Literatur | Nummer 509 – November 2016

LITERATUR ALS FLASCHENPOST

Der Schriftsteller Antonio Ortuño über Bildung, Rassismus und die Rolle der engagierten Literatur in Mexiko

Vor welchen Herausforderungen steht die mexikanische Literatur und welche Rolle spielt sie in einer Gesellschaft, die sich von einem öffentlichen Bildungsprojekt verabschiedet hat? Welche Themen beschäftigen die aktuelle Generation mexikanischer Schriftsteller*innen? Diese Fragen beantwortet der mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuño im Interview mit den LN .

Von Interview: Elena von Ohlen
ANTONIO ORTUÑO
Geboren 1976 in Guadalajara, Mexiko. Seit 2006 veröffentlicht er Romane und Kurzgeschichten und arbeitet für verschiedene Zeitungen und Kulturmagazine in Mexiko und Spanien. Sein Roman Die Verbrannten ist 2015 auf Deutsch erschienen (siehe LN 499), im September 2016 war er beim Internationalen Literaturfestival in Berlin zu Gast.
(Foto: Álvaro Moreno)

In Ihren Romanen behandeln Sie sozialkritische Themen, die für die mexikanische Gesellschaft bedeutend sind. Welche Rolle spielt Literatur heutzutage?
Ich finde es schwierig, mich mit dem orthodoxen Konzept der engagierten Literatur zu identifizieren, ohne politisch militant zu wirken. Ich habe politische Ideen, doch leider habe ich im mexikanischen Kontext keinerlei Hoffnungen, mit meiner Literatur irgendetwas zu bewirken. Nur wenige Mexikaner lesen Literatur, sie ist kein Teil des Alltagslebens der meisten Menschen mit geringem Einkommen und geringem Bildungsniveau. Schriftsteller haben die Möglichkeit, das „hässliche“ Mexiko zum Thema zu machen, oder sich eben dagegen zu entscheiden. Für mich selbst sind die Gewalt, die Misere, die Ungerechtigkeit immer wieder ein Schlag ins Gesicht, sie sind überwältigend und allgegenwärtig. Ich neige dazu, die Dinge negativ zu definieren: Ich schreibe über Mexiko, weil ich es nicht lassen kann, nicht weil ich denke, dass ich damit etwas bewirke. In Mexiko spielt die Literatur momentan einfach keine Rolle im Leben der großen Bevölkerungsmehrheit. Zu hoffen, dass sie eine Art Motor für Veränderung sein könnte, ist illusorisch. Andererseits ist es schon so, dass diejenigen, die sich in den intellektuellen oder künstlerischen Kreisen bewegen, die sozialen Probleme Mexikos reflektieren. Leider existiert jedoch kein Konsens darüber, wie diese Veränderungen herbeigeführt werden könnten. Unsere Gesellschaft ist furchtbar individualistisch. Hinzu kommt, dass die meisten Literaturschaffenden in Mexiko selbst der Elite angehören, auch wenn sie progressive Auffassungen vertreten. Die meisten von ihnen haben kein Interesse daran, explizit politisch zu sein. Was mich persönlich interessiert, ist der Dialog mit den Lesern, mich mit ihnen konstruktiv auszutauschen. Aber es ist unmöglich, Literatur zum Gewissen einer Gesellschaft zu stilisieren, wenn diese Gesellschaft nicht liest. Die mexikanische Gesellschaft ist zutiefst anti-intellektuell. Schriftsteller sein in Mexiko bedeutet, auf gut Glück eine Flaschenpost ins Meer zu werfen und zu schauen, ob sich jemand dafür interessiert.

Die mexikanische Gesellschaft war nicht immer so anti-intellektuell.
Es gab in Mexiko immer eine gebildete Elite und vereinzelt andere Bevölkerungsteile, die Literatur konsumiert haben. An den Universitäten gab es ein offenes Klima, das der Diskussion von Ideen zugute kam. Ich denke nicht, dass es eine goldene Ära der Literatur gab, obwohl es zu gewissen Zeiten viele politisch engagierte Intellektuelle gab. Carlos Fuentes und Octavio Paz wurden von den institutionellen Mächten gleichzeitig respektiert und gefürchtet. Sie bewegten sich jedoch selbst in diesen elitären Zirkeln, waren mit Senatoren und Abgeordneten befreundet. Ich kann mir nicht vorstellen, von einem Abgeordneten zum Essen eingeladen zu werden, aber ich gehöre diesen Eliten auch nicht an. Es stimmt, dass es früher ein umfangreiches öffentliches Bildungsprojekt gab, das von der Grundschule bis hin zur Universität umgesetzt wurde und zudem laizistisch veranlagt war, was für ein so katholisches und konservatives Land wie Mexiko schon sehr erstaunlich ist. Die Geschichte wurde mexikanisch, lateinamerikanistisch interpretiert, in Opposition zum Kolonialismus. Leider starb ein Großteil dieses öffentlichen Bildungssystems in den 1990er Jahren, weil die Regierung selbst es auflöste. Geschichtsbücher wurden verändert, die Gewerkschaft der Lehrer bis ins letzte Glied unterwandert. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.), die ursprünglich Erfinderin des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems war, siedelte zum Neoliberalismus über. Und die einzige Alternative war die Rechte, die von Anfang an gegen dieses öffentliche System war. Es gab also keine politischen Kräfte, die das System hätten verteidigen können, denn die mexikanische Linke ist in Wahrheit nur ein verkleideter Ast der PRI.

Die Schilderung von extremer Gewalt ist nicht unüblich für Autor*innen Ihrer Generation. Wie positionieren Sie sich in der aktuellen Literaturszene Mexikos, haben Schriftsteller wie Roberto Bolaño Sie beeinflusst?
Offen gestanden: nein. Ich habe Bolaño erst gelesen, als ich selbst schon als Schriftsteller tätig war und meinen eigenen Stil entwickelt hatte. Und Bolaño hat die Literatur der extremen Gewalt auch nicht erfunden. Mich hat besonders ein brasilianischer Autor beeinflusst, Rubem Fonseca, der der erste war, der mich durch seine Schilderungen ungleicher Gesellschaften und der infolgedessen grassierenden Gewalt beeindruckt hat. Bolaño selbst hat für seinen Roman 2666 ganz sicher sehr aufmerksam Sergio González Rodríguez gelesen, einen der großen mexikanischen Gewaltforscher. Bolaño hat lange in Mexiko-Stadt gelebt, doch von der mexikanischen Provinz und von Ciudad Juárez (unter dem Namen Santa Teresa einer der Schauplätze des Romans und Ort der Frauenmorde, Anm. d. Red.) hatte er keine Ahnung. Es ist kein schlechtes Buch, mich haben jedoch andere Autoren stärker beeinflusst. Jorge Ibargüengoitia zum Beispiel, der für mich umso relevanter war, da ich durch seine Bücher lernte, dass die Sprache, die ich sprach, auch Literatur sein konnte. Ich bin in einer spanischen Migrantenfamilie und mit spanischer Literatur aufgewachsen. Durch Ibargüengoitia lernte ich, dass auch nicht-iberisches Spanisch Träger von Literatur sein kann. Andere große mexikanische Autoren wie Juan Rulfo, Salvador Elizondo oder Elena Garro bewundere ich sehr, doch ich fühle mich durch sie nicht repräsentiert. Deshalb versuche ich, eine eigene Stimme zu schaffen.

Sie klagen in Ihrem Buch Die Verbrannten die mexikanische Gesellschaft an, indem Sie deren Umgang mit zentralamerikanischen Migrant*innen als ein Zerquetschen von Fliegen beschreiben. Wie wurde das aufgefasst?
Erstaunlicherweise ziemlich positiv. Der Roman hat sich außergewöhnlich gut verkauft, ich habe viele Interviewanfragen bekommen und mir wurde von allen Seiten gratuliert. Kurios ist, dass die Glückwünsche nicht über den ästhetischen Aspekt hinausgingen. Es wurde innerhalb Mexikos kein oder nur vereinzelt ein Dialog zum Thema der zentralamerikanischen Migration angeregt. Die interessantesten Gespräche diesbezüglich habe ich mit Journalisten, Schriftstellern oder in Universitäten geführt. Mir scheint es, dass es heutzutage in Mexiko unschick ist, über politische Themen zu schreiben. Dein Buch wird gelobt, aber kein politischer Diskurs angestoßen.

Haben Sie während der Recherchen auch selbst mit Migrant*innen gesprochen?
Es sollte keine Reportage werden, gezielt habe ich also keine Interviews geführt. Journalistisches Material gibt es ja zuhauf. Mein erster Berührungspunkt ergab sich dadurch, dass sich mein Viertel in Guadalajara auf einmal mit Migranten füllte. Nach dem Massaker von San Fernando (Massenmord an zentralamerikanischen Migrant*innen im Bundesstaat Tamaulipas im Jahr 2011, Anm. d. Red.), und anderen Vorfällen begannen sie, ihre Route zu ändern. Tatsächlich ist es Wahnsinn, von Zentralamerika aus in die USA zu reisen und dabei die Pazifikroute zu nutzen, die so viel länger ist als die Golfroute, und dabei auch noch die Wüste von Sonora zu durchqueren. Aber sie sahen sich praktisch gezwungen, sowohl vom organisierten Verbrechen als auch vom Staat – wobei die Grenzen hier bekannterweise fließend sind. Guadalajara ist weit entfernt von der Grenze, die Leute dort hatten nie zentralamerikanische Migranten gesehen. Dann sahen wir sie durch das Viertel laufen, auf den Parkbänken schlafen, um Wasser bitten. Die erste Herberge für Migranten befand sich nur vier Straßen von meinem Haus entfernt. Also sprach ich mit einigen von ihnen, sie erzählten mir, was sie zu dem Zeitpunkt beschäftigte, was sie erlebt hatten.

Einer der interessantesten Charaktere des Romans ist ein Mann, der in einer Transitzone lebt und sich eine Migrantin als Haussklavin hält. Wie macht sich dieser Rassismus, der tief in der mexikanischen Gesellschaft verankert ist, bemerkbar?
Der Roman konzentriert sich darauf, etwas aufzudecken, was der Journalismus nur schwer aufdecken kann: den unterschwelligen Rassismus und Klassismus in Mexiko. Wenn du einem Mexikaner ein Diktiergerät vor die Nase hältst, wird er dir wahrscheinlich nicht seine wahre Meinung sagen. Wenn ich allerdings als Schriftsteller Zugang zu privaten Gesprächen bekomme, sieht es oft ganz anders aus. Ich kann im fiktionalen Kontext reale Begebenheiten zur Sprache bringen, mich fragen, warum in aller Welt ein Land, dass Abermillionen von Migranten in die USA geschickt hat und das sich schrecklich über die dortige Diskriminierung aufregt, den Zentralamerikanern mit noch gewaltsamerer Diskriminierung begegnet. Die Figur dieses Mannes fasziniert mich, und auf gewisse Weise kann ich nachvollziehen, wie er diesen Jagdwahn entwickeln konnte. Rassismus ist Teil der mexikanischen Gesellschaft, seit es sie gibt. Wir waren schon immer in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse unterteilt. Interessant ist, dass es eine Zeit gab, in der Mexiko sich damit brüstete, ein Einwanderungsland zu sein. Es gab Einwanderungswellen von Spaniern, Argentiniern, Chilenen und vielen mehr. Während der Diktaturen in Südamerika und Spanien hat Mexiko viele Menschen aufgenommen, unter ihnen meine Familie. Und das Bemerkenswerte ist, dass die meisten von ihnen gekommen sind, um zu bleiben. Die zentralamerikanischen Migranten wollen nicht bleiben, sie durchqueren Mexiko weil sie keine andere Möglichkeit haben. Alles worum sie bitten ist, nicht umgebracht zu werden. Ich denke, dass wir Mexikaner den Zentralamerikanern zu sehr ähneln, wir hassen es, dass sie uns an uns selbst erinnern. Dieselben Codes der Diskriminierung, die in klassistischen Mustern denkende Mexikaner auf sich selbst anwenden, wenden sie auf Zentralamerikaner an. Doch diese haben keinen juristischen Schutz, niemand sucht nach ihnen, Verbrechen bleiben straflos.

Auch in Deutschland wird momentan viel über einen „gesellschaftsfähigen Rassismus“ gesprochen. Ist Die Verbrannten auch auf andere Migrationskontexte übertragbar?
Ich denke, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt, als man denkt. Eine der Möglichkeiten der Literatur ist es, spezielle Kontexte in universale Kontexte zu transformieren. Ich denke, dass in vielen Gesellschaften dieselben Probleme bezüglich rassistischen Gedankenguts herrschen, dieselben Codes der Diskriminierung und Menschenverachtung aufzufinden sind. Der Umgang mit diesen ist jedoch unterschiedlich. In Deutschland wachsen Parteien, die das Thema Migration zum Hauptthema ihrer politischen Agenda erheben. In Mexiko existiert so etwas nicht, der Migrant wird auch nicht zum öffentlichen Feind erklärt, man begeht lediglich Gräueltaten und geht mit aller Kraft der Autoritäten gegen sie vor. Entweder werden sie von staatlichen Funktionären selbst misshandelt, oder diese tun nichts, um ihnen Schutz zu gewähren. Sie werden entführt, versklavt, totgeschlagen. Das ist der größte Unterschied.


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