Land und Freiheit | Nummer 285 - März 1998

Land statt Cardoso

Landlosenbewegung MST kämpft gegen Verschleppung der Agrarreform in Brasilien

Die brasilianische Landlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST)“ entstand Ende der siebziger Jahre während der brasilianischen Militärdiktatur. Als formelle Organisation auf nationaler Ebene wurde das MST 1984 aus der Taufe gehoben. Der formale Charakter sollte die Schlagkraft bei den Auseinandersetzungen erhöhen. Mit Erfolg: in den folgenden Jahren gab es beachtliche Fortschritte bei der Landbesetzung, der Agrarproduktion und der juristischen und politischen Einflußnahme. Mittlerweile ist das MST gar zur mächtigsten Opposition gegen den neoliberalen Kurs des brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso geworden.

Wolfgang Hees

Die Parteinahme gegen den brasilianischen Präsidenten ist verständlich, denn das Gerede von Fernando Henrique Cardoso über eine Agrarreform bleibt ebenso folgenlos wie das der früheren brasilianischen Präsidenten: eine Umsetzung der Pläne findet nicht statt. Stattdessen herrscht weiter die Gewalt auf dem Land. Die Bewegung der landlosen Bauern (MST) setzt dagegen auf gewaltfreie Aktionen wie Landbesetzungen und Demonstrationen, um ihrem Ziel näherzukommen: Agrarreform.

Das Massaker

Am 17. April 1996 führte Oziel Alver Perreira eine friedliche Demonstration von 1.200 landlosen Bauern an, die damit ihren Forderungen nach einem Stück Land Nachdruck verleihen wollten.
Oziel und seine Leute schwangen an jenem 17. April ihre Hacken und Sicheln und sangen Lieder von Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden auf dem Land. Der Ort ihrer Demonstration war die Bundesstraße PA-150 im Bundesstaat Pará, ein kleiner Ort in der Region, in der der trockene Nordosten Brasiliens langsam in den tropischen Regenwald Amazoniens übergeht.
Um 14 Uhr gibt der Coronel der Militärpolizei, Mário Clares Pantoja, den Befehl, daß 85 seiner Männer die Straße räumen sollen. Gleichzeitig werden 68 weitere Polizisten aus dem Nachbarort in Bewegung gesetzt. Sie erreichen die Blockade zuerst und bringen ihre Maschinenpistolen in Anschlag. Um 17 Uhr kommen die Militärpolizisten an. Sogleich prügeln sie „im Schutze“ der Maschinenpistolen einen Keil in die Bauernfamilien. Zuerst schießen sie mit Tränengas, eröffnen dann aber gleich das Feuer aus den Maschinenpistolen. Die Bauern versuchen zu fliehen, viele werden getroffen und einige verhaftet. Unter ihnen ist Oziel, der in Handschellen abgeführt wird.
Die Straße ist frei – nach Abtransport der Leichen und Verletzten. Nach offiziellen Angaben gab es 19 tote und 63 verletzte Bauern, die Polizisten blieben unversehrt. Die Polizei hat ganze Arbeit geleistet, der Verkehr kann wieder fließen und der Großgrundbesitz ist gegen das Landproletariat verteidigt worden.
Tote Kinder, die nach Augenzeugenberichten von den Polizisten in schwarze Folien gewickelt wurden, blieben später verschwunden. Viele der Toten wiesen Folterspuren auf. Ärzte des nahegelegenen Krankenhauses stellten deutliche Hinweise auf Exekutionen an den eingelieferten Opfern fest: Schüsse in die Stirn aus aufgesetzter Pistole. Ein Gerichtsmediziner, der im Auftrag des Parlaments die Toten untersuchte, bestätigte am 19.4 die Aussagen der Mediziner.
Oziel zählt zu den Toten: mit zerschmettertem Schädel und Folterspuren im Gesicht wird er im Gebüsch gefunden. Er war 17 Jahre alt und hatte daran geglaubt, durch seinen Einsatz im gewaltlosen Kampf der Landlosenbewegung friedlich für eine Verbesserung der Situation wirken zu können.
Oziel’s Schicksal und das Massaker von Eldorado sind keine Einzelfälle. 1995 geschah ein ähnliches Massaker in Corumbiaria im Bundesstaat Roraima, bei dem es nach offiziellen Angaben zu elf Toten kam. In Wirklichkeit waren es 63. Groß ist auch die Zahl der Vertreter der Landlosen und Landarbeitergewerkschaften, der Menschenrechtler und progressiven Kirchenvertreter, die bei gezielten Anschlägen der Agrarreformgegner ihr Leben verloren.

Retrospektive

Die Eskalation in Eldorado de Carajás hat eine lange Vorgeschichte. Um sie zu beleuchten, müßten wir mit einem Datum anfangen, das im Jahr 2000 groß gefeiert werden soll: die sogenannte Entdeckung Brasiliens im Jahre 1500. Danach erfolgte die Aufteilung riesiger Landstriche als erbliche Kapitanien (Lehen) an Vertrauensleute der portugiesischen Krone. Aufgeteilt in Latifundien von erheblicher Größe, „seismarias“ genannt, basierte die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht im ländlichen Raum auf dem Modell der portugiesischen Invasoren. Die Besitzkonzentration ist bis heute eine der höchsten auf der Welt: 5 Prozent der Betriebe teilen sich über 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen als Großgrundbesitz, während auf rund 50 Prozent der Betriebe (Minifundien) gerade 2,2 Prozent der Fläche entfallen.
Ende der fünfziger Jahre erstarkten die bäuerlichen Bewegungen, insbesondere die Bauernligen (Ligas camponesas) in Nordostbrasilien. Als der damalige brasilianische Präsident Joâo Goulart am 13.3.64 ein Gesetz unterzeichnete, das als erster Schritt einer Agrarreform gedeutet wurde, putschten innerhalb von zwei Wochen die Militärs. Unterstützt wurden sie von den USA im Rahmen der „Allianz für den Fortschritt“. Auch in der Mittelschicht und bei der Kirche fand der Putsch am Anfang noch Zustimmung. Im November 1964 wurde das bis heute geltende Bodenstatut veröffentlicht. Es sieht unter anderem die Enteignung nicht produktiv eingesetzten Landes für die Agrarreform vor. Doch der „Fortschritt“ der genannten Allianz blieb ein „Papiertiger“: in 21 Jahren Militärdiktatur wurden nur 170 Großgrundbesitzungen enteignet – und diese nicht immer zum Wohle der Landarbeiter. Die Bodenbesitzkonzentration nahm hingegen noch zu. In den harten Jahren der Diktatur hatte nur die Kirche, insbesondere die brasilianische Bischofskonferenz CNBB, die Möglichkeit zur Kritik. Angesichts der zunehmenden Verelendung der Landarbeiter und unter dem Einfluß der Befreiungstheologie hatte die CNBB 1975 die ökumenisch arbeitende Landpastoral CPT gegründet. Sie berät und informiert die Landarbeiter über ihre Rechte, aktiviert Rechtsanwälte und unterstützt Landarbeitergewerkschaften. Einmal im Jahr dokumentiert sie mit ihrer Publikation „Landkonflikte“ das Unrecht auf dem Land. Unter dem Schutz der Kirche und der wenigen fortschrittlichen Landarbeitergewerkschaften bildete sich Ende der siebziger Jahre in Südbrasilien auch die Landlosenbewegung MST. 1984 fand ein erstes nationales Treffen in Cascavel/Paraná statt und 1985 wurde in Curitaba/Paraná ein erster Nationalkongreß abgehalten.

Landbesetzungen

In den Jahren der „Redemokratisierung“ schlug das MST die Strategie der Landbesetzungen ein. Den Auftakt bildete im September 1985 die Besetzung der 9.400 Hektar großen Fazenda Annoni in Rio Grande do Sul durch 1.500 Landlose.
Seither haben die Landlosen die Technik der Landbesetzungen ständig verbessert. Besetzungen erfolgen nur in Ausnahmefällen spontan, denn um erfolgreich zu sein, müssen sie langfristig vorbereitet werden: Die Familien organisieren sich in verschiedenen Kommissionen, in denen die Landbesetzung besprochen und geplant wird. Aufgaben werden verteilt, Vorräte gesammelt und Kontakte geknüpft.
Die Kommission für Transport organisiert das Anmieten von LKWs, um den Transport der Familien und des Materials in der Nacht der Besetzung zu gewährleisten. Die Planungskommission wählt einen unproduktiven Großgrundbesitz aus, dessen Eigentümer möglichst weit weg wohnt. Sie begeht das zu besetzende Gelände und sucht die Siedlungs- und Anbaufläche mit Wasserzugang für den Anfang, sowie den Anfahrtsweg aus. Die Ernährungskommission organisiert die Vorräte für die erste Phase der Besetzung. Materialkommissionen sammeln Plastikplanen für die Behausungen, Werkzeuge und Geräte für den Anbau.
Andere sind für Medikamente, Ausbildung, Sicherheit zuständig. Eine Pressekommission baut Beziehungen zu Zeitungen, Regionalsendern und Fernsehen auf. Der Rechtsbeistand wird organisiert und vorbereitet. Sobald die Vorbereitungen abgeschlossen sind, wird die Nacht der Besetzung von einem gewählten Direktorium in geheimer Sitzung beschlossen. Die übrigen Besetzer werden erst 24 Stunden vor Aufbruch informiert.
Gleich in der ersten Nacht beginnt der Bau der Unterkünfte, andere beginnen im Mondlicht mit der Rodung. Die Gemeinschaftsküche wird installiert. Am nächsten Tag wird die Presse informiert, um die breite Öffentlichkeit zu unterrichten. Die Unterstützungsorganisationen werden aktiviert. Die Enteignung und Vergabe von Besitztiteln wird beantragt.
Danach beginnt die schwierigste Phase. Die Reaktionen des Eigentümers, der verantwortlichen Polizei- und Militärbehörden führen häufig zu Repressalien und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von dem MST wird Gewalt grundsätzlich abgelehnt. Und wenn alles gut geht, können nach drei Monaten die ersten Bohnen, Mais und Reis geerntet werden. Bis die Familien ihre Besitztitel erhalten, verstreichen hingegen mindestens zwei Jahre.
Bis Mitte der neunziger Jahre beteiligten sich über 150.000 Familien an über 600 Landbesetzungen in ganz Brasilien. Durch die Besetzungen wurden über fünf Millionen Hektar Land neu verteilt. Dagegen haben die wechselnden brasilianischen Bundesregierungen zwischen 1927 und 1995 mit nur rund 1.000 Agrarreformsiedlungen, bei denen rund 330.000 Familien begünstigt wurden, auf die äußerst ungleiche Landverteilung reagiert.
Das extreme Ausmaß der ungleichen Landverteilung zeigt sich bis heute. Nach Angaben der nationalen Landlosenbewegung MST ist es 23 Millionen Bauern und Bäuerinnen nicht möglich, von ihrem Grundbesitz zu überleben.
53 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über weniger als 3 Prozent der Gesamtbetriebsfläche, während das eine Prozent der größten Betriebe über 44 Prozent der Landfläche verfügt. Trotz aller Erfolge bleibt also noch viel zu tun. Nach Angaben des staatlichen Statistikinstitutes IBGE warten heute rund 4,8 Millionen landlose Familien auf eine Landzuteilung.

Nachhaltige Verbesserung des Lebenstandards

Die Ex-Landlosen bewirtschaften ihr Land kollektiv, genossenschaftlich oder individuell, je nachdem, wie es ihren Bedürfnissen entspricht.
Mehrere Studien der Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Zusammenarbeit mit der brasilianischen Agrarreformbehörde INCRA belegen deutlich, daß die Ansiedlung landloser Familien die Lebensqualität im ländlichen Raum steigert: das Konfliktpotential sinkt, die Nahrungsmittelproduktion steigt, die Landflucht wird eingedämmt und natürlich verbessert sich die Situation der angesiedelten Familien. Die Studien bestätigen, daß Familien durch ihre Ansiedlung nicht nur ihr Einkommen und ihr Konsumniveau erhöhen, sondern sogar die Möglichkeit haben, Einkommen zu sparen und in Produktionsgüter zu investieren. Durchschnittlich konnten die Familien innerhalb von vier Jahren ihr Vermögen um das Dreifache steigern.
Trotz aller Schwierigkeiten, angefangen bei fehlendem Kreditzugang, über die Bodengüte der enteigneten und überlassenen Ländereien, bis zum Fehlen angepaßter technischer Hilfe und Beratung, produzieren die Angesiedelten Überschüsse über den Eigenbedarf, die sie vermarkten.
Das ist ein klares Indiz dafür, daß ihr Ernährungsniveau bedeutend angestiegen ist. Die angesiedelten Familien haben so zumindest den Hunger überwunden, der unter den Landlosen sonst üblich ist.
Nach den Schätzungen der Studie lag der landwirtschaftliche Ertrag auf den Agrarreformflächen Brasiliens 1990 bei 240.000 Tonnen Mais, 80.000 Tonnen Bohnen, 310.000 Tonnen Maniok, 170.000 Tonnen Reis, 120.000 Tonnen Rindfleisch, 90.000 Tonnen Geflügel- und Schweinefleisch, 120.000 Liter Milch und 80.000 Dutzend Eiern. Laut Studie werden davon 35 Prozent für den Eigenbedarf verwandt und 65 Prozent auf dem Markt verkauft.
Die Verbesserungen bei den Lebensbedingungen der angesiedelten Familien liegen auf der Hand: Schulbesuchsmöglichkeiten, Wohnsituation, Anschluß an die Trinkwasser- und Stromversorgung, u.a.m. Im gesellschaftlichen Umfeld und unter sozioökonomischen Aspekten werden die ehemals Landlosen nun als gleichwertige Staatsbürger anerkannt und gelten nicht mehr wie früher als Parias der Gesellschaft.
Aber die größte Aussagekraft als Indikator der verbesserten Lebensbedingungen ist die Kindersterblichkeitsrate. In allen Landesteilen (außer Amazonien, wo Kolonisationsprojekte mit einer hohen Malariarate konfrontiert sind) liegt der Index der Kindersterblichkeit bei den Agrarreformansiedlungen deutlich unter dem regionalen Durchschnitt. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß allein durch die Existenz von Agrarreformansiedlungen das Überleben von Millionen von Kindern gesichert werden kann, die unter anderen Umständen sterben würden.
Darüber hinaus ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft je Flächeneinheit produktiver und beschäftigungsintensiver und damit für ein Land mit hoher Arbeitslosigkeit und starker Nachfrage nach preiswerten Grundnahrungsmitteln angebrachter als der kapitalintensive Großgrundbesitz mit geringen Beschäftigungseffekten und niedriger Flächenproduktivität. Mit der zunehmenden Förderung und der Schulung im ökologischen Landbau hat das MST zudem Wege zu einer ökologisch nachhaltigen Bewirtschaftung beschritten.
Für den brasilianischen Staat spielen diese Argumente jedoch scheinbar keine Rolle, denn im Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik steht die Geldwertstabilisierung. Dafür benötigt man die Devisenerlöse aus dem Export der Agroindustrie, mit der der Staat darüber hinaus durch politische Koalition verquickt ist. Und dies obwohl auch in Brasilien die Arbeitslosigkeit heute das drängendste Problem ist und die verschiedenen Studien deutlich machen, daß eine sechsjährige Förderung der angesiedelten Familien durch Kredite und Infrastrukturmaßnahmen nur rund 4.000 US-Dollar kosten würde. Damit ist die Agrarreform die preiswerteste Möglichkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen – die günstigsten Arbeitsplätze in der Industrie erfordern Investitionen von mindestens 14.200 US-Dollar.

MST und die Regierung Cardoso

Fernando Henrique Cardoso hatte in seinem Wahlkampf versprochen, innerhalb von vier Jahren 280.000 Familien anzusiedeln. Als er im Oktober 1994 dann Präsident wurde, „korrigierte“ er die Zahl gleich mehrfach nach unten. Diese Korrekturen haben Tradition: Cardosos Vorgänger Itamar Franco hatte für 1993/94 die Ansiedlung von 80.000 Familien auf 3,3 Mio. Hektar versprochen – die eigene Agrarreformbehörde INCRA dokumentierte nur 5.800 Familien auf 240.000 Hektar. Brasilianische Nichtregierungsorganisationen haben bei einem landesweiten Aktionstag im Dezember 1995 errechnet, daß bei Fortsetzung dieses Agrarreformtempos die Landverteilung noch 250 Jahre dauern wird…
Das neue Ministerium für die Agrarreform, das als prompte Antwort auf das Massaker von Carajás von der Regierung vermarktet wurde, hat bisher nur „Kosmetik“ betrieben: Cardoso soll als sozialbesorgter Präsident verkauft werden. Die Vorschläge beschränkten sich bislang darauf, die Agrarreform in die Bundesstaaten und Munizipien zu verlagern und über Landversteigerungen Flächen für die Landlosen aufzukaufen. Die Kritik von MST und CPT an diesen Maßnahmen ist leicht verständlich: Regionalisierung und lokale Lösungen erhöhen den Einfluß der regionalen Politiker extrem. Doch diese sind meist Großgrundbesitzer oder deren Freunde. Die größere Unabhängigkeit des Agrarreformministeriums wurde damit aufgegeben. Außerdem soll mit diesem Schritt auch die finanzielle Verantwortung auf die Kommunalebene delegiert werden. Wo die Kommunalpolitiker dann keine Gelder für die Agarreform freigeben, ist diese auch nicht möglich.
Bei den Landversteigerungen, die im neoliberalen Jargon als besonders „marktwirtschaftlich“ bezeichnet werden, sollen die Millionen, die die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank in das Projekt einfließen lassen wollen, den Großgrundbesitzern für jene Ländereien bezahlt werden, die laut Gesetz enteignet werden könnten. Kurz bevor diese Vorgehensweise vom Agrarreformministerium propagiert worden war, hatte das staatliche Agrarforschungsministerium eine Studie veröffentlicht, die diese Praxis als absurd erscheinen ließ: Rund ein Viertel des brasilianischen Staatsgebietes käme für die Agrarreform in Frage, wenn die Kriterien Unproduktivität als Enteignungsgrund, ökologisches und landwirtschaftliches Potential für die kleinbäuerliche Nutzung und die Nähe ausbaufähiger Infrastrukturen herangezogen würden. Unter diesen Voraussetzungen wäre eine direkte Enteignung wesentlich sinnvoller, da dann die internationalen Hilfsgelder weit besser für die Notwendigkeiten neu angesiedelter Familien in Form von Zuschüssen und Krediten verwendet werden könnten.
Bislang versucht die Regierung die Agrarfrage als eine rechtliche Frage zu behandeln und nicht als soziale Frage der Land- und Einkommensverteilung, die entsprechende Umverteilungen erfordert. Da sie zudem nur versucht, die Landverteilung billiger zu gestalten, statt die dahinterstehenden Konflikte zu lösen, steigt die Gewalt weiter an. Die seriösen Untersuchungen der CPT belegen deutlich, daß die Amtszeit Cardosos zu den gewaltreichsten Jahren auf dem Lande gehört. Dies betrifft die Zahl der Konflikte, die Zahl der betroffenen Familien, die Morde und das Ausmaß der umstrittenen Landflächen. Die eingeleitete Entwaffnungskampagne der Regierung hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren, weil mehrfach nachgewiesen werden konnte, daß Polizei und Militärpolizei bei Gewaltakten der Privatmilizen der Großgrundbesitzerpartei UDR nicht einschritt. Stattdessen unterstützen sie sogar Vertreibungen von Landlosen. Der Präsident befürwortete bei seiner „Kampagne für die Besitzrückführung besetzter Betriebe“ gar die Vorschläge seines Justizministers Iris Rezende zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen auch privater „Schutztruppen“. Längst hat das MST die Regierung demaskiert. Der offiziellen Propaganda von 80.000 angesiedelten Familien im Jahr 1997 und 15.895 Familien, die sich im Prozeß der Ansiedlung befinden, stellen sie eine nachprüfbare Studie entgegen, die belegt, daß erst 16.457 Familien angesiedelt wurden, während 50.000 in Besetzungen auf ihren Landtitel hoffen. Auch die schönen Behauptungen seitens der Regierung, daß durch eine drastische Steigerung der Grundsteuern auf landwirtschaftlichen Besitz 1,6 Milliarden Reais (1,4 Mrd. US-Dollar) eingenommen würden und damit die Agrarreform finanziert werden könnte, wurden widerlegt. 1997 wurden nur 250 Millionen Reais über diese Steuer eingenommen.

Schmelztiegel der Opposition

Noch anfang 1997 versuchte der Präsident durch Einschüchterungen und Drohungen die Landlosenbewegung unter Druck zu setzen. Sogenannte Rädelsführer wurden als Kriminelle gebrandmarkt und verurteilt. Doch im Falle von José Rainha ging diese Taktik nicht auf. Nationale und internationale Solidarität bis hin zum Europaparlament sorgte dafür, daß das ungerechte Urteil aufgehoben wurde und die Verhandlung wiederaufgenommen wird.
Zum Jahrestag des Massakers in Eldorado de Carajás hatte das MST drei Monate andauernde Märsche von Landlosen aus allen Landesteilen nach Brasilia organisiert. Die Medien verfolgten ausführlich diese Märsche. Als dann am 17. April 1997 die Schlußkundgebung in der Hauptstadt stattfand, waren rund 80.000 Menschen versammelt. Mit der Unterstützung des progressiven Gewerkschaftsverbandes CUT, den fortschrittlichen Teilen der Kirche und Bewegungen der städtischen Arbeiter, der Studenten und linker Politiker der Arbeiterpartei PT wurde das MST zum Schmelztiegel der brasilianischen Opposition gegen die Regierung Cardoso und den Neoliberalismus. Im September konnten beim “Schrei der Ausgeschlossenen die progressiven Kräfte in mehr als tausend Städten Brasiliens Kundgebungen mobilisieren, allein in Aparecida gingen mehr als 150.000 Menschen auf die Straße. Längst hält die Mehrheit der Brasilianer das Vorgehen des MST für richtig, so zeigen es auch repräsentative Umfragen der Folha de Sâo Paulo. Selbst der Vatikan schließt sich an. Beim Papstbesuch im November erhoffte sich das MST eine klare Stellungnahme des Vatikans zur Landfrage. Aus Rücksicht auf den Präsidenten, der im Vorfeld gleich zweimal den Papst konsultierte, wurde das schon damals erstellte Papier erst am 13.1.1998 veröffentlicht. In dem Grundsatzpapier „Für eine bessere Landverteilung – Herausforderung an die Agrarreform“ wird die Legitimität des Kampfes der Landlosen trotz der Illegalität ihrer Besetzungen betont. „Wer gegen die Agrarreform ist, hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren, wenn er Landbesetzungen kritisiert, in Frage stellt oder gegen sie vorgeht. Landbesetzungen dürfte es nur dann nicht geben, wenn die Werte und Regeln eines zivilen Zusammenlebens in der Gesellschaft eingehalten würden“.

Der Autor ist Brasilienreferent bei Caritas International und Vorstandsmitglied der Kooperation Brasilien, KoBra.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren