Letztes Mittel Hungerstreik
Chiapankekische AktivistInnen protestieren, weil sie seit Jahren unschuldig in Haft sitzen. Ein Teil kommt frei, doch die Repression in den Gefängnissen nimmt zu
Plötzlich war das Licht aus. Unruhe brach aus in El Amate, dem chiapanekischen Gefängnis, von dem es heißt, dort säßen die besonders gefährlichen VerbrecherInnen. Sofort bildeten die anderen Gefangenen einen Schutzwall um die Gefangenen der „Stimme des Amate“, die seit über zwei Jahren einen plantón, eine Art Dauerprotestcamp, im Innenhof des Gefängnisses aufrecht erhalten. Einige befinden sich seit Februar dieses Jahres im Hungerstreik befinden. Das Gerücht, die Hungerstreikenden könnten in andere Gefängnisse verlegt werden, hatte eine Solidarisierung der Gefangenen bewirkt. Dies geschah in der Nacht des 11. März.
Die Situation beruhigte sich schließlich wieder – trotz der Feindseligkeiten von Seiten der Gefängniswärter. „Hört mit dem Hungerstreik auf!“ forderten sie. Doch die Gefangenen machten weiter. Zacario Hernández Hernández, seit über 5 Jahren Gefangener in El Amate, hatte in jener Nacht fast einen Monat im Hungerstreik hinter sich. Der Tsotsil-Indígena war derjenige, der am 12. Februar mit diesem drastischen Mittel begann, dem sich in den darauf folgenden Tagen und Wochen weitere Gefangene in diesem und zwei weiteren Gefängnissen in Chiapas anschließen sollten.
Hernández und drei weitere Familienangehörige, Katholiken aus der Gemeinde Tres Cruces, die zum Landkreis der Touristenattraktion San Juan Chamula gehört, waren im Januar 2003 während eines Polizeieinsatzes verhaftet worden. Ihnen wurde vorgeworfen, mehrere Personen umgebracht zu haben. Aber die wirklichen Gründe der Verhaftungen hängen wohl mit der vermeintlichen oder tatsächlichen Beeinträchtigung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Interessen der Kaziken, der lokalen Machthaber, zusammen. Diese haben in Chamula seit mehreren Jahrzehnten das Sagen und warfen früher massenhaft unliebsame Personen aus den Dörfern, weil diese durch ihren Glauben oder ihrer politischen Überzeugung das Machtmonopol der Kaziken in Frage stellten. Mittlerweile bedienen sie sich „legaler“ Tricks in Komplizenschaft mit der Polizei, um sich der Leute zu entledigen, die ihnen gefährlich werden könnten.
Eine Gruppe von Gefangenen des Gefängnisses El Amate, in ihrer Mehrheit Tsotsil-Indígenas, haben sich vor über zwei Jahren zur Gefangenenorganisation „Die Stimme des Amate“ zusammengeschlossen. Sie betrachten sich als politische Gefangene, die aufgrund ihrer politischen und sozialen Aktivitäten verhaftet wurden, und nicht weil sie Verbrechen begangen hätten. Die Organisation ist Teil der Anderen Kampagne, die die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) vor zwei Jahren initiiert hat. Die Mitglieder der „Stimme des Amate“ haben sich seit ihrer Gründung mehrmals öffentlich zu ihrer Situation und im Rahmen der Anderen Kampagne geäußert. Sie stellen auch Hängematten her, welche von Soli-Kollektiven in Chiapas und darüber hinaus verkauft werden. Damit versuchen die Gefangenen, ihre und die wirtschaftliche Situation ihrer Familien zu verbessern.
Es ist unklar, wer neben den politischen Gefangenen noch freikam – vielleicht gehören auch Paramilitärs dazu.
Das Gefängnis El Amate heißt im offiziellen Sprachgebrauch Zentrum für Soziale Wiederanpassung (CERESO) Nr. 14 und befindet sich in Cintalapa de Figueroa, im Westen von Chiapas, nahe der Grenze zum Bundesstaat Oaxaca. Es ist die Nachfolgeanstalt von Cerro Hueco, dem Gefängnis, in welchem bis zu seiner Schließung vor gut zwei Jahren noch die Schwerverbrecher des Bundesstaates saßen, aber auch vermeintliche beziehungsweise bekennende ZapatistInnen.
Der Hungerstreik, der im El Amate begann, weitete sich bald auf zwei weitere Haftanstalten aus. Im Gefängnis Los Llanos (CERESO Nr. 5), nahe San Cristóbal de Las Casas, begannen Häftlinge der Gefangenengruppe „Die Stimme von Los Llanos“ am 4. März ebenfalls mit Hungerstreik und Fasten. Im CERESO Nr. 17, in Playas de Catazajá nördlich von Palenque, traten weitere Häftlinge am 10. März in den Hungerstreik. Sie alle forderten von der chiapanekischen Regierung ihre Freilassung, mit der gleichen Begründung wie die Initiatoren des Hungerstreiks.
Die nationale und internationale Solidarität ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem die AnhängerInnen der Anderen Kampagne in San Cristóbal zeigten früh ihre Unterstützung. Hinzu kamen in den letzten Wochen und Tagen internationale Solidaritätsbekundungen, vor allem von Gruppen, die sich bisher mit den Zapatisten solidarisch erklärt hatten. Besorgt äußerten sich Menschenrechtsorganisationen, wie die Internationale Organisation gegen Folter und die Internationale Zivile Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte, über die Situation der Gefangenen im Hungerstreik. Letztere hatte bei ihrem Besuch in Chiapas Anfang Februar auch mit dem Gouverneur von Chiapas, Juan Sabines Guerrero von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), über die Situation der Gefangenen gesprochen und eine Überprüfung der Fälle gefordert, bei denen sie Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte. Die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, ein Zusammenschluss verschiedener Organisationen in Deutschland, die zum Thema Menschenrechte in Mexiko arbeiten, forderte in einer Pressemitteilung den Gouverneur und die mexikanische Regierung auf, sich der Forderungen der Gefangenen im Hungerstreik anzunehmen und die unschuldig einsitzenden Gefangenen für die Zeit ihrer Haft zu entschädigen.
Viele „Geständnisse“ werden von der Polizei vorgefertigt, andere entstehen unter Folter.
Offensichtlich ist das Problem ein strukturelles. Zum einen werden häufig die Rechte der Angeklagten verletzt, zum anderen wird über das Rechtssystem sozialer und politischer Protest kriminalisiert. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) wies in einem Brief an Sabines Guerrero Mitte März darauf hin, dass nicht nur in den Fällen der Hungerstreikenden die Rechte der Angeklagten bei der ersten Anhörung verletzt wurden. „Der Hungerstreik offenbart einerseits die Defizite des Justiz- und Gefängnissystems, zeigt andererseits aber auch die vorhandene Solidarität mit den Gefangenen, die sich innerhalb der Gefängnisse organisiert haben“, so Michael Chamberlin, stellvertretender Direktor des Zentrums. Vor allem den Indígenas wird meist keine Übersetzung in ihre Muttersprache zur Verfügung gestellt. Dies steht ihnen aber laut chiapanekischer und mexikanischer Verfassung sowie auf Grundlage internationaler Abkommen zu. Unschuldige werden aufgrund von anonymen Zeugenaussagen verurteilt, ohne dass eine Gegenüberstellung stattgefunden hätte. Auch die Erfindung von Delikten ist keine Seltenheit. In vielen Fällen, in denen Unschuldige im Gefängnis sitzen, werden die „Geständnisse“ von der Polizei vorgefertigt, andere entstehen unter Folter.
Der aktuelle Gouverneur betonte zwar mehrmals, die Gefangenen im Hungerstreik seien Fälle seines Vorgängers, aber auch in seiner Amtszeit besteht diese Praxis fort: Anfang Februar wurden zwei Zapatisten, Vater und Sohn, von einer Polizeipatroullie gestoppt und verletzt. Auf der Wache beschuldigte man sie, die Anführer einer Bande von Räubern in der Region der Wasserfälle von Agua Azul zu sein. Sie wurden unter Folter zu einem Geständnis gezwungen und ins Gefängnis gebracht. Der Vater, der bei der Verhaftung angeschossen wurde, erhielt keine adäquate medizinische Versorgung, selbst im Gefängnis nicht, in das er nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus verlegt wurde. Seit Geburt an hat er ein Augenleiden, ist fast blind. Die Anschuldigung wird spätestens an diesem Punkt bizarr. Durch die Intervention verschiedener chiapanekischer NGOs und der internationalen zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte (CCIODH) konnten beide Gefangene nach wenigen Tagen das Gefängnis verlassen – ein Glück, das viele andere unschuldige Gefangene bisher nicht haben.
Viele der Gefangenen, die in den Hungerstreik getreten sind, waren vor ihrer Haft in sozialen oder politischen Organisationen aktiv. Die Verhaftung sozialer AktivistInnen ist dementsprechend auch ein Mittel, Proteste gegen die Regierung zu schwächen oder zu unterbinden. Dann wird zusätzlich zur Arbeit der Organisationen noch der Kampf um die Freilassung ihrer compañer@s geführt – sofern die Verhafteten von ihren Organisationen oder Familienangehörigen nicht vergessen werden. Denn das passiert teilweise leider auch.
Als Reaktion auf den Hungerstreik bildete die chiapanekische Regierung Mitte März ein Gremium, das die Revision von 360 Fällen innerhalb von 30 Tagen durchführen sollte. Als einer der ersten kam Hernández in der Nacht des 17. März frei. Die chiapanekische Regierung behauptete, er hätte zunächst mit dem Hungerstreik aufgehört, und die Mehrheit der chiapanekischen Zeitungen verbreitete diese Version unhinterfragt. Auf einer Pressekonferenz am 18. März stellte Hernández klar, dass er erst nach seiner Freilassung wieder Essen zu sich genommen hatte.
Am 31. März verkündete der Gouverneur schließlich die Freilassung von weiteren 137 Gefangenen. Darunter waren jedoch nur 30 von den 47 Gefangenen, die im Hungerstreik waren oder fasteten. Eine öffentliche Liste der Freigelassenen gibt es noch nicht. So bleibt unklar, wer neben denen, die sich als „politische und Gesinnungsgefangene“ verstehen, noch frei kam. Dies ist nicht irrelevant, denn verurteilte Paramilitärs der Gruppen Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) und OPDDIC hatten ebenfalls ihre Freilassung gefordert.
Seit Mitte März haben die Familien von mehreren der Gefangenen im Hungerstreik ein plantón vor dem Regierungspalast in der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez installiert, um die Freilassung ihrer Angehörigen zu fordern. Diejenigen Freigekommenen, welche kurz zuvor noch in Haft im Hungerstreik waren, solidarisieren sich weiterhin mit denen, deren Schicksal sie noch vor kurzem geteilt hatten. Sie nehmen jetzt ebenfalls am plantón teil.
Noch halten beide Seiten durch, die im Gefängnis und ihre UnterstützerInnen draußen, allerdings rennt hinter Gittern die Zeit davon. Die chiapanekische Regierung erklärte die Revision der Fälle unlängst für beendet und stellt sich erstmal quer. Ein eventuelles Ende des Hungerstreiks bedeutet kein Ende des Kampfes um Freilassung der politischen Gefangenen, wie es weitergehen könnte, ist noch unklar. Die Feindseligkeiten der Gefängnisangestellten nehmen seit den bisherigen Freilassungen jedenfalls zu: „Mehrmals täglich kommen sie rein und fotografieren uns. Sie schüchtern uns ständig ein“, so Jesus López, einer der Gefangenen im Hungerstreik im Amate, die nicht freigelassenen wurden. Die strukturellen Defizite bleiben vorerst bestehen.