Argentinien | Nummer 330 - Dezember 2001

Land unter am Río de la Plata

Ein entscheidungsschwacher Präsident, ein unberechenbarer Wirtschaftsminister, ein Volk mit Wut im Bauch und der Pegel steigt

Nach den sintflutartigen Regenfällen der letzten Wochen stehen einige Landesteile Argentiniens unter Wasser. Ein Sinnbild für die ökonomische und politische Situation des Landes, denn am Río de la Plata regnete es auch Rekorde anderer Art. Die Arbeitslosenquote stieg im Oktober auf die Rekordhöhe von offiziell 18,7 Prozent. Die Zahl der Firmenpleiten erreicht seit Monaten Spitzenwerte. Die Außenverschuldung liegt mittlerweile bei offiziell 132 Milliarden US-Dollar. Argentinien befindet sich im vierten Jahr einer tiefen Rezession, die Wirtschaft schrumpft, der private Konsum wird auf das Notwendigste beschränkt, die Staatseinnahmen sinken, die öffentlichen Haushalte können keine Nachfrage stimulieren und die Wirtschaft ankurbeln. Alles dreht sich im Kreis nach unten. Geld von außen gibt es nicht mehr. Der Länderrisikoindex für Kredite an Argentinien lag Ende Oktober bei sagenhaften 2500 Punkten: Weltrekord!

Jürgen Vogt

Wie schwarze Gewitterwolken hängen über dem Land die vier großen Ds: Defizit Zero, Devaluation, Dollarisierung oder Default – das Gesetz über den Null-Defizit-Haushalt, die Abwertung des Peso, die Abschaffung des Peso oder die Zahlungsunfähigkeit des Staates.

Die vier großen Ds

Mit dem Haushaltsgesetz Defizit Zero hatte Wirtschaftsminister Domingo Cavallo versucht, die Zahlungsschwierigkeiten des Landes in den Griff zu bekommen. Der Staat darf nur noch ausgeben was er einnimmt und die Bedienung der Auslandsschuld hat oberste Priorität. Eine Kreditfinanzierung von außen findet nicht mehr statt, Argentinien bekommt ohnehin kein Geld mehr zu bezahlbaren Konditionen, die Verschuldung liegt bei 132 Milliarden US-Dollar. Da die Staatseinnahmen aber schrumpfen – im September lagen sie beispielsweise rund 20 Prozent unter denen des Vorjahres – folgte eine Haushaltsanpassung nach der anderen. Sozialprogramme wurden zusammengestrichen, die Löhne der Staatsangestellten gekürzt oder ihre Auszahlung verschoben. Das Gleiche geschah bei den Renten.
Die festgeschriebene Eins-zu-Eins-Bindung des Peso an den US-Dollar verhindert zwar eine Inflation, zwingt aber die Exportwirtschaft in die Knie. Seit beispielsweise Brasilien seine Währung freigegeben hat, liegt der Außenhandel mit dem großen Nachbarn brach. Argentininische Produkte sind für brasilianische Verhältnisse sündhaft teuer. Dagegen steigen die Importe und treiben die heimischen Hersteller in den Ruin. Selbst Produkte, die das Land im Überschuss produziert, wie beispielsweise Mais, werden billiger importiert. Das Gespenst der Abwertung geistert somit immer wieder durch die Debatten.
Doch die Regierung hält an der Dollar-Bindung fest, und sie weiß warum. Nach einer Studie des Forschungsinstituts Equis würden bei einer Abwertung des Peso um 20 Prozent rund 3,6 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze gedrängt werden. Die Grenze ist mit einem Monatseinkommen von 154 Peso festgelegt. Bereits heute wird der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze auf knapp 40 Prozent veranschlagt. Das sind rund 14,5 Millionen Menschen.
Gegen eine Dollarisierung des Landes wehrt sich der Wirtschaftsminister. Damit würde sich der Staat vollends der US-amerikanischen Zentralbank unterordnen. Zudem würde die Abschaffung des Peso keines der Probleme lösen. Die Zahlungsunfähigkeit kann sich Argentinien auch nicht leisten. Auch wenn das Land de facto pleite ist, als Glied einer Kette der internationalen Kreditverflechtungen, kann der Internationale Wärungsfonds ein Ausbrechen Argentiniens nicht dulden.

Heute dies, morgen das

Aus dem zum Amtsantritt von De la Rúa versprochenen cambio, dem Wechsel, ist nichts geworden. Reihenweisen gingen und kamen die Minister, Vereidigungen sind zum Markenzeichen dieser Regierung geworden. Als der Präsident Domingo Cavallo zum Wirtschaftsminister machte, war auch dem letzten Optimisten klar, dass er das katastrophale Erbe seines Vorgängers Carlos Menem nur weiter verwalten wird. Cavallo führte als Wirtschaftsminister unter Menem die Dollarbindung ein, jetzt kam das Defizit Zero und die Spekulationen darüber, was der Minister noch so vor hat, schießen ins Kraut.
Der Präsident selbst gilt als handlungs- und entscheidungsschwach. Marta, die schon einige Wahlkampagnen für anstehende Politkandidaten entworfen hat, erklärt es so: „Die Menschen, die De la Rúa gewählt haben sind einer Imagekampagne auf den Leim gegangen, die einen starken Präsidenten versprach, der einen Politikwechsel organisiert und der Korruption ein Ende bereitet. Ich beobachte De la Rúa schon lange. Er ist ein Mensch, da gehst du heute hin und sagst: ‘Herr Präsident, das ist mein Vorschlag und er ist gut’ und De la Rúa sagt: ‘Mach das.’ Und morgen kommt ein Anderer und schlägt genau das Gegenteil vor und De la Rúa sagt ebenfalls ‘Mach das.’“ Die Menschen auf der Strasse formulieren es drastischer: „Sein Vorgänger Menem hat uns alles gestohlen, aber er hat wenigsten regiert. De la Rúa macht gar nichts, er klaut nichtmal.“ Die Stimmung am Río de la Plata ist schlecht, die Menschen sind wütend.

Wütende WahlerInnen

Am 14. Oktober fanden Kongresswahlen statt. Sie galten als Stimmungstest für die Politik der Regierung. Der Wahlkampf kannte vor allem zwei Schuldige für die Misere: Der Präsident und sein Wirtschaftsminister. Nur wer gegen die Regierung Front machte, hatte eine Chance. Selbst die eigenen Parteikandidaten aus der Radikalen Bürgerunion UCR argumentierten gegen ihn. Sein ehemaliger Kabinettchef, Rodolfo Terragno, kandidierte in der Hauptstadt für den Senat und warb mit dem Slogan: „Wer im Gesundheitswesen spart, ist selber krank.“ Sein Parteivorsitzender der UCR und Ex-Präsident Raúl Alfonsín kandierte ebenfalls für den Senat in der Provinz Buenos Aires. Seine Schelte fiel moderater aus: „Der Präsident ist ein intelligenter Mann. Aber ich glaube, diese Intelligenz treibt ihn dazu alles permanent zu korrigieren.“
„Voto bronca – Wahl der Wut“ war die am häufigsten verwandte Analyseformel für das Ergebnis dieser Wahlen. Zum ersten Mal wurden die Senatoren direkt und, wie alle zwei Jahre, die Hälfte des Abgeordnetenhauses neu gewählt. (Wahlergebnisse siehe Kasten) Rund 25 Millionen Wahlberechtigte mussten ihre Stimme abgeben, in Argentinien herrscht Wahlpflicht. 6,3 Millionen kümmerte das nicht, sie blieben den Urnen fern, und 3,9 Millionen warfen leere Umschläge in die Urnen oder fütterten sie mit allerlei Papierkram: Bildern von Bin Laden oder Zetteln mit Bemerkungen wie „hijos de puta“. Einer wählte eine Scheibe Wurst, ein anderer ein unbenutztes Kondom. Insgesamt 10,2 Millionen ArgentinierInnen wählten gar nicht oder ungültig. Das waren 41 Prozent der Wahlpflichtigen: Landesrekord beim voto bronca.
Dass der Präsident ein intelligenter Mann ist, zeigte seine Analyse der Wahl: „Die Ergebnisse gelten den zur Wahl stehenden Politikern, nicht der Regierung.“ Wie verheerend der Wahlausgang aber für die Regierung war, zeigt der Blick auf die absoluten Zahlen. In der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires kam die regierende Alianza auf 810.000 Stimmen. Bei den Wahlen vor zwei Jahren erzielte sie hier über drei Millionen. Die gleichen Erosionen ereigneten sich in nahezu allen Stimmbezirken. Landesweit verlor die regierende Alianza mehr als zwei Drittel der Stimmen von 1999. Dass sie dennoch recht glimpflich davon kam, liegt am argentinischen Wahlgesetz. Nach der Auszählung werden nur abgegebene und gültige Stimmen nach Prozentanteilen auf die angetretenen Parteien verteilt und gewertet.
„Die Regierung muss nach diesen Resultaten einen Richtungswechsel in ihrer Politik vornehmen,“ war der einhellige Tenor am Tag danach. Parteichef Alfonsín forderte in jedes Mikrofon, das man ihm hinhielt, die Entlassung Cavallos. Für zusätzlichen Zündstoff sorgte ein Editorial der Financial Times aus London. Die konservative Finanzzeitung empfahl allen internationalen Investoren kein Kapital mehr in Argentinien anzulegen: „Es macht keinen Sinn, einem Land Geld zu geben, das keine Chance mehr hat einen Zugang auf die Weltmärkte zu finden.“
Aber der Präsident hatte schon analysiert. Er hielt an seinem für nach den Wahlen vorgesehenen Fahrplan fest: Zuerst die Einigung mit den Provinzen über den neuen Länderfinanzausgleich, dann die Bekanntgabe der neuen Wirtschaftsmaßnahmen und zuletzt die Umbildung des Kabinetts.

Die Alianza zerbricht

Ein Witz machte die Runde: Schon wieder drei Stunden um und noch kein FREPASO-Minister zurückgetreten. 1999 war die Alianza, ein Mitte-Links-Bündnis aus der Unión Cívica Radical (Radikale Bürgerunion, UCR) und der Frente Para un Pais Solidario (Front für ein Solidarisches Land, FREPASO), angetreten um die Peronisten bei der Präsidentschaft abzulösen. Das gelang bereits im ersten Wahlgang. De la Rúa wurde Präsident, sein Vize wurde der FREPASO-Vorsitzende Carlos Chacho Álvarez, der als eigentliches Zugpferd und Garant für den Wahlsieg galt. Knapp ein Jahr später kehrte Chacho Álvarez, wie einst der SPD-Vorsitzende und Finanzminister Oskar Lafontaine, über Nacht der Politik den Rücken zu. Nach einer kurzen Presseerklärung legte er sämtliche Ämter nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Dem vorausgegangen war allerdings ein Bestechungungsskandal. Einige Senatoren hatten mutmaßliche Schmiergeldzahlungen aus dem Topf des Präsidenten erhalten, um dafür gegen ein Arbeitssicherungsgesetz zu stimmen. Die Alianza erlebte ihren ersten tiefen Riss und De la Rúa verlor mit Chacho Álvarez seinen wichtigsten Mann in der Regierung. Weitere Austritte von FREPASO-Mitgliedern aus der Regierung folgten.
Am Vorabend der Wahlen vom 14. Oktober war mit Sozialminister Juan Pablo Cafiero noch ein FREPASO-Mitglied in der Regierung vertreten. Cafiero hatte öffentlich beklagt, dass man seinen Haushalt um über 80 Prozent zusammengeschrumpft hatte, indem man ihm einfach das zugesagte Geld nicht zukommen ließ. Er forderte ein Dekret von De la Rúa, durch das die Sozialausgaben von der Politik des Defizit Zero ausgenommen werden sollten. Aus der Finanzabteilung des Wirtschaftsministeriums hieß es dazu: „Oberste Regel ist das Defizit Zero. Der Minister möge uns sagen, woher wir das Geld nehmen sollen, dann werden wir es ihm auch geben.“ Eine Woche nach der Wahl trat Cafiero zurück. Damit war auf Regierungsebene die Alianza beendet und eine Woche später trat auch die Mehrzahl der FREPASO-Delegierten im Abgeordnetenhaus aus der Alianza aus.

Der letzte Schritt zuerst

Drei Tage nach Cafieros Rücktritt wurde Daniel Sartor, Mitglied der UCR und bisher zweiter Mann im Ministerium als Minister vereidigt. Er ist bereits die vierte Person innerhalb von zwei Jahren auf diesem Posten. Sartor war schon einmal Sozialminister in der Provinz Río Negro und die dortige Opposition beschuldigt ihn noch heute 90.000 Peso als Sozialhilfe deklariert zu haben, ohne dass jemand sagen kann, wo sie geblieben sind. Aber er ist wahrscheinlich auch der letzte Sozialminister der Regierung De la Rúa. Denn just ein paar Tage später gab der Präsident eine weitere Umbildung des Kabinetts bekannt.
Der Präsident hebelte kurzerhand per Dekret ein Gesetz aus, das die Zahl der Ministerien auf zehn beschränkt und erweiterte sein Kabinett um zwei Ministerien. Der bisherige Sekretär für Tourismus Hernán Lombardi wurde in den Ministerrang erhoben und steht nun dem neuen Ministerium für Tourismus, Kultur und Sport vor. Lombardi hatte schon lange für die Schaffung dieses Ministeriums geackert und gilt als treuer Anhänger De la Rúas. Er ist Teil der so genannten Sushi-Gruppe, eine Gruppe die sich um Antonio de la Rúa, den Sohn des Präsidenten, schaart. Dem Sohn wird nachgesagt, er habe erheblichen Einfluss auf seinen zögerlichen Vater.
Zur Sushi-Gruppe gehört auch Patricia Bullrich. Sie wechselte von der Spitze des Arbeitsministeriums in ein neu geschaffenes Ministerium für Soziale Sicherheit und Agencia Social. Die Bündelung aller sozialen Maßnahmen soll mit diesem Ministerium eingeleitet werden. Bullrich rammte denn auch gleich mächtige verbale Pflöcke ein: „Ich werde die revolutionärste Sozialpoltik mache, die Argentinien seit Perón gesehen hat.“ Das wird sie auch tun müssen, will sie am Ende nicht wieder mit einem Negativrekord aus diesem Amt scheiden. Ihrem Nachfolger José Dumón überlässt sie die Rekordarbeitslosenqoute von 18,7 Prozent. Und auf die Frage, warum erst kurz zuvor ein neuer Sozialminister ernannt wurde, sagte sie diplomatisch: „Wir werden zusammengehen.“

Der zweite Schritt vor dem ersten

Nachdem sich die groß angekündigte Kabinettsumbildung lediglich als Erweiterung entpuppte, wartete die Bevölkerung mit Spannung auf die neuen Wirtschaftsmaßnahmen. Drei Wochen ließ sich die Regierung Zeit. Immer wieder angekündigt und verschoben, trat der Präsident am 2. November vor die Kameras und sprach zur Nation: „…Alle haben wir auf die eine oder andere Weise zur Verschuldung des Landes beigetragen. Wir alle haben sie aufgehäuft und wir alle müssen sie abtragen. … Ich weiß, dass viele mit der Regierung nicht zufrieden sind, dass ihnen meine Art nicht gefällt, mein Stil. Ich weiß, dass viele kein Vertrauen gegenüber den Politikern haben oder in die Art und Weise wie sie ihr Amt führen. Dies ist die Gelegenheit aller führenden Politiker die Botschaft der Wahlurnen zu begreifen. … Auf dem Spiel steht die Republik, nicht mein Schicksal…“
Neben der nationalen Rhetorik gab er auch einige Maßnahmen bekannt. Um die Kaufkraft zu erhöhen sollen die Rentenbeitrage der Beschäftigten zunächst für ein Jahr von 11 auf 5 Prozent gesenkt werden. Für den Konsumentenkauf mit Kreditkarte soll die Mehrwertsteuer von 21 auf 16 Prozent gesenkt werden. Damit wird erreicht, dass die Umsatzsteuer überhaupt in den Staatssäckel fließt. Ohne offizielle Quittung oder Kassenbons einzukaufen, ist in Argentinien eher die Regel als die Ausnahme. Im sozialen Bereich wird es ein Kindergeld von 30 Peso geben, wer älter als 75 Jahre und dennoch nicht in Rente gehen kann, soll monatlich 100 Peso erhalten. Dreh- und Angelpunkt ist jedoch die Senkung der Zinsen für den Schuldendienst auf 7 Prozent, die mitunter bei einer Rate zwischen 15 bis 25 Prozent pro Jahr liegen. Der Staatshaushalt soll im Jahr 2002 um 4 Milliarden Peso durch eine umfassende Neuregelung des Schuldendienstes entlastet werden. Ob das gelingt, ist die große Frage.
Der Wirtschaftsminister hat offiziell eingestanden, dass ohne eine große Umschuldungsaktion Argentinien nicht mehr auf die Beine kommt. Er möchte den Zinssatz auf sieben Prozent reduzieren, die Differenz kapitalisieren, also auf die Kreditsumme draufpacken und die Laufzeit der Kredite verlängern. Das soll auf freiwilliger Basis erfolgen. Den Anreiz, den Cavallo dafür bietet, ist die Garantie, dass diese umgeschuldeten Papiere bevorzugt bedient werden. Die Gläubiger warten erstmal ab, zumal das Gesetz des Null-Defizit-Haushalts die Bedienung der Staatsschuld als oberste Priorität bereits festgeschrieben hat. Cavallo spekuliert dagegen mit dem exorbitant hohen Länderkreditrisikoindex von weit über 2000 Punkten und der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Staates und darauf, dass die Gläubiger sich deshalb lieber auf niedrigere Zinsen als auf gar keine einlassen werden.
Drei Tage nach der Präsidentenrede legte Cavallo nach. Er sprach sich öffentlich für ein Schuldenmoratorium aus. Drei Jahre lang sollen nur die Zinsen bedient werden und die Kreditrückzahlung ausgesetzt werden.

Noch fehlt der erste Schritt

Ohne einen Konsens mit den Provinzen ist ohnehin alles Makulatur. Nur wenn klar ist, wer was wie bekommt, werden sich auch die Gläubiger bewegen. Aber Verhandlungen mit den 24 Provinzen über den Länderfinanzausgleich ziehen sich hin. Den meisten Provinzen steht das Wasser ebenfall bis zum Hals, einige sind am abtauchen. In ihrer Not bezahlen sie ihre Angestellten mit Provinzgutscheinen. In der noch relativ reichen Provinz Buenos Aires beispielsweise ist der Patacon als zweites Zahlungsmittel im Umlauf. Mangels Pesos wird der Monatslohn in Patacones ausgezahlt, die Provinzregierung garantiert die Einlösung zu einem späteren Zeitpunkt, oder akzeptiert damit Steuerzahlungen. Die großen Supermarktketten akzeptieren ebenso den Einkauf mit Patacones wie die kleinen Kioske und Straßenhändler. „Se aceptan Patacones – Wir nehmen Patacones“ steht vielerorts zu lesen. Und dadurch funktioniert das Ganze. Domingo Cavallo sind sie ein Dorn im Auge, untergraben sie doch die monetäre Souveränität des Staates und zwingen die Länder nicht zum eisernen Sparen.
Ex-Wirtschaftsminister Jose Luis Machinea hatte den Provinzen eine monatliche Überweisung aus den Staatseinanhmen in Höhe von mindestens 1,36 Milliarden Peso zugesichert. In 14 Provinzen wandert dieses Geld zu über 50 Prozent direkt in den provinziellen Schuldendienst. Río Negro, Jujuy, Formosa und Tucumán liegen knapp unter der Hundertprozentmarke. Domingo Cavallo möchte diese garantierte Summe abschaffen. Ohnehin hat der Staat im laufenden Jahr 600 Millionen zuwenig überwiesen und Cavallo möchte noch einmal 900 Millionen einsparen. Für 2002 plant er eine Kürzung von 13 Prozent. Zum Ausgleich bietet er Staatsgutscheine an, den so genannten Lecop (Letras de cancelación de obligaciones provinciales) Eine erste Zuteilung soll 1,3 Milliarden umfassen. Nach Cavallos Kalkül sollen sie nach und nach die unterschiedlichen Provinzgutscheine ersetzen. „Der Staat möchte sein Defizit auf die Provinzen verlagern und es ist anzunehmen, dass die Kürzungen ein Teil der Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds sind“, so ein Provinzgouverneur. Die Provinzen stellen sich nicht prinzipiell gegen den Lecop. Sie befürchten aber, dass sie am Ende mit immer mehr Lecop abgespeist werden, während der Staat die Pesos behält.
Verhandelt wird mit harten Bandagen. Nach zwei Wochen schien eine Einigung möglich. Dann machte Cavallo in einer fulminaten Pressekonferenz alles zunichte. Verschwendungssucht war noch einer der harmlosesten Vorwürfe.
Und weil es sich gerade anbot, attackierte er gleich noch das Nachbarland Brasilien, das sich ebenfalls den Luxus der Geldverschwendung leiste. Diplomatische Verstimmungen waren die Folge, der Präsident sprach seinem Wirtschaftsminister öffentlich die außenpolitische Kompetenz ab und entschuldigte sich beim Nachbarn. Seither dümpeln die Verhandlungen vor sich hin. Jede Seite wartet bis die andere Seite eine Bewegung macht.

Bis 2003?

Derzeit wird offen spekuliert, ob der Präsident bis Ende 2003 durchhält. Argentinische Präsidenten regieren selten bis zum Ende ihrer Amtszeit. Menem ist eher die Ausnahme von dieser Regel. De la Rúa hat sich fest an Cavallo gebunden und ihm ist zuzutrauen, dass er einfach weiterverwaltet. Ein oppositioneller Gegenspieler ist derzeit noch nicht in Sicht. Öffentliche Schelte ja, aber den Job übernehmen? Nein danke.

KASTEN 1

Zahlen der Wut

Rund 25 Millionen Wahlpflichtige waren aufgerufen, ihre Stimmen für die Sitze im Senat und die Hälfte der Abgeordneten abzugeben. Die Senatoren wurden zum ersten Mal direkt gewählt, bei den Abgeordneten war es die alle zwei Jahre stattfindende Neuwahl der Hälfte des Abgeordnetenhauses. Von diesen 25 Millionen gingen 6,3 erst gar nicht zu den Wahllokalen, 3,9 Millionen warfen leere Umschläge oder ungültige Stimmen in die Urnen. Das sind 10,2 Millionen oder 41 Prozent der Wahlpflichtigen. Damit ist diese Gruppe der vermeintliche große Sieger der Wahl.

Senat

Auf Platz zwei sind die Peronisten mit rund 37 Prozent gelandet. Eduardo Duhalde, der noch 1999 gegen De la Rúa bei den Präsidentschaftswahlen kläglich gescheitert war, feierte seinen errungenen Senatsposten in der Provinz Buenos Aires wie einen großen Sieg. Dabei hatte auch er absolut 700.000 Stimmen weniger bekommen, im Vergleich zu den Ergebnissen von 1999. Insgesamt verteilten sich diesmal 4,7 Millionen Stimmen weniger auf die Parteien als 1999, als das Nichtwahlergebnis deutlich geringer ausfiel.
Auf Platz drei landete die bei der Wahl noch bestehende Alianza aus UCR und FREPASO. Mit rund 23 Prozent verlor sie jedoch erdrutschartig. 1999 lag das Vergleichsergebnis bei gut 40 Prozent.
Mit unverändert 39 Senatorenposten stellen die Peronisten auch weiterhin die stärkste Gruppe im Senat. Die Alianza gewann kurioserweise 3 hinzu und kommt auf 25 Sitze (UCR 24 / FREPASO 1). Der Grund für diesen Zugewinn liegt im Wahlgesetz. In jedem Stimmbezirk wurden drei Senatoren gewählt. Der Sieger erhält zwei Sitze, der Zweite einen.
Von dieser Regelung profitierte auch die erstmals angetretene Alternativa para una República de Iguales (ARI), die sich um die charismatische Elisa Carrió gebildet hat. In der Hauptstadt landete ihr Senatskandidat Alfredo Bravo auf Platz zwei. Carrió ist 1999 als Abgeordnete für die UCR gewählt worden, zog sich dann aber enttäuscht über die offzielle Politik, und speziell über die straflos bleibende Korruption der Menem-Ära, aus dem UCR-Block zurück und bildete mit ebenfalls frustrierten FREPASO-Mitgliedern die ARI. Bei den Abgeordnetenwahlen konnte sie ihre 17 Mandate halten. Damit ist die ARI parlamentarisch zur drittstärksten Kraft des Landes geworden. Dennoch wirkt die Partei mit Ausnahme ihrer stimmgewaltigen Führungsperson wie eine Ersatzbank mit der zweiten Garnitur. Es ist fast ausschließlich Carrió, die spricht. So auch auf der Abschlussveranstaltung vor der Wahl, auf der gut 30 Kandidaten auf dem Podium saßen. Die einzige Rede des Abend hielt, die nicht kandidierende, weil bereits Abgeordnete, Elisa Carrió.

Abgeordnetenhaus

Im Abgeordnetenhaus haben die Peronisten die Alianza als stärkste Kraft abgelöst. Mit einem Gewinn von 17 Mandaten halten sie jetzt insgesamt 116. Die Alianza verlor 14 Mandate und kommt auf 88 (UCR 71 / FREPASO 17).
Arg gebeutelt wurde Cavallos Acción por la República. Mit knapp 2 Prozent verschwand die Partei in der Versenkung und hätte sie nicht noch neun Mandate von den Wahlen 1999 wäre sie parlamentarisch nicht mehr vertreten.
Deutlich von der Stimmung im Land profitierten die kleinen Links-Parteien. In der Haupstadt kamen die linken Gruppierungen in der Summe auf 25 Prozent. Aber die Zersplitterung ist die Crux der linken Opposition in Argentinien. Ein glänzendes Comeback mit 10 Prozent der Stimmen der Haupstadt feierte Luis Zamora mit seiner trotzkistischen Autodeterminación y Libertad. Zamoras Ruf als ehrliche Haut ist unbestritten. Als er 1995 das Abgeordnetenhaus nach seiner Amtszeit verließ, verzichtete er auf die ihm zustehende finanzielle Zuwendung als Ex-Abgeordneter und lebte vom Buchverkauf auf der Straße. Legendär ist seine Beschimpfung von Ex-Präsident Bush Senior, als dieser Anfang der 90er im Kongress eine Rede hielt. Nachdem er ihn lautstark als Hurensohn bezeichnete und dass es eine Schande sei, dass einer wir er hier reden dürfe, trugen ihn die Ordner aus dem Plenum.
Auch die Izquierda Unida um Patricia Walsh erzielte mit gut 7 Prozent ein beachtliches Ergebnis in der Hauptstadt und zieht wieder ins Abgeordnetenhaus ein. Der Rest splittert sich auf.

KASTEN 2

Front gegen die Armut

Gegen die Politik von oben regt sich seit langem Widerstand
von unten, beispielweise die piquetes, Straßenblockaden. „Die große Mehrheit will von dieser Politik nichts wissen. Unsere Politik bedeutet, dass wir mobilisieren, uns organisieren, Straßen sperren und solidarische Projekte aufbauen.“ So der Piquetero-Führer Emilio Ali aus Mar del Plata, der gegenwärtig wegen Lebensmittelklau im Knast sitzt. Mit Luis D’Elia aus La Matanza zieht allerdings einer der bekanntesten Piquetero-Führer ins Abgeordnetenhaus ein.
Drei Tage nach den Wahlen kam es wieder zu Protesten gegen die Sparmaßnahmen der Regierung. Die Piqueteros legten für einen Tag wichtige Verkehrsverbindungen lahm und vor dem Kongress demonstrierten die Staatsangestellten. Schon vor den Wahlen hatte sich eine Frente Nacional contra la Pobreza (Bündnis gegen die Armut) gebildet, die zu einer Volksbefragung am 13 bis 15 Dezember aufruft. Im Bündnis vereinigen sich parteiunabhängige Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Arbeitslosenkomittees, Stadtteilgruppen und Einzelpersonen wie bekannte Journalisten. Ziel ist die Sammlung von vier bis fünf Millionen Unterschriften für die Forderung nach monatlich 380 Peso für jeden Familienhaushalt ohne Einkommen und 60 Peso Kindergeld.

(www.consultapop.com.ar, www.consultapop.com.ar oder www.cta.org.ar)

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