Brasilien | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

LEBEN ZWISCHEN KUGELN

EINE REPORTAGE AUS DEM FAVELA-KOMPLEX MARÉ IM NORDEN VON RIO DE JANEIRO

Polizei- und Militäroperationen sind Alltag in dem Favela-Komplex Maré im Norden von Rio de Janeiro. Das offizielle Ziel ist die Bekämpfung von Drogenbanden, doch oft geraten Unbeteiligte ins Kreuzfeuer.

Von Niklas Franzen
foto3
Maré protestiert gemeinsam. Veirrte Kugeln überall (Fotos: Nardinho Lourenco)

„Schau mal hier!“ Matheus** steuert auf einen Standwagen zu, der verlassen an einer Straßenecke steht. Die rote Schrift auf dem einsamen Gefährt verrät, dass damit früher einmal Hot Dogs verkauft wurden. Die verstaubte Glaswand ist durchlöchert. „Die sind von einer Schießerei“, erklärt der Student und Menschenrechtsaktivist mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit. Die Spuren der Gewalt sind in Maré allgegenwärtig. In den Favela-Komplex im Norden von Rio de Janeiro verirrt sich nur selten ein*e Tourist*in. Auf vielen Karten der Stadt ist das Gebiet immer noch ein weißer Fleck.
Der Bus Nummer 326 schiebt sich in den Abendstunden nur langsam durch den dichten Verkehr in Richtung Norden. Er ist voll, die müden Gesichter der Passagier*innen zeugen von einem langen Arbeitstag im Zentrum der Stadt. Bald kommen die Ausläufer des verfallenen Hafengebiets in Sicht. Hier kamen einst afrikanische Sklav*innen an, die zu Hunderttausenden in das Land verschleppt wurden. Nun soll eine glitzernde Business- und Konsumwelt mit dem Namen „Wunderbarer Hafen“ entstehen. Auf der mehrspurigen Autobahn Avenida Brasil angelangt, erreicht der Bus die ersten passarelas, die Fußgängerübergänge. Sie kennzeichnen den Anfang von Maré. Die matt glitzernden Lichter der Favela reichen bis zum Horizont.
Gegründet wurde Maré in den 1940er Jahren. Damals war das Land noch Mangrovensumpfgebiet, die Bewohner*innen errichteten ihre Hütten auf Stelzen. Einen rasanten Bevölkerungszuwachs erlebte die Favela vor 30 Jahren. Damals kamen Hunderttausende armer Migrant*innen aus dem Nordosten in der Hoffnung auf Arbeit nach Rio de Janeiro. Derzeit leben rund 134. 000 Menschen in den 16 Stadtteilen der Favela. Drei der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt verlaufen in unmittelbarer Nähe der Gemeinde.
Matheus kennt seinen Stadtteil gut, er ist hier aufgewachsen. Ein Schleichweg durch eine sehr schmale Gasse führt auf die Hauptstraße des Viertels Parque União. Hier sieht es aus wie überall in den Randgebieten brasilianischer Städte: viele kleine Geschäfte, dazwischen Fitnessstudios, gekachelte Bars mit Spielautomaten und Billardtischen. Und viele evangelikale Kirchen. „Alles klar?“, ruft Matheus einem älteren Mann zu, der vor einem Restaurant sitzt. Dieser antwortet mit dem hochgestreckten Daumen. Motorräder flitzen über den holperigen Asphalt. Vor einem Fußballplatz findet ein Kindergeburtstag statt. Die kleinen Gäste hüpfen ausgelassen auf einem Trampolin. Aus zwei Lautsprechern dröhnt laute Baile-Funk-Musik. Ein junger Mann lässt sich unweit davon einen akkuraten Kurzhaarschnitt auf der Straße verpassen.
„Die Favela hat ihre eigenen Wege“, erzählt Matheus später im schlecht beleuchteten Lehrer*innenzimmer des „Brizolão“. Diese Art von öffentlicher Schule erhielt ihren Spitznamen als Hommage an den linken Gouverneur Leonel Brizola, der in den achtziger und neunziger Jahren derartige Bildungseinrichtungen in den Armenvierteln des Bundesstaats Rio de Janeiro aufgebaut hat. Nun verfallen die meisten baulichen Überreste dieses ehrgeizigen Bildungsprogramms. Viermal pro Woche arbeitet Matheus in dem Gebäude mit den langen, kahlen Gängen und den giftgrünen Wänden. Die langen Haare hat der junge Mann zu einem Zopf nach hinten gebunden. Eine Holzkette baumelt im Ausschnitt seines weißen Hemdes. Er liebe seinen Stadtteil, Probleme gebe es dennoch viele, sagt Matheus. Die Gesundheitsversorgung sei schlecht, ebenso die Abwasserentsorgung. Einige Bewohner*innen leben immer noch in Holzbaracken. Statt der geforderten Urbanisierung bekamen die Menschen medienwirksam einen Fahrradweg vor die Tür gebaut. Und Gewalt bestimmt an vielen Tagen das Leben in der Gemeinde.

Primeiro evento na Maré voltado aos amantes de Skate e Longboard na Nova Holanda uma das Comunidades do Complexo de Favelas da Maré. Rio de Janeiro RJ Brasil

 Die geographische Lage macht Maré besonders – und gefürchtet von staatlicher Seite. Wer vom oder zum internationalen Flughafen will, fährt hier vorbei. Kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2014 besetzte das Militär den Favela-Komplex. Zynischerweise fand die Operation genau am 31. März statt, dem 50. Jahrestag des Putsches, auf den eine 21-jährige Militärdiktatur folgte. Die Besetzung sollte nach offiziellen Angaben dazu dienen, Drogengangs zu vertreiben und Stationen der „Befriedenden Polizeieinheiten“ (UPP) einzurichten. Auf den Straßen fuhren Panzer auf, Soldat*innen patrouillierten in dem Gebiet wie in einem Krieg.
„Sie waren nicht wegen unserer Sicherheit da“, erinnert sich die Journalistin Thaís Cavalcante, „sondern um ihre Macht zu demonstrieren.“ Auch Matheus ist sich sicher: „Es war eine symbolische Aktion. Sie wollten sagen: Die Favela ist der Feind.“ Anwohner*innen berichteten von schweren Menschenrechtsverletzungen von Seiten des Militärs: willkürliche Verhaftungen, widerrechtliche Hausdurchsuchungen, Folter. „In einem Monat wurde ich mehr als 40 Mal von den Soldaten durchsucht. Zweimal wurde ich verprügelt. Ich habe fünf Fälle von Folter durch die Armee miterlebt“, erzählt Matheus. Zahlreiche Menschen starben bei den Gefechten zwischen den Ordnungskräften und den Drogenbanden. Die balas perdidas, die verirrten Kugeln, trafen auch viele Unbeteiligte. Das Militär ist mittlerweile abgezogen, eine UPP-Station wurde nicht eingerichtet. Die Probleme sind geblieben.
Das Motorradtaxi biegt in rasendem Tempo von der Avenida Brasil in eine Seitenstraße ab. „Nimm den Helm jetzt ab“, heißt die Ansage von vorn. Wer sein Gesicht verdeckt, macht sich verdächtig. Im Slalom geht es durch eine enge Gasse. Oberhalb der mehrstöckigen roten Backsteinhäuser verlaufen die Stromleitungen. Am Ende der Gasse stehen drei Jugendliche. Alle drei haben Sturmgewehre umgehängt. Fußballtrikots, Goldkette, Walkie-Talkies am Hosenbund – der hier typische Gangster-Look. Es ist ein Krieg in Surfshorts und Flipflops. Die Bewohner*innen haben sich an die Jungs mit den schweren Waffen gewöhnt. Ein paar Kinder spielen neben den Wachposten Fußball. Vor einer Bar sitzen drei Männer auf roten Plastikstühlen und trinken Bier.
Brasilien hat eine der höchsten Mord­raten der Welt. Im Jahr 2014 wurden fast 60.000 Menschen ermordet. Von den 50 gewalttätigsten Städten der Welt liegen 19 in Brasilien. Auch Ordnungskräfte haben einen großen Anteil an diesen traurigen Spitzenwerten. Alle acht Stunden tötet die brasilianische Polizei einen Menschen. Besonders brutal geht sie in Rio de Janeiro vor. Zwischen 2009 und 2015 wurden alleine in der cidade maravilhosa, der wundervollen Stadt, 2.500 Menschen durch die Polizei getötet. Jedes fünfte Todesopfer geht hier auf die Rechnung der Polizei. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Oft werden Todesfälle durch Polizeigewalt nicht als solche registriert: Tatorte werden manipuliert, Beweise gefälscht, Leichen verschwinden. Polizist*innen, die aussagen wollen, werden von ihren Kolleg*innen bedroht. Die meisten Todesschüsse werden als Selbstverteidigung deklariert. Eine Verurteilung von Polizist*innen ist praktisch ausgeschlossen. Deren Vergehen werden in vielen Fällen aus Angst vor Vergeltung gar nicht erst angezeigt.
Am 28. November 2015 starben im nördlichen Stadtteil Costa Barros fünf junge Männer. Mehr als 100 Kugeln durchsiebten das Auto, mit dem sie unterwegs waren. Die Jugendlichen hatten den ersten Lohn gefeiert, den einer von ihnen erhalten hatte, und den Tag in einem Park verbracht. Die Polizisten sagten später aus, dass sie die Jugendlichen mit bewaffneten Verbrechern verwechselt hätten. Zeug*innenaussagen zufolge haben die Polizisten nicht nur die Mutter eines der Opfer mit gezogener Waffe daran gehindert, ihrem Sohn Hilfe zu leisten, sondern auch versucht, den Tatort zu manipulieren. Die Polizisten wurden später freigesprochen.
Das „Blutbad von Costa Barros“ ist ein emblematischer Fall für die Gewalt in Rio de Janeiro: alle Opfer waren schwarz, arm und männlich. Statistiken zeigen, dass die schwarze Bevölkerung überproportional von Gewalt betroffen ist. Während die Mordrate bei Weißen in den vergangenen Jahren um 24 Prozent sank, stieg sie bei Schwarzen um 40 Prozent. Schwarze Jugendliche haben eine fast dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, einen gewaltsamen Tod zu erleiden, als ihre weißen Altersgenossen. Afrobrasilianische Gruppen sprechen von einem „Genozid an der schwarzen Bevölkerung“. „Ich passe genau ins Profil“, stellt Matheus mit einem kurzen Lachen fest. „Wenn ich 30 werde, dann habe ich schon etwas erreicht.“
foto4Zusammen mit seiner Gruppe „Forum der Jugend Rio de Janeiro“ hat Matheus die App „Nós por nós“ (Wir für uns) entwickelt, die Menschenrechtsverletzungen registrieren soll. Matheus tippt blitzschnell auf dem Display seines Smartphones. „Hier kann man wählen, um welche Art von Vergehen, es sich handelt: Mord, Folter, Rassismus und so weiter.“ Ein Knopf mit einem Kamerasymbol führt zu einer Live-Schaltung, die von der Gruppe aufgezeichnet wird. Für den Fall, dass das Handy geklaut oder zerstört wird, erklärt Matheus. Die Gruppe hat bereits mehrere Drohungen erhalten. Einschüchtern lassen will sie sich aber nicht. Die Gruppe ist Teil einer starken Zivilgesellschaft in Maré und anderen armen Gemeinden.
Die Gewalt in Rio de Janeiro hat in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Die App „Fogo Cruzado“ (Kreuzfeuer) der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verzeichnete für den Monat Juli über 750 Schießereien. Die Mordrate im Juni lag bei 38,2 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Aktivist*innen führen dies auch auf die Vorbereitungen der Olympischen Spiele zurück, die im August in Rio de Janeiro stattfanden. Laut Thaís Cavalcante war es die Strategie der Polizei, einen „Sicherheitsgürtel“ um die reichen Viertel und Sportstätten zu legen. Den Bewohner*innen der armen Stadtteile kam der gigantische Sicherheitsapparat nicht zugute. Im Gegenteil: Die Zahl der Todesfälle durch Polizeigewalt stieg im Mai um 135 Prozent. Die Opfer waren fast ausschließlich Favela-Bewohner*innen. Aktivist*innen sprachen von einer „sozialen Säuberung“ vor den Olympischen Spielen.
Auch in Maré hat die Repression wieder zugenommen, berichtet Miriane Peregrino. Die 35-jährige Doktorandin der Literaturwissenschaft wohnt in einer kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung im zweiten Stock. „Die Aktionen der vergangenen Wochen erinnern mich an die Zeit der WM“, berichtet Miriane. Bereits während der Fußballweltmeisterschaft 2014 hatte sich die Zahl polizeilicher Gewalttaten in der Stadt fast verdoppelt.
Ende Juni führte die Polizei eine Großoperation in Maré durch mit dem Ziel, einen Drogenboss zu verhaften, der sich dort angeblich versteckt hielt. Der stadtbekannte Boss konnte nicht verhaftet werden, allerdings starben mindestens acht Menschen bei den Gefechten zwischen Polizei und Drogenbanden. Mehrere Tage herrschte wieder einmal Ausnahmezustand in Maré. Mehr als 50 Schulen im Norden von Rio de Janeiro mussten geschlossen bleiben. Eine Kinderbibliothek wurde bei den Auseinandersetzungen im Kugelhagel zerstört. Auch während Olympia kam es erneut zu Operationen, bei denen mehrere Menschen starben. Nach den Schüssen auf zwei Polizisten blockierte die Armee die Eingänge der Favela, Soldat*innen durchsuchten Bewohner*innen. Erinnerungen an die 15-monatige Besetzung kamen hoch.
Der Staat setzt auf die Strategie der harten Hand, es wird versucht, die Kriminalität primär durch Militarisierung zu bekämpfen. „Das ist eine Wildwestlogik“, kritisiert Matheus. Unterstützt wird diese Strategie von mächtigen Interessengruppen wie der sogenannten Fraktion der Kugel, einem im brasilianischen Parlament einflussreichen Zusammenschluss aus Vertreter*innen der Waffenindustrie, ehemaligen Militärangehörigen und Polizist*innen. Aber auch in der Gesellschaft wird die Militarisierung unterstützt. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Datafolha im November 2015 stimmte mehr als die Hälfe der Brasilianer*innen der Aussage „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit“ zu.
Viele Polizist*innen sind selbst in kriminelle Geschäfte verstrickt. Doch sind auch die Polizeibeamten „Geiseln eines kaputten Systems“, wie der Polizeioberst a.D.und Anthropologe Robson Rodrigues feststellt. Die Gehälter sind niedrig, der Druck auf Polizist*innen ist groß. Aufgrund des „finanziellen Notstands“, der Mitte Juni im Bundesstaat Rio de Janeiro ausgerufen wurde, mussten Polizist*innen in den vergangenen Monaten sogar komplett auf ihre Löhne verzichten.
Auch die „Befrifoto2edung“ durch die UPP gilt als gescheitert. Im Jahre 2008 wurde damit begonnen, Polizeistationen in ausgewählten Favelas einzurichten. In den ersten Monaten hatte das Programm durchaus Erfolg: Die Zahl der Morde verringerte sich, Drogengangs zogen aus einigen Vierteln ab. Doch schon bald wiederholten die UPP die Muster der regulären Polizei. Es folgten schwere Menschenrechtsverletzungen, wie im Fall des Maurergehilfen Amarildo de Souza, der im Juni 2013 von Polizist*innen in einer UPP-Station gefoltert und ermordet wurde. Derzeit operieren die UPP in 38 Favelas, vor allem im reichen Süden. Für viele Bewohner*innen dieser Viertel stellen sich die UPP immer mehr als militärisches Besetzungsprogramm dar. Die angekündigten Sozialprogramme sind nur sporadisch verwirklicht worden. „Ihre Lösung sind Waffen, nicht eine andere Politik“, stellt auch Miriane verbittert fest. Mangelhafte Infrastruktur, Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Stigmatisierung prägen weiterhin den Alltag in den Favelas – und bieten den Drogengangs gute Rekrutierungsmöglichkeiten.
Die Glaswand, die Maré von der Autobahn zum internationalen Flughafen trennt, wurde in den Wochen vor den Olympischen Spiele großflächig mit bunten Olympia-Motiven beklebt. Der Tourismus-Sekretär Antonio Preto erklärte: „Es geht nicht darum, die Favela zu verstecken, das war niemals geplant. Es dient zur Dekoration und um die Stadt in olympische Stimmung zu bringen.“ Die Bewohner*innen von Maré sahen das anders. Die „Mauer der Schande“ wurde zum Symbol für die Missachtung ihrer Gemeinde bei der Vorbereitung der Spiele. Auch Matheus ist dieser Ansicht: „Die Mauer ist eine Kampfansage des Staates an uns. Sie sprechen uns das Existenzrecht ab. Aber wir sind hier. Diese Mauer ist daher auch ein Symbol für den Kampf der Favela.“

** Name von der Redaktion geändert.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren