitglieder der MRTA Akte der Rebellion, nicht aber des Terrorismus begangen hatten. So kam es zu einer Annäherung mit seiner Familie.
Rebellion, aber kein Terrorismus – können Sie das näher erläutern? Inwiefern unterscheidet sich die MRTA vom Leuchtenden Pfad, der anderen bekannten Guerrillabewegung in Peru?
Leider hat der Staat beide Guerrillabewegungen stets gleichgesetzt, aber tatsächlich unterscheiden sie sich in ideologischer, politischer und strategischer Hinsicht stark. Die MRTA bezog sich ideologisch vor allem auf den Indigenen Freiheitskämpfer Túpac Amaru II, mehr noch als auf den Marxismus. Laut dem Statut der MRTA durften ihre kriegerischen Handlungen nicht die Zivilbevölkerung treffen und mussten im Einklang mit der Genfer Konvention erfolgen. Die MRTA hat zwar Verbrechen, aber nie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Weder im Bericht der Wahrheitskomission noch in Gerichtsurteilen findet sich ein Hinweis auf gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Handlungen oder Massaker. Es gab auch keine Auseinandersetzungen zwischen ronderos (bäuerliche, Indigene Organisationen, Anm. d. Red.) oder anderen Basisorganisationen und der MRTA, weil die MRTA diese Organisationen respektierte. Die MRTA hat nie systematisch Strommasten, Brücken oder Viehbestände angegriffen, da sie sagte, dass Brücken Infrastruktur seien, die dem Volk dienen und dass das Vieh die Mühen der bäuerlichen Organisationen repräsentiere. Die ronderos haben sich wiederum für die Demobilisierung des Leuchtenden Pfades ausgesprochen, was ein wichtiger Faktor bei seiner Niederlage war. Der Leuchtende Pfad hat Führungspersonen der peruanischen Linken ermordet, was die MRTA niemals getan hat.
Der peruanische Staat hat sich sehr schwer damit getan, anzuerkennen, dass die MRTA im Gegensatz zum Leuchtenden Pfad in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention gehandelt hat: Bei ihren Guerrillaaktionen ist sie uniformiert aufgetreten und mit Regeln, um Opfer in der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Rechtlich wurden der Leuchtende Pfad und die MRTA jedoch vom Staat ohne Unterschied des Terrorismus beschuldigt und entsprechend verfolgt. Victor Polay ist jedoch in keinem einzigen Fall des Mordes angeklagt. Die peruanischen Richter haben bei ihm erstmalig das Prinzip der mittelbaren Täterschaft angewendet – auch wenn er selbst kein Verbrechen begangen hat, bekam er als Anführer der Organisation die höchste Strafe.
Wie sind die Haftbedingungen von Víctor Polay und anderen Inhaftierten der MRTA?
Seit 1993 ist Víctor Polay im Militärgefängnis von Callao inhaftiert, während der ersten zehn Jahre in einer nur zwei mal drei Meter großen Zelle, die er nur für eine halbe Stunde pro Tag verlassen durfte. In dieser Zelle schlief er, verrichtete sein Geschäft und bekam über ein Fenster sein Essen. Eine halbe Stunde pro Monat durfte er in Begleitung eines Offiziers mit einem Familienmitglied sprechen, insgesamt also sechs Stunden Familienkontakt pro Jahr. Der Rest war totale Isolierung. Erst als sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, der nationale Ombudsmann und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) einmischten, verbesserten sich seine Haftbedingungen. Vor zwei Jahren hat die CIDH endlich festgestellt, dass Víctor Polay Opfer unmenschlicher und erniedrigender Behandlung sowie psychologischer Folter war. Wir haben unzählige Haftprüfungsverfahren angestrengt, damit Víctor in ein staatliches Gefängnis verlegt wird oder, falls er im Militärgefängnis bleibt, zumindest von Personal der staatlichen Gefängnisbehörde INPE betreut wird, die im Einklang mit der Verfassung auch die Resozialisierung von Gefangenen im Blick hat. Dem Militär geht es dagegen nur um Bestrafung und Disziplinierung. Víctors Rechte werden nach wie vor beschnitten: in anderen Gefängnissen haben Inhaftierte das Recht zu studieren und jeden Sonntag Freunde zu empfangen. Víctor dagegen darf bis heute nicht studieren und nach wie vor lediglich Familienangehörige ersten Grades sowie seine Anwälte empfangen. Besucher werden in diesem Gefängnis zudem vom Militär erniedrigt, anschließend verfolgt und zum Ziel von terruqueo. Víctors Fall ist beispiellos: 35 Jahre inhaftiert unter diesen Bedingungen, das ist sogar länger als Nelson Mandela. Die peruanische Presse hat über seine Haftbedingungen und rechtliche Situation jedoch nie berichtet.
Sie erwähnen das peruanische Phänomen des terruqueo. Worum handelt es sich und welche Bedeutung hat es heute in der Politik von Peru?
Wir sprechen von terruqueo, wenn rechte Politiker und der Staat ihre politischen Gegner herabsetzen, wenn sie Linke abseits jeglicher Argumente oder Objektivität als Terroristen bezeichnen. Das ist mittlerweile zur Normalität in Peru geworden. Früher traf der terruqueo hauptsächlich die Mitglieder der Guerrilla selbst, deren Anwälte oder Familienmitglieder. Heute wird unter Verweis auf die politische Gewalt der 80er Jahre versucht, Ängste zu wecken. Der terruqueo trifft jeden, der politisch links ist – auch Sozialdemokraten oder einfach nur Menschen, die vor zwei Jahren wegen der über 50 Toten (siehe LN 594) auf die Straße gingen. Es reicht, gegen das politische Establishment zu sein.
Immerhin gibt es eine Veränderung. Im Jahr 2021 gewann Pedro Castillo die Präsidentschaftswahl, obwohl er mit am meisten unter dem terruqueo zu leiden hatte. Die Leute merken, dass der terruqueo nicht mehr glaubwürdig ist. Sogar die Präsidentin Dina Boluarte hat damit aufgehört, weil sie verstand, dass man ihr nicht mehr glaubt.
Seit kurzem wird der Fall des Massakers von Molinos im Jahr 1989 neu aufgerollt. Worin liegt seine Bedeutung?
Weder der peruanische Staat noch die Justiz haben Verantwortliche für dieses Massaker benannt, bei dem etwa 60 MRTA-Kämpfer ermordet worden sind. Das hat mit der Verwicklung des Expräsidenten Alan García in diesen Fall zu tun. Es sind 36 Jahre vergangen, und erst vor zwei Jahren hat ein mutiger Staatsanwalt bekräftigt, dass dieser Fall unter der Genfer Konvention verhandelt werden müsse. Er verlangte auch, dass die Verantwortlichen angezeigt sowie die sterblichen Überreste an die Angehörigen übergeben werden müssen, damit die Wahrheit ans Licht kommt. Die Wahrheit ist, dass etwa 20 Guerrilleros sich ergaben, aber dennoch außergerichtlich ermordet oder verschwinden gelassen wurden.
Zuvor gab es erst einen Fall, in dem ein Gericht anerkannt hat, dass ein MRTA-Kämpfer, der sich ergeben hatte, anschließend hingerichtet wurde. Der Fall Molinos ist allerdings weit bedeutsamer, da eine der Parteien die Genfer Konvention nicht eingehalten hat. Der Staatsanwaltschaft bleibt nichts übrig, als die verantwortlichen, bisher straffreien Generäle bald anzuklagen.
Viele denken, dass Alan García sich 2019 wegen seiner Verwicklung in Korruptionsfälle das Leben genommen hat. Es wurde jedoch auch wegen des Massakers von Molinos gegen ihn ermittelt: Zwei Monate vor seinem Selbstmord wurde er benachrichtigt, dass er in dem Fall als Beschuldigter aussagen müsse.
Warum gibt es in Peru keine Eingliederung ehemaliger Guerrilla-Kämpfer*innen in die Politik, so wie in anderen Ländern Lateinamerikas?
Gustavo Petro, Dilma Rousseff, Pepe Mujica oder Salvador Sánchez waren einst bei der Guerrilla, viele andere mit einer solchen Vergangenheit kamen an die Macht oder tun es vielleicht noch. Leider passiert das in Peru nicht. Seit zwölf Jahren ist zum Beispiel mit Mirko Ruiz jemand Staatsanwalt für Terrorismus, dessen Vater von einem MRTA-Kommando ermordet wurde. Das war ein Verbrechen, das wir bedauern, aber trotzdem sollte Mirko Ruiz sich für befangen erklären. Stattdessen missbraucht er seit Jahren sein Amt, um Menschen politisch zu verfolgen und Rache zu nehmen. Heute gibt es gegen über 1.000 Personen Prozesse wegen angeblicher Verharmlosung des Terrorismus, nur weil sie Sätze wie „Víctor Polay – Freiheit, Ruhm und Ehre“ gesagt haben. Seit dem Ende des bewaffneten Konfliktes hat es kein Politiker vermocht, einen Schlussstrich zu ziehen. In Kolumbien hat der ehemalige Präsident Santos die Befriedung vorangebracht. In Peru hat sich dagegen niemand darum gekümmert – im Gegenteil, um einen politischen Nutzen zu erzielen, behaupten die Politiker hier, dass es immer noch Terrorismus gibt.
Víctor Polay müsste im Januar 2026 aus der Haft entlassen werden. Trotzdem werden noch neue Strafprozesse gegen ihn eröffnet.
Auch dank Mirko Ruiz werden immer wieder haltlose Anschuldigungen gegen Víctor vorgebracht, um seine Haftentlassung zu verhindern. Wir hoffen, dass das zu den Akten gelegt wird. Präsidentin Dina Boluarte hat jedoch erklärt, dass Víctor Polay nicht freigelassen wird, solange sie an der Macht ist – sie spielt sich als Richterin und Staatsanwältin auf und respektiert die Unabhängigkeit der Justiz nicht. Víctors Freilassung fällt außerdem in die Zeit des Wahlkampfes, und alle Politiker werden sagen: „Wie ist es möglich, dass nun der Terrorismus zurückkommt?“



