Chile | Colonia Dignidad | Nummer 571 - Januar 2022 | Straflosigkeit

LAUFEN GELASSEN

Italiens Behörden setzen Ex-Führungsmitglied der Colonia Dignidad trotz eines chilenischen Auslieferungsantrags auf freien Fuß

Der Deutsche Reinhard Döring, ehemaliger Angehöriger der Colonia Dignidad, soll in Chile wegen Entführung und Verschwindenlassens von politischen Gefangenen vor Gericht gestellt werden. Chiles Oberster Gerichtshof beantragte seine Auslieferung aus Italien, wo der 75-Jährige aufgrund eines Interpol-Festnahmeersuches im September verhaftet worden war. Doch nun ließ ein Berufungsgericht in Florenz ihn vorzeitig frei. Döring ist inzwischen wieder in Deutschland, wo er seit 2004 lebt und ihm keine Strafverfolgung mehr droht. Angehörige eines Verschwundenen fordern Aufklärung der Verantwortung chilenischer und italienischer Behörden.

Von Ute Löhning

„Hier sind sie – Schluss mit dem Schweigepakt“ Angehörige von Verschwundenen fordern Aufklärung (Foto: Jorge Soto)

Bis 2004 lebte Reinhard Döring in der Colonia Dignidad. Dann verließ er die deutsche Sektensiedlung in Chile, in der Freiheitsberaubung, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit zum Alltag gehörten, und die eng mit der Diktatur Augusto Pinochets kooperierte. Seit 2004 lebt der heute 75-Jährige weitgehend unbehelligt im nordrhein-westfälischen Gronau.

Seit 2005 ermittelt die chilenische Justiz wegen der Beteiligung an der Entführung und dem Verschwindenlassen der 1976 verschleppten politischen Gefangenen Juan Maino, Elizabeth Rekas und Antonio Elizondo gegen Döring und erließ einen internationalen Haftbefehl. Er soll als Kontaktperson der Colonia Dignidad zum chilenischen Geheimdienst DINA fungiert haben. Dieser hatte nach dem Putsch von 1973 ein Lager auf dem Gelände der deutschen Sektensiedlung eingerichtet, in dem Hunderte Oppositionelle gefoltert und Dutzende ermordet wurden. Diese wurden in Massengräbern auf dem Gelände der Colonia Dignidad verscharrt, ihre Leichen später wieder ausgegraben und verbrannt. Das belegen Aussagen von Angehörigen der deutschen Siedlung.

Döring selbst hatte bei einer Vernehmung in Deutschland 2009 gestanden, Gefangene bewacht zu haben. Außerdem soll er nach Aussagen, die ein anderer ehemaliger Angehöriger der Colonia Dignidad bei polizeilichen Vernehmungen 2005 in Chile gemacht hatte, als Fahrer auch Gefangene an einen abgelegenen Ort auf dem Siedlungsgelände zur Exekution transportiert haben. In einer früheren Vernehmung hatte Döring bestätigt, Waffen und Motoren – mutmaßlich von Autos von politischen Gefangenen – auf dem Gelände der Colonia Dignidad versteckt zu haben .

Wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit liefert Deutschland Döring nicht nach Chile aus. Ein 2016 eröffnetes eigenständiges Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft Münster 2019 wieder ein. Es läge kein hinreichender Tatverdacht vor, hieß es damals (siehe LN 536). Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) kritisiert, wichtige Zeugen, die das ECCHR benannt habe, seien nicht vernommen worden. Es habe keinen ausreichenden Willen zur Aufklärung gegeben.

Bei einer Urlaubsreise in die Toskana wurde Döring am 22. September 2021 in der Kleinstadt Forte dei Marmi aufgrund eines Interpol-Haftersuchens festgenommen. Seitdem saß er dort in Haft. Einem Auslieferungsabkommen zwischen Chile und Italien entsprechend überstellte der Oberste Gerichtshof Chiles am 12. November fristgerecht einen Auslieferungsantrag für Reinhard Döring, der am 18. November in Italien ankam und am 19. bereits dem italienischen Justizministerium vorlag.

Doch ebenfalls am 18. November befand ein Berufungsgericht in Florenz, Dörings Gesundheitszustand sei „mit der Haft unvereinbar“. Deshalb solle seine Haft durch „weniger schwere Maßnahmen“ ersetzt werden. Kurzum: Döring wurde unter der Auflage, sich täglich einmal bei der Polizei in Lucca in der Toskana zu melden, aus dem Gefängnis entlassen.

Dieser Beschluss wurde bemerkenswerterweise vier Tage vor Ablauf der Frist zur Einreichung eines Auslieferungsantrags gefällt, und zwar unter Verweis darauf, dass die Voraussetzungen für die Haft sowieso am 22. November auslaufen würden. „Nach Informationen aus dem Justizministerium liegen keine Hinweise darauf vor, dass die chilenischen Justizorgane einen Auslieferungsantrag gestellt oder die entsprechenden Dokumente übergeben haben“, heißt es im Beschluss des Berufungsgerichts.

Ein „unentschuldbarer Fehler“

Am 22. November forderte das italienische Justizministerium unter Verweis auf Fluchtgefahr Dörings, diesen sofort wieder festzusetzen und der Generalstaatsanwalt legte Beschwerde gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts in Florenz ein. Nach Informationen aus dem Justizministerium wies das Berufungsgericht diese Beschwerde jedoch zurück. Laut Angaben der italienischen Polizei meldete Döring sich nach seiner Entlassung täglich auf dem Revier in Lucca und reiste am 22. November ab. Inzwischen ist er wieder zu Hause in Gronau.

Die Frist zur Einreichung eines Auslieferungsantrags nicht einzuhalten, sei ein „unentschuldbarer Fehler“, sagt die Rechtsanwältin Mariela Santana. Sie vertritt die Schwestern des in Chile 1976 Verschwundenen Juan Maino, Margarita und Mariana Maino.

Santana kritisiert auch fehlendes Engagement der chilenischen Regierung. Der Außenminister müsse erklären, warum nicht direkt nach Dörings Verhaftung eine anwaltliche Vertretung des chilenischen Staates im italienischen Auslieferungsverfahren benannt wurde. Diese hätte aktiv für die Interessen des chilenischen Staates eintreten können.

„Es gab einen Haftbefehl, aber die Staaten haben nicht kooperiert, jetzt ist Döring entkommen“, sagt Mariana Maino. Sie kritisiert, Italien sei dafür verantwortlich, dass Döring entkommen konnte, Chile müsse nun reagieren. Und in Deutschland fehle es im Kontext der Colonia Dignidad insgesamt an einem Sinn für Gerechtigkeit. Tatsächlich ist Döring kein Einzelfall. Der in Chile rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilte frühere Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp, lebt unbehelligt in Krefeld. Auch gegen ihn hatte die chilenische Justiz im Fall der Entführung von Juan Maino u.a. ermittelt – bis es ihm gelang, sich nach Deutschland abzusetzen (siehe LN 540).


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