Literatur | Nummer 379 - Januar 2006

„Lesen ist ein Extremsport“

Ein Interview mit der mexikanischen Schriftstellerin Cristina Rivera-Garza

Am 19. November erhielt Cristina Rivera-Garza in Potsdam auf Vorschlag von Carlos Fuentes den Anna-Seghers-Preis. Diese Auszeichnung dient der Förderung von hierzulande unbekannten lateinamerikanischen AutorInnen, die sich sozialkritischen Themen widmen.
Cristina Rivera-Garza ist in Mexiko eine renommierte Autorin, die mit Romanen und Erzählungen wie La guerra no importa (1987), Nadie me verá llorar (2000) und Lo anterior (2004) bekannt wurde.

Interview/Übersetzung: Katharina Severin

Wie (be-)schreiben Sie Ihr Schreiben?

Es ist wirklich schwer, eine Aktivität zu beschreiben, deren Wesen darin besteht, unbekannt zu bleiben, bis zu dem Augenblick, in dem sie zur Praxis wird. Bildlich ausgedrückt entspricht Schreiben dem Gefühl, sich in ein leeres Wasserbecken zu stürzen. Schreiben ist der Moment, in dem die Füße vom Trampolin abheben. Aber Schreiben ist auch der Schwindel vor dem Fall und der Augenblick, in dem der Turmspringer ganz deutlich seinen eigenen Kopf zerschmettert auf dem Grund des leeren Bassins sieht. Das Schreiben ist ein Risiko – oder es ist nichts.

In Ihrem Roman Keiner wird mich weinen sehen gibt es eine Prostituierte namens Matilda, die in dem Bordell La Modernidad (Die Modernität) arbeitet. Sind wir nicht alle Huren dieser „Einrichtung“?

Die Moderne ist ein Bordell, das steht außer Frage. Und ich spreche in diesem Buch hauptsächlich von der Modernität an sich. Die Moderne ist ein Ort des Austauschs, wo die Geschlechter und die sexuellen Praktiken mit den Hierarchien des Geldes und der Macht verwoben werden. Das führt gewöhnlich zu schonungslosen, oder zumindest traurigen Geschichten. Aber die Moderne bringt auch Gegenmodelle hervor, die später auf mehr oder weniger sichtbare Weise wieder von ihr einverleibt werden. Die Moderne ist ein Ort, an dem sich die sozialen Unterschiede vertiefen, an dem aber auch auf paradoxe Weise Freiheiten bewahrt werden.

Der Ausgangspunkt von Keiner wird mich weinen sehen war eine soziologische Untersuchung in den Archiven der Irrenanstalt La Castañeda. Was hat Sie an dieser psychiatrischen Institution interessiert? Sind Ihre Tätigkeiten als Geschichtsprofessorin und Schriftstellerin eng miteinander verbunden?

Beide Tätigkeiten gehen von ganz ähnlichen Fragestellungen über die Sprache aus: ihre Kapazität, das Reale zu beeinflussen, es umzustürzen. Die Professorin sieht sich gezwungen, alles in eine Sprache zu übersetzen, die in den Hörsälen verdaulich ist. Sie ist mit jungen Menschen in Kontakt, von denen viele der Fragen aufgeworfen werden, die vor allem die Schriftstellerin interessieren.
Die Untersuchung für meine Doktorarbeit in Geschichte hat sich vor allem von einem erzählerischen Interesse leiten lassen: von einer Neugier auf die Randexistenzen der mexikanischen Moderne. So bin ich auf das Archiv der Allgemeinen Psychiatrischen Klinik La Castañeda gestoßen. Die Verrücktheit, die dort beschrieben wird, ist nicht die desjenigen, der sich dank einer unbenennbaren mentalen Kraft dem System widersetzt. Ich las dort vielmehr eine verschobene Geschichte der mexikanischen Moderne, geschrieben aus der Perspektive des nackten Schmerzes, des Verletzlichsten, des Unterlegenen.

Wie und warum erklären Sie, dass Schreiben und Lesen für Sie Akte des Zweifelns sind?

Sowohl Schreiben als auch Lesen sind Prozesse des Wandels – man wird ein Anderer durch sie. Man verändert sich, wird verstört. Ein gutes Buch ist eines, das uns die Welt auf den Kopf gestellt zurückgibt. Lesen und Schreiben lassen uns zweifeln; deshalb sind es kritische Praktiken.

Wo überschneiden sich für Sie Lektüre und Politik?

Jede Lektüre ist immer nur eine Version aller möglichen Lesarten. Diese Möglichkeit der Variation ist in ihrer tiefsten Bedeutung ein politischer Akt. Ich betone dies ausdrücklich nicht im Hinblick auf die Themen, sondern auf die formale Möglichkeit eines jeden wirklichen Buches: Unsere Wahrnehmung des Realen umzuformen, was ohne jeden Zweifel eine andere Art, es zu erleben und sich anzueignen bedeutet. Lesen ist ein Extremsport.

Viele Ihrer Geschichten spielen sich in der Provinz ab. Wie denken Sie über die Konzentration der Kultur in Mexiko-Stadt?

Die Zentralisierung der Kultur ist eine unbeantwortbare Tatsache in einem Land wie Mexiko, dessen sozialpolitische Geschichte sich auf bedrückende Weise im geografischen Zentrum des Landes konzentrieren musste. Die Folgen sind ohne Zweifel negativ, wenn man an die Mittel und Wachstumsmöglichkeiten der Randgebiete denkt. Aber es kommt auch ein gewisses Desinteresse oder sogar eine offene zentralistische Verachtung zum Vorschein, also eine „List der Peripherie“, wie Hegel es ausdrückte. Diese hat dafür gesorgt, dass eine Atmosphäre der Freiheit und des Protestes entstehen konnte. Das spürt man besonders in den Grenzgebieten, wie zum Beispiel um Tijuana-San Diego, die ja nicht umsonst zu den Vorreitern der kulturellen Aktivität des Landes geworden sind.

Welches Gewicht schreiben Sie der Figur des Lesers zu? Für wen schreiben Sie?

Ich schreibe immer für einen Anderen, auch wenn dieser Andere nichts weiter als eine Variante meiner Selbst ist. Schreiben ist denken mit dem Anderen, davon bin ich fest überzeugt. Interagieren. Aus sich heraustreten. Manchmal lasse ich mich von der Idee verführen, dass Schreiben darin bestehe, die Sprache auszuleeren, um auf der Seite nur jenen Rest zu hinterlassen, der dem Leser dazu dient, sein eigenes Buch zu schreiben. Die Konsequenz dieser Schreibart, die entleert, ist eine Lektüre, die ausfüllt.

Glauben Sie, dass mit einer so „theoretischen“ Literatur ein größeres Publikum erreicht werden kann? Was beobachten Sie an der aktuellen lateinamerikanischen Literaturkreation?

Ich glaube die Mode ist ganz schön anti-intellektuell. Ich würde nie befürchten, dass so etwas in Mode kommt, weil der Markt mit überwältigender Mehrheit Oberflächlichkeiten feiert – und nicht Ideen. Aber Gott sei Dank gibt es solche Bücher, die weder in der Frivolität noch in der höchst langweiligen Feierlichkeit der ernsten Angelegenheit stecken bleiben. Ich denke in Mexiko zum Beispiel an die Bücher von Elmer Mendoza, von Héctor de Mauleón oder an die von Patricia Laurent Kullick.

Wie sehen Ihre nächsten literarischen Projekte aus?

In diesem Monat [Dezember 2005] wird Die Texte des Ichs veröffentlicht – eine Poesiesammlung, an der ich fast heimlich seit Jahren geschrieben habe. Außerdem arbeite ich an einem Roman, einem Thriller ohne Auflösung, also einem Anti-Thriller. Und in meinem Leben als Kämpferin für die „alles verändernde Lektüre“ widme ich mich der Gründung einer Grenzschule für Schriftsteller, die nächsten Sommer eröffnet werden soll.

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