Nummer 384 - Juni 2006 | Sport

Linker Fußball? Rechter Fußball?

César Luis Menotti als Utopist des Wahren, Guten und Schönen im Fußballsport

Nach dem enttäuschenden Abschneiden Argentiniens bei der Fußball-Weltmeisterschaft (WM) 1974 in Deutschland übertrug der argentinische Fußballverband César Luis Menotti den Posten als Cheftrainer der Nationalmannschaft. Erstmals gewannen die so genannten „Albicelestes“ bei der 1978 im eigenen Lande ausgetragenen Fußball-WM den FIFA-Weltpokal, 1979 folgte der Titelgewinn bei der in Japan ausgetragenen FIFA-Juniorenweltmeisterschaft. „El Flaco“ („der Dürre“), wie Menotti schon in jungen Jahren genannt wurde, war damit sein größter sportlicher Coup gelungen. Berühmt wurde Menotti als Botschafter eines attraktiven, technisch versierten Offensivfußballs und aufgrund seiner politischen und gesellschaftlichen Sichtweise auf die Welt der Balltreter. Er gilt bis heute als einer der schillerndsten sportpolitischen Visionäre und als Erfinder dessen, was gemeinhin als Theorie vom „linken und rechten Fußball“ gehandelt wird.

Jan Dunkhorst

Anno 1978, im Jahr der Fußball-WM, herrschte in Argentinien bereits seit zwei Jahren eine der brutalsten und repressivsten Militärdiktaturen in der Geschichte Lateinamerikas. Der Chef der damaligen argentinischen Militärjunta, General Videla, sagte in seiner Eröffnungsansprache zur WM in Argentinien: „Willkommen in diesem Land des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit!“ Es überrascht nicht, dass die Militärs die WM für politische Propagandazwecke missbrauchten.

Die Freiheit verteidigen, nicht die Diktatur

„Wir spielen nicht für die Ehrentribüne voller Militärs, wir spielen für die Leute. Wir verteidigen nicht die Diktatur, sondern die Freiheit…“, soll Menotti seinen Spielern vor dem WM-Finalspiel einzutrichtern versucht haben. So waren es nicht nur seine die Welt des Runden Leders in unbekannte Umlaufbahnen katapultierenden Gedankengänge, die ihn legendär machten, sondern auch seine Haltung abseits des Spielfeldes. Menotti konnte sich leisten, was bei anderen unmöglich gewesen wäre: Im Ausland wie auch in Argentinien erging er sich zuweilen in regimekritischen und provozierenden öffentlichen Verlautbarungen. „Meine talentierten, klugen Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt“, sagte er, nachdem sein Team im WM-Finale die Niederlande 3:1 geschlagen und den Titel gewonnen hatte. Dass es wiederum in dieser Stunde des sportlichen Triumphs vor Millionen Fernsehzuschauern nicht zu einem obligatorischen Handschlag Menottis mit dem Juntachef Videla kam, wird hingegen kontrovers diskutiert: Manche sagen, er habe diesen betont verweigert, andere wiederum behaupten, er sei im Getümmel der Siegerehrung schlichtweg nicht bis aufs Treppchen zu Videla vorgedrungen.
Viele werfen Menotti bis heute vor, der Diktatur einen WM-Titel geschenkt, die Dinge nicht hinreichend beim Namen genannt und nicht immer so viel Distanz zur Militärdiktatur gehabt zu haben, wie er später behauptete. Letztlich sei er Teil eines Marketingsystems der Diktatur gewesen, das mit dem Fußball Imageförderung betrieben habe. Er selbst war und ist jedoch überzeugt davon, dass der WM-Sieg von 1978 und seine Tätigkeit als Nationaltrainer die Militärs nicht gestützt haben.
Menotti übte letztlich insgesamt acht Jahre lang das Amt des argentinischen Fußballnationaltrainers aus. Erst nach der dürftigen Leistung Maradonas sowie der ganzen Nationalelf und deren relativ frühzeitigem Ausscheiden bei der WM 1982 in Spanien musste er das Traineramt aufgeben. In den folgenden Jahren durchlief er zahlreiche Stationen während seiner facettenreichen, aber – abgesehen vom WM-Titel 1978 – insgesamt nur selten von bemerkenswerten Erfolgen gesegneten und schließlich im Jahr 2005 beendeten Trainerkarriere.
Trotzdem wurde der 1938 als Sohn eines Arztes im argentinischen Rosario geborene charismatische, kettenrauchende Fußballlehrer in Argentinien und Lateinamerika schon zu Lebzeiten zur verehrten und bewunderten Legende: Intellektueller, Philosoph, Journalist und Buchautor, dekadenter Bonvivant und Playboy, passionierter Klavierspieler und Jäger (auf seiner eigenen Hazienda), Kind der Oberschicht und verheiratet mit der Tochter eines schwerreichen Bankiers, (sport)politischer Linksaußen und Rebell – Menotti ist zweifelsohne eine schillernde Persönlichkeit und ein Mensch voller Widersprüche.

Fußball und Weltzugriff

Menotti sah und sieht sich selbst als einen entschieden politischen Menschen. In der kleinen Welt des Runden Leders spiegeln sich nach Menotti nicht nur aktuelle politische, soziale und ökonomische Bedingungen der Zeitgeschichte, sondern es zeichnen sich auch zukünftige Tendenzen in ihr ab. Den unerquicklichen politischen Zeitgeist macht er schließlich für den Niedergang seines geliebten Fußballsports verantwortlich: „Die Welt der Utopien ist gestorben. Wir leben in einer Nützlichkeitsgesellschaft, und da ist der Fußball zur Welt der großen Geschäfte verdammt. In der dritten Welt nimmt man den Menschen das Brot, in den Industrienationen stiehlt man ihnen die Träume“, resümiert Menotti.
Als „Mann der Linken“ führt er zu den Wurzeln des Fußballsports aus: „Beim Fußball konnte ein Arbeiter seine eigene Sprache sprechen, schlau und listig konnte er eine Absicht vortäuschen und eine andere durchsetzen – und all dies mit Freude, Ungezwungenheit, Talent zur Schönheit und der Feinfühligkeit, um diese Schönheit zu genießen… Der Fußball gehört dem einfachen Volk, denn aus ihm ist er hervorgegangen. Er beinhaltet alle Werte der Arbeiterklasse… Es sind Werte, die dem Menschen einen Ausweg bieten, die ihn anspornen, in Würde, Gerechtigkeit und Freude zu leben. Seit nun der Fußball zu einem weiteren Konsumgut und – mit dem Aufkommen des Industriezeitalters – zu einem kapitalistischen Produkt herabgewürdigt wurde, das man kaufen und verkaufen kann, werden jene ursprünglichen Werte gewaltsam verändert.“
Vor diesem Hintergrund entwickelte Menotti seine Theorie vom linken und rechten Fußball, die ihn insbesondere in Europa zur Gallionsfigur vieler fußballbegeisterter Intellektueller werden ließ.
Menotti verabscheut die Rechten und den Fußball, den sie spielen: „Beim rechten Fußball wird viel von Opfern und Arbeit geredet. Er wirft den Blick nur auf das Resultat, er degradiert die Spieler zu Söldnern des Punktgewinns.“ Der linke Fußball hingegen, den Menotti als Gegenkonzept immer wieder auf den grünen Rasen zu bringen versuchte, „feiert die Intelligenz, er schaut auf die Mittel, mit denen das Ziel erreicht wird, er fördert die Fantasie.“
Vom Fußballspieler fordert Menotti, seiner Klasse treu zu bleiben, denn ihm komme eine wichtige Rolle im Kampf um eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft zu. „Linken Fußball“ brachte er stets in Verbindung mit seiner Vorstellung vom Wesen der Arbeiterklasse und deren authentischen Werten – den offensichtlichen Widerspruch zwischen seiner eigenen Biographie und den von ihm propagierten Positionen und Einstellungen hat Menotti nicht problematisiert.
„Ein Tor sollte nur ein weiterer Pass ins Netz sein“, so das Credo von Menotti. Berühmt wurde er als Verfechter eines fantasievollen, intelligenten Offensiv- und Kombinations-Fußballs. „Menottistas“ werden diejenigen in Argentinien genannt, die in einer attraktiven Spielweise den Schlüssel zum Erfolg sehen, entgegen jenen, die eine rein ergebnisorientierte Spielweise bevorzugen.

Die Wahrheit liegt auf dem Platz…

Im genial einfachen Spiel liege letztlich die Kunst und die Schönheit des Fußballs, so Menotti. Der Trainer wiederum habe in diesem Kontext die Aufgabe, seine Spieler in ihrem Bemühen und Streben nach dem einfachen, genialen und schönen Spiel zu fördern, ihre Potenziale und Fertigkeiten zu erkennen und auszubauen, um dergestalt die „Intelligenz der Spieler zu entwickeln“.
Hier kommt Menottis Unterscheidung zwischen System und Ordnung zum Tragen: Orientiere sich der Fußball nach einem rigiden Spielsystem, sei er zu vergleichen mit einem zwar fehlerlos spielenden, aber einfallslosen und letztlich Langeweile verbreitenden Orchester. Das System diene nur dazu, die Mittelmäßigkeit zu verbergen, mit der ideenlose und die wahre Bestimmung des Spiels verbiegende Übungsleiter ihre kickenden Schützlinge drangsalierten. Die Ordnung dagegen sei stets kreativ: Deren immer perfekterer Aufbau bedeute die kontinuierliche Fortentwicklung der schöpferischen Potenziale des Fußballs, der sich als solcher, eben als „linker“ Fußball, nur in einfachen Spielern aus den unteren Volksschichten entwickeln könne.

Linker Fußball – schöner Fußball?

Menotti müsste es wissen, eine Zweckfreiheit des Fußballsports mit seinem Regelwerk hat es nie gegeben: Er besitzt immanent die Eigenschaft der Konkurrenz, nach der es darauf ankommt, einem Gegner den Ball abzujagen, ihn auszuspielen und zu besiegen und orientiert sich strukturell am Wert des Erfolgs. Leider zählt am Ende zumeist nur der Sieg, das geschossene Tor, und nicht die spektakuläre und schöne Aktion, die zum Pfostentreffer führte.
Fußball und Kapitalismus hängen historisch und strukturell zusammen: Die Gegenüberstellung kapitalistischer versus freier Fußball oder die Frage, wie der ursprüngliche Fußball gegen den Kommerz gerettet werden könne, entspringen letztlich (linken) Mythenwelten. Dass die Konzentration auf den Erfolg und damit der Erfolgsdruck jedoch durch die rasante Kommerzialisierung des Profifußballs verstärkt wird und dem Gekicke sukzessive einen guten Teil seiner Faszination entzieht, steht außer Frage und wurde von Menotti richtigerweise als Gefahr für die Substanz und Akzeptanz des Fußballsports erkannt.
In seiner historischen Dimension wurde der Fußballsport nach seiner Eroberung durch die proletarischen Massen in Europa zu einem weltumspannenden Massenphänomen und nachgerade einem Religionsersatz. Zwar liegen die sozialen Wurzeln des Fußballsports durchaus in der Arbeiterkultur, doch heute ist der Fußball auch offizielle Repräsentationskultur und essentieller Teil der Unterhaltungsindustrie.
Menottis Theorie vom linken und rechten Fußball ergeht sich darin, das – mittlerweile auch nicht mehr so richtig gängige – Links-Rechts-Schema als Koordinatensystem politischer Gesinnung auf das Fußballspiel zu übertragen. Bewegt man sich bemüht in sportiven Kategorien, denen man also das zuordnen kann, was sich gemeinhin auf dem Spielfeld abzuspielen und auszudrücken pflegt (wie Taktik-Treten-Tore), ist dies sicherlich auch als Metapher ein Irrweg. Vielleicht bezeichnet sein „linker“ Fußball dahingehend einfach nur eines: grundsätzlich schönen Fußball, der dann auch gut sein sollte und ruhig Erfolg haben darf.
Die von der argentinischen Trainerlegende Menotti in seinen zahlreichen poetisch-philosophisch-politischen Tiraden vermittelten Vorstellungen von den grundlegenden Zusammenhängen im und rund um den Fußball sind zweifelsohne lesenswert und heben ihn deutlich ab von der Mehrzahl der eher schlicht gestrickten Zunft seiner Fußballtrainerkollegen.
Doch letzlich ist das von Menotti als bemühtem Streiter für einen besseren Fußball wie auch eine bessere Welt Imaginierte eine Illusion, eine Utopie. Seine Vorstellungen vom „linken Fußball“ als Ideal, Spiegelbild und Keimzelle einer neuen Gesellschaftsordnung ist nicht nur ob der realen Entwicklungen längst obsolet, sondern fußte auch auf einer durchaus brüchigen, inkonsistenten Theorie, die sich so widersprüchlich erweist wie seine Gestalt und der Fußball selbst. Sein Verdienst ist es jedoch, den „Fußball als Fest“ überhaupt formuliert und ausgesprochen, damit andere inspiriert und ihnen neue Horizonte eröffnet zu haben.
Ob dies auch für Menottis Tipp für das Finale der WM 2006 gilt, wird sich alsbald zeigen: Argentinien gegen Brasilien. Ergebnis: 3:1, als erste Option…, doch könne er sich auch Deutschland als Finalteilnehmer vorstellen. Na dann, gute Nacht!

Der Artikel stammt aus dem Buch „Futbolistas“. Fußball und Lateinamerika: Hoffnungen, Helden, Politik und Kommerz, herausgegeben von Dario Azzellini und Stefan Thimmel. Die Lateinamerika Nachrichten sind mit am Ball: Bis Juli 2006 werden ausgewählte Beiträge des Buches in gekürzter Version abgedruckt.

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