Landreform als Imagepflege
Eine neue Debatte um die Landkonzentration nach dem Amtsantritt von Juan Manuel Santos
„Das ist, als würden die USA Osama Bin Laden töten!“ So feierte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos in einer Videoansprache Ende September den Tod des Guerillakämpfers „Mono Jojoy“. Er sei der wichtigste Militärstratege der FARC-Guerilla gewesen; sein Tod sei der Anfang vom Ende der Rebellenarmee. Man mag es morbide finden, wie in Kolumbien der Tod eines Menschen offiziell gefeiert wird; doch Präsident Santos kann auf diese Weise kurz nach seinem Amtsantritt, dem eine Welle von Gefechten zwischen Streitkräften und FARC folgte, einen großen militärischen Erfolg vorweisen. Ein Umschwenken auf eine Strategie des politischen Dialogs mit der Guerilla ist jetzt noch undenkbarer: Die Regierung setzt darauf, die FARC militärisch zu besiegen.
Da kommt es gelegen, dass das US-amerikanische Außenministerium dem Kongress in Washington Anfang September mitteilte, Kolumbien habe große Fortschritte im Bereich der Menschenrechte gemacht. Nun könne ohne Bedenken die aus 2009 noch ausstehende Militärhilfe (ca. 32 Millionen US-Dollar) ausgezahlt werden. Das sei „eine großartige Nachricht“, meinte der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras, so würden die „enormen Anstrengungen“ anerkannt, mit denen die Regierung Santos in so kurzer Zeit zur Verteidigung der Menschenrechte beitrage. Es habe „eine neue Etappe für die Konzeption und Orientierung der Menschenrechte“ begonnen.
Diese „Neuorientierung“ ist eine Image-Politur für das Militär, sein Ruf ist einfach zu schlecht – trotz militärischer Erfolge. Die Streitkräfte sollen in die Sicherung der Menschenrechte einbezogen werden, Uniformierte geben in Schulen auf dem Land Menschenrechtsunterricht. Die Regierung wolle extralegale Hinrichtungen „nicht mehr tolerieren“ – angesichts solcher Äußerungen sollte man nicht vergessen, dass das Vorgehen, ZivilistInnen zu ermorden und als gefallene Guerilleros zu präsentieren, ausgerechnet während Santos‘ Amtszeit als Verteidigungsminister zur gängigen Praxis kolumbianischer Militäreinheiten wurde. In genau der Region, wo „Mono Jojoy“ in einer großen Militäroperation getötet wurde, befindet sich auch La Macarena, ein Massengrab, in dem anscheinend die Armee bis zu 1500 Menschen abgelegt hat, deren Identität ungeklärt ist. Die Streitkräfte sprechen von einem normalen „Friedhof“, während Menschenrechtsorganisationen viele gewaltsam Verschwundene dort vermuten.
Die Politik der Regierung von Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) wird fortgeführt, und das verwundert angesichts von Santos‘ zentraler Rolle in Uribes Kabinett kaum. Dennoch versucht Santos, sich von der Regierungszeit Uribes abzugrenzen: Weniger Polarisierung, sondern Umarmung scheint die Strategie zu sein. Von einer Regierung der Nationalen Einheit und von Versöhnung ist die Rede. Tatsächlich sammelt Santos das gesamte bürgerliche Lager um sich: aus allen wichtigen Sektoren hat er VertreterInnen in sein Kabinett geholt.
Für den Analysten Daniel Libreros liegt die „entscheidende Strategie der Regierung“ in ihren Vorschlägen zur Rückgabe von Land an Vertriebene. Eigentlich ist das Thema Landverteilung traditionell eines der Bauernbewegungen und linksgerichteter politischer Bündnisse. Um die Landfrage drehen sich Gewaltkonflikte in Kolumbien seit Jahrzehnten; Landbesitz ist immer mitentscheidend für sozialen Aufstieg gewesen – und wird es angesichts des auf Bergbau und Agrarexporte konzentrierten Wirtschaftsmodells auch bleiben.
Die Diskussion um die Landverteilung war im Juli denn auch von Abgeordneten des Linksbündnisses Polo Democrático Alternativo (PDA) angestoßen worden. Gustavo Petro (ehemaliger Präsidentschaftskandidat) und Iván Cepeda (Direktor der Bewegung der Opfer von staatlichen Verbrechen MOVICE) brachten die De-Facto-Legalisierung der Besitztitel über etwa vier Millionen Hektar Land zur Sprache, von denen die ursprünglichen BesitzerInnen vertrieben worden waren. Die Gesetzgebung unter der Regierung Uribe hatte dafür gesorgt, dass für bewirtschaftetes (und damit auch für gewaltsam angeeignetes) Land nach wenigen Jahren legale Eigentumstitel erworben werden konnten. Das Ergebnis ist folgendes: Laut einer Studie der Universidad de los Andes belief sich der Gini-Koeffizient, ein Maß für die relative Konzentration einer Verteilung, im Jahr 2009 in den ländlichen Regionen Kolumbiens auf 0,875 (bei einem Gini-Wert von 1 wäre alles Land in einer Hand, bei einem Wert von 0 gäbe es Gleichverteilung). Landbesitz konzentriert sich also inzwischen in noch viel weniger Händen als bisher angenommen.
Überraschend nahm sich nun die Regierung des Themas an. Agrarminister Juan Camilo Restrepo präsentierte Ideen der Regierung zu einer „Integralen Landpolitik für Kolumbien“. Mindestens zwei Millionen Hektar wolle man kaufen und an Vertriebene „zurückgeben“. Das Kolumbianische Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER), das Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen hatte, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten, sei „unbrauchbar und muss völlig umgebaut werden“, so der Agrarminister. Das Thema hat in Bogotá für viel Gesprächsstoff gesorgt: Eine Veränderung des Tonfalls ist das auf Seiten der Regierung sicherlich. Positiv wertet die Opposition vor allem, dass die Beweislast endlich nicht mehr bei den Flüchtlingen selbst liegen soll: In einem Verfahren sollen bald diejenigen, die das Land zum jetzigen Zeitpunkt bewirtschaften, nachweisen müssen, dass sie das Land legitim erworben haben.
Der Stand der Gesetzgebung ist ohnehin verfassungswidrig: In einem Statement betonte das kolumbianische Verfassungsgericht, dass Vertriebene als Opfer einer Straftat anerkannt werden müssten (was bisher nicht explizit geschah) und die Notwendigkeit, die Politik in Bezug auf Landrückgabe und -verteilung an Vertriebene zu erneuern. Allerdings scheint die Strategie vor allem darauf zu setzen, unbewirtschaftete Ländereien an Vertriebene zu verteilen. Wie der Landkauf von der Regierung finanziert werden soll, ist bislang unklar. Zusätzlich sollen bürokratische Hürden, Landtitel zu erhalten, weiter abgebaut werden. Denn laut der Regierung haben 70 Prozent der Bäuerinnen und Bauern in Kolumbien keine offiziellen Eigentumsurkunden über ihr Land und daher keinen Zugang zu Krediten oder Subventionszahlungen.
Meist ist gar nicht genau bekannt, wem das Land nun gehört. Iván Cepeda spricht von der auffälligen „Stille um die Landbesitzer“: „Das Thema ist ein Tabu: Es ist in Kolumbien fast ein Verbrechen, die beim Namen zu nennen, denen die Ländereien gehören.“ Da ist die Frage berechtigt, wie weit die Regierung bei einem echten Schwenk in der Landpolitik vom Kongress unterstützt würde, da viele Abgeordnete der Regierungskoalition selbst in Geschäfte mit landbesitzenden Paramilitärs und dem Drogenhandel verwickelt sind. Eine tatsächliche Rückgabe von Land an die Opfer scheint mit dem ineffizienten Justizapparat kaum möglich. RückkehrerInnen sind in ihren Heimatregionen erneut Gewalt ausgesetzt: Erst am 19. September wurde der Aktivist Hernando Pérez ermordet, der sich mit dem Bauernverband Asovirestibi in der Region Urabá um die Rückgabe von Land bemühte.
Und die Verpflichtung der Regierung, Opfer von Vertreibung zu entschädigen, darf nicht verschleiern, dass strukturelle Bedingungen erst zur Vertreibung geführt haben und von der bisherigen Agrarpolitik noch verschärft wurden. Es macht einen Unterschied, ob als „Wiedergutmachung“ einigen Wenigen Land zurückgegeben wird, oder ob es um eine umfassende Landpolitik und in der Konsequenz um eine systematische Agrarreform geht. Eine solche ist in Kolumbien viele Male gefordert und nie wirklich durchgesetzt worden. Würde darüber ernsthaft nachgedacht, so müssten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der marginalisierten Bevölkerung im Allgemeinen eine Rolle spielen, und das Landwirtschaftsmodell müsste grundsätzlich infrage gestellt werden: Was hat Priorität, der Export im großen Stil oder die Nahrungsmittelversorgung der eigenen Bevölkerung?
Ein Hauptfokus der kolumbianischen Wirtschaftspolitik bleibt die Bergbauindustrie (Öl, Kohle, Gold), die nicht gerade beschäftigungsintensiv, aber mit Landbesitz verbunden ist, und die industrialisierte Plantagenwirtschaft (Ölpalme, Bananen). Landlose Bauern sollen, so eine Idee der Regierung, gezielt an der Nahrungsmittelversorgung für die Städte beteiligt werden – aber keine Landtitel erhalten. Nach dem Vorbild von Ölpalmenplantagen sollen sie in „Kooperativen“ zusammengefasst sein, als „GeschäftspartnerInnen“ für größere UnternehmerInnen, die Technologie und Saatgut zur Verfügung stellen. Bei diesen Vorschlägen geht es keineswegs um eine Stärkung kleiner Landwirtschaftsbetriebe.
Doch gerade für die großen Bergbau- und Landwirtschaftsprojekte wollen internationale InvestorInnen Vertragssicherheit. Kolumbiens PolitikerInnen ist bewusst, dass es international durchaus Probleme geben kann, wenn ihnen enge Verbindungen zur Mafia und die gewaltsame Aneignung von Millionen Hektar nachgesagt werden. Freihandelsverträge, wie den kürzlich mit der EU vereinbarten, will die Regierung Santos nicht aufs Spiel setzen. Hier begründet sich wohl auch das Interesse an einer veränderten Politik gegenüber Vertriebenen. Dass dennoch weiter eine militärische Lösung des innerkolumbianischen Konflikts verfolgt wird, steht dazu nicht im Widerspruch, dienen doch die Guerilla und der Bürgerkrieg immer wieder als Rechtfertigung für die Kriminalisierung von politischem Protest.
Die FARC bleibt daher auch unter Juan Manuel Santos das größte Problem der demokratischen Linken in Kolumbien: Zuletzt wurde Ende September die oppositionelle Senatorin Piedad Córdoba, die maßgeblich daran beteiligt war, dass die Freilassung mehrerer von der FARC Entführter zustande kommen konnte, bezichtigt, Verbindungen zur Guerilla zu haben. In einem Urteil wurde ihr für 18 Jahre die Berechtigung, öffentliche Ämter auszuüben, entzogen. Einigkeit besteht in der Regierung der Nationalen Einheit von Juan Manuel Santos offensichtlich vor allem darüber, dass politische GegnerInnen, die sich nicht kooptieren lassen, nicht mehr zu Wort kommen sollen.