Nachruf | Nummer 477 - März 2014

Literatur, von allen für alle

Nachruf auf den mexikanischen Autor und Journalisten José Emilio Pacheco

Elena von Ohlen

Sein Tod kam überraschend für Mexiko und ganz Lateinamerika. Am Abend vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus beendete José Emilio Pacheco seine letzte Kolumne für die mexikanische Wochenzeitung El Proceso. Darin würdigte er seinen wenige Tage zuvor verstorbenen Freund, den argentinischen Schriftsteller Juan Gelman. Seit 1976, dem ersten Erscheinungsjahr der Zeitung, hatte Pacheco dort jede Woche seine Kolumne Inventario veröffentlicht. Mit dieser erstellte er über die Jahre nicht nur ein umfangreiches Archiv der Literaturkritik von mexikanischer und Weltliteratur, sondern ebenso eine Reflexion der letzten Jahrzehnte mexikanischer Geschichte, Kultur und Politik.
Pacheco war ein Verfechter des geschriebenen Wortes in allen seinen Facetten und Formen. Er verfasste Texte in allen literarischen und journalistischen Gattungen. Neben der im Jahr 1980 mit dem Nationalen Journalistenpreis ausgezeichneten Kolumne, die mehr als 1000 Mal erschien, umfasst sein Werk unter anderem zwei Romane, Morirás lejos und Las batalles en el desierto. Letzterer wurde von Pacheco um die 40 mal redigiert und neu aufgelegt und inspirierte einen Comic, einen Film (Mariana, Mariana) sowie ein Lied der mexikanischen Gruppe Café Tacvba (Las batallas). Zu seinem Gesamtwerk gehören zudem zahlreiche Kurzgeschichten, Übersetzungen ins Spanische von Autoren wie Samuel Beckett und Oscar Wilde, Drehbücher und Essays, vor allem jedoch 17 umfangreiche Gedichtbände. Im Jahr 2009 wurde seine Lyrik mit dem Reina Sofía-Preis und sein Gesamtwerk mit dem Cervantes-Preis gewürdigt, zwei der wichtigsten Auszeichnungen der spanischsprachigen Literatur. Als Autor literarischer Fiktion prägte er Themen, Ideen und Stil seiner Generation. Als Journalist transformierte er nachhaltig die mexikanische Kulturkritik, bestückte diese mit neuen Inhalten und setzte neue ästhetische Maßstäbe. Seine Rezensionen sind heute Referenzpunkt der mexikanischen Literaturkritik.
Pacheco galt zwar als öffentlichkeitsscheu und zurückhaltend, scheute sich aber nie, Kritik am politischen System Mexikos zu üben. Die sich im Jahr 2011 abzeichnende Präsidentschaft Enrique Peña Nietos bezeichnete er auf einer Konferenz, die er gemeinsam mit seinem Kollegen Carlos Fuen­tes zu Ehren des mexikanischen Schriftstellers Fernando Benítez hielt, als nationale Tragödie. Zur Verleihung des Nationalen Journalistenpreises, der ihm vom damaligen, heftig umstrittenen Präsidenten José López Portillo überreicht werden sollte, erschien Pacheco aus Protest nicht.
Sowohl seine Prosa als auch seine Lyrik nehmen immer wieder Bezug auf die jüngste mexikanische Geschichte, auf das Leben in der Scheindemokratie des postrevolutionären Mexiko.
Geschätzt wird Pacheco in Mexiko jedoch nicht nur aufgrund seines Werkes. Als Person stach er hervor, ohne sich jemals selbst zu inszenieren. Seine journalistischen Beiträge unterzeichnete er mit dem Kürzel JEP oder sie erschienen anonym, niemals jedoch tauchte sein vollständiger Name unter einem seiner Artikel auf. Er bezeichnete Literatur als Produkt aller Menschen, nicht eines Einzelnen. Er selbst sei somit kein Ideengeber, sondern übermittele diese lediglich, immer mit dem Anspruch, seine Literatur auch außerhalb der intellektuellen Sphäre zu präsentieren. Obwohl er in der lateinamerikanischen Literaturlandschaft als einer der einflussreichsten Dichter des 20. Jahrhunderts gilt, sagte er selbst über sich, dass er nicht einmal der Beste seines Viertels sei. Der bereits genannte Juan Gelman war sein Nachbar.
José Emilio Pacheco verstarb am 26. Januar 2014 im Alter von 74 Jahren in Mexiko-Stadt an den Folgen eines am Vortag erlittenen Sturzes.

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