Literatur | Nummer 600 - Juni 2024

Lose Fäden

Mit Wir sehen uns im August wurde ein unvollendeter Roman aus dem Nachlass von Gabriel García Márquez veröffentlicht

Von Aurelia Tens

Oft werden wir von zahlreichen Gedanken überwältigt, die unsere Aufmerksamkeit einfordern. Die Sätze werden dann kürzer und oft bleiben ihre Enden unvollständig. Es ist, als würden zahlreiche lose Fäden im Kopf zusammenkommen und sich allmählich zu einem Sinngefüge verbinden, von dem man hofft, dass es zu einer bedeutenden Erkenntnis führen wird.

Dieses Gefühl der Erwartung auf eine tiefergreifen­de Einsicht ergreift einen, wenn man Gabriel García Márquez’ Roman Wir sehen uns im August liest. Erzählt wird die Geschichte von Ana Magdalena Bach, einer Frau mittleren Alters, die ein scheinbar perfektes normales Leben in einer durchschnittlichen Ehe mit Kindern führt. Jedes Jahr reist sie zum Todestag ihrer Mutter auf eine Insel, wo diese begraben liegt. Sie fährt mit dem Taxi zum Friedhof, kauft dort bei der immer selben Dame Gladiolen und legt den Strauß auf das Grab. Anschließend genießt sie ihr traditionelles Käse-Schinken-Sand­wich in einem alten Hotel.
Doch bei einem ihrer jährlichen Besuche ändert sich alles: Sie hat eine Affäre mit einem anderen Mann. Nach ihrer gemeinsamen Nacht entdeckt sie einen 20-Dollar-Schein in ihrem Buch. Obwohl sie darüber empört ist, setzt sie ihre nächtlichen Begegnungen mit verschiedenen Männern in den folgenden Jahren fort.

Die Lesenden erwarten gespannt den Moment der Enthüllung, der erklären könnte, warum sie so handelt. Doch dieser Moment bleibt aus. Die losen Fäden werden nicht zu einem strukturierten Geflecht verknüpft, wie es uns vertraut ist. Und manche Charaktere scheinen sehr oberflächlich und undurchdringlich. Auch wenn dies zunächst ein leichtes Unbehagen hervorrufen mag, bietet sich hier doch die Möglichkeit, faszinierende Parallelen zum realen Leben zu ziehen. Oft können wir das Verhalten anderer Menschen, ob Freund*innen oder Fremde, nicht nachvollziehen. Manchmal fällt es uns sogar schwer, unsere eigenen Handlungen zu verstehen oder ihre Gründe zu erklären. Das Buch lässt einen aufgrund dieser offenen Fragen nicht los.

Allerdings erfordert das Verständnis von García Márquez’ Roman Wir sehen uns im August eine Kontextualisierung, da es unter besonderen Umständen entstanden ist. Die fortschreitende Demenz des Autors machte es ihm zunehmend schwer, auf seine Erinnerungen zuzugreifen, die er als Grundlage seines Schreibens betrachtete. Diese Herausforderung zeigt sich auch in seinem Werk. Tatsächlich wollte García Márquez den Roman selbst nicht veröffentlichen. Die Veröffentlichung wurde Jahre nach seinem Tod von seinen Kindern in Auftrag gegeben. Die Frage, warum sie die Erzählung gegen seinen Willen veröffentlichten, beantworteten sie damit, dass sie den Roman letztendlich für nicht so schlecht hielten. Eine Entscheidung, die ein seltsames Licht auf das Verhältnis zwischen dem Autor und seinen Erben sowie auf die Einschätzung der künstlerischen Qualität seines literarischen Schaffens wirft

Gabriel García Márquez // Wir sehen uns im August // Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz // Kiepenheuer & Witsch // 2024 // 144 Seiten // 23 Euro

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