Luftwurzeln
Juan Gelmans poetische Suche nach Land im Exil
Als der argentinische Dichter Juan Gelman 1975 vor den Verfolgungen der rechtsgerichteten Terrorgruppe Triple A (Alianza Anticomunista Argentina) fliehen musste, änderte sich nicht nur sein politisches Leben im linksoppositionellen Untergrund, sondern es änderte sich auch sein Schreiben. Er, der ganz selbstverständlich politische und soziale Themen aufgegriffen hatte, die ihm alltäglich vor Augen lagen, war plötzlich nicht mehr der Fisch im Wasser der Straßen von Buenos Aires. Das europäische Exil hat für Gelman jedoch nicht nur den Verlust vertrauter Heimat bedeutet, sondern ihm auch die Chance geboten, sich in den Mittelmeerländern auf die Suche nach seinen sprachlichen, literarischen und kulturellen Wurzeln zu begeben.
Er fand sie zunächst in den spanischen Dichtern des so genannten Goldenen Zeitalters, der Renaissance und des Barock. So entstanden 1978 und 1979 die beiden Gedichtzyklen Citas (Zitate) und Comentarios (Kommentare). Wenig später ging Gelman dann mit dem Band Dibaxu noch ein großes Stück weiter: Er schrieb Gedichte in sephardischer Sprache, der Sprache der spanischen Juden, die 1492 per königlichem Dekret von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden und sich rund um das Mittelmeer, in Nordafrika und Italien, vor allem aber im Osmanischen Reich niederließen. Noch heute gibt es in Städten wie Istanbul, Thessaloniki oder Sofia kleine Gemeinden sephardischer Juden, die Sephardisch sprechen – das Spanisch des 15. Jahrhunderts, das sich in der fremden Umgebung anders weitergebildet hat als das Spanisch Kastiliens.
Juan Gelman ist selbst nicht sephardischer Abstammung. Seine nach Argentinien eingewanderten Eltern waren ukrainische Juden. Aber die Verbindung von jüdischer und spanischer Tradition mag es gewesen sein, die ihn an dieser fragilen, fast vergessenen Sprache und Kultur Interesse finden ließ. Dibaxu (sprich: dibáschu) heißt das gedruckte Ergebnis dieser Beschäftigung. Zwischen 1983 und 1985 entstanden, erschien es erst 1994 in Mexiko und liegt nun in einer dreisprachigen Ausgabe übersetzt unter dem Titel Dibaxu / Debajo / Darunter vor.
Die 29 Gedichte dieses Zyklus kreisen allesamt um die Themen Nähe und Ferne, Anwesenheit und Verlust. Sie sind Liebesgedichte, gerichtet an ein Du: „wie schön sind deine Augen / und mehr noch der Blick deiner Augen / und mehr noch die Luft deiner Augen wenn du in die Weite schaust“. Mal wie ein Lied, mal ein halb träumender Gedanke, sind sie still, behutsam, etwas melancholisch. Gelman bedient sich ganz einfacher Wörter, die im Laufe des Zyklus ständig wiederkehren: Regen, Vogel, Stimme, Blätter und Bäume, Nacht, Morgen und Tag …
Wörter, die zunächst einmal nicht viel bedeuten und die Gelman auch nicht zu bekannten, eingängigen Bildern verknüpft. Statt dessen entstehen Bildgefüge, in denen neben dem Eindruck des ganzen Textes auch die einzelnen Worte ihre Eigenheit bewahren: „du sagst Wörter mit Bäumen / sie haben Blätter die singen / und Vögel / die Sonne sammeln“. Oder: „der Vogel / der in meiner Stimme fliegt / ist ganz klein // durch den Vogel führt ein Weg / der zu deinen Augen geht / auf deine Hand wartet“. Gelman zeigt sich als einen Suchenden, er macht sich mit den Worten vertraut, klopft sie ab. In dieser Haltung nähert er sich der sephardischen Sprache an, er schafft sich mit ihr ein Stück neuen Boden unter den Füßen, schlägt Luftwurzeln, richtet sich im Exil ein.
Wenn man die Texte aus der Perspektive eines Verfolgten und Geflohenen liest, dann dringen immer wieder Themen des Exils durch die Zeilen: „am offenen Morgen / ziehen langsam durch deine Augen / die Tiere die dich verbrannten / mitten im Traum // nie sagen sie etwas / / lassen mir Asche zurück / und / mich allein / mit der Sonne/“
Ja, unter der Oberfläche der alltäglichen, stillen Liebesgedichte ist Darunter im Ganzen ein Exilbuch und der Versuch, die Schmerzen des Entwurzeltseins zu ertragen. Damit wird noch einleuchtender, warum sich Gelman ausgerechnet ins Sephardische versenkt: sind doch die Sepharden besonders geprägt durch ihr Vertriebensein.
Gelmans Gedichte sind so originär, dass die sephardische Sängerin Dina Rot sie vertont und auf einer CD herausgebracht hat. Una manu tumó l’otra (Eine Hand nahm die andere), so der Titel der CD und des dazugehörigen Buches. Es enthält neben acht Liedern nach Texten von Juan Gelman auch zehn weitere der Sephardin Clarisse Nicoidsky. Dina Rots wunderbar warme, elegische Stimme und ihre einfühlsamen Vertonungen, mit denen sie Gelmans Verse deutet und quasi „übersetzt“, bringen einem diese nicht ganz leicht zugänglichen Gedichte sehr nahe.
Juan Gelman: Dibaxu / Debajo / Darunter. Aus dem Sephardischen ins Spanische von Juan Gelman, aus dem Sephardischen und Spanischen ins Deutsche von Tobias Burghardt, Edition 350 im Verlag der Kooperative Dürnau, Dürnau 1999, 80 Seiten, 25,- DM.
Dina Rot: Una manu tumó l’otra, Buch & CD, Verlag El Europeo, Madrid 1999, ISBN 84-89156-13-1, Vertrieb über Karonte Records.