Literatur | Nummer 601/602 - Juli/August 2024

Lyrik aus Lateinamerika

Ein Gedicht von Leonardo Tonus

Von Leonardo Tonus (Übersetzung: Lilli-Hannah Hoepner)

»No quiero que paren a mi padre.
No quiero que lo deporten.«

»Ich will nicht, dass sie meinen Vater festhalten.
Ich will nicht, dass sie ihn abschieben.«

Ausruf eines eingesperrten Kindes, Tonaufnahme im*Abschiebelager McAllan, Texas, Juni 2018.

Illustration: Vitor Rocha

american dream

fomos os últimos a chegar.
nossas motivações são econômicas.
vivemos para vencer.
traímos para crescer.
não fugimos a nenhuma opressão.
não fomos perseguidos.
nenhuma catástrofe natural nos jogou nas ruas.
e temos fome.
somos legião a ter fome.
e a não compartilhar ideologias.
porque mestres não seguimos.
e da história não nos preocupamos.
temos fome porque somos modernos.
liquidamente pós-modernos.
somos o subproduto espúrio da humanidade.
a escória do mundo.
bastardia impura que roubará seus empregos.
que saquerará a sua identidade.
pervertirá os seus lares.
objetos estéticos não somos.
vestimo-nos mal.
comemos mal.
cheiramos mal.
e temos fome.
viemos de um país de merda.
somos a merda do mundo.
o ralo.
o esgoto.
o nada.
temos fome quando nos cadastram nos centros de referência.
quando nos encarceram nas zonas de espera.
nos arrastam até zonas de trânsito.
com fome nos centros de detenção.
fome nos campos de retenção.
nos campos de concentração.
pelas praças.
pelas ruas.
fome debaixo das pontes.
fome na áfrica.
na europa.
no brasil.
450 mil pessoas famintas nos campos da somália.
nos guetos de beirute.
fome nas selvas de calais.
indesejados com fome.
indocumentados pela fome.
fome que expulsa.
castra.
estupra.
fome que arranca braços.
que veda olhos.
fome que vende órgãos.
fome que sufoca.
que afoga.
fome pelos mares.
pelos ares.
fome.
fome.
fome

de esperança.

american dream

wir sind die letzten.
wir sind aus wirtschaftlichen Gründen hier.
wir leben, um zu gewinnen.
betrügen, um zu wachsen.
sind vor keiner Unterdrückung geflohen.
sind keiner Verfolgung ausgesetzt.
keine Naturkatastrophe hat
uns obdachlos gemacht.
und wir haben Hunger.
wir sind viele, die Hunger haben.
die keine Weltanschauungen teilen.
denn wir folgen nichts und niemandem.
die Geschichte ist uns egal.
wir haben Hunger, weil wir modern sind.
flüssig postmodern.
Ausschussware der Menschheit.
Abschaum der Welt.
dreckige Bastarde, die euch eure Jobs wegnehmen.
die eure Identität stehlen.
euer Zuhause verderben.
sind keine ästhetischen Objekte.
kleiden uns schlecht.
essen schlecht.
riechen schlecht.
und haben Hunger.
kommen aus einem Drecksland.
wir sind der Dreck der Welt.
das Abwasser.
das Dreckswasser.
das Nichts.
haben Hunger, wenn wir uns melden.
wenn sie uns in Wartebereichen einsperren.
uns in Transitzonen zerren.
haben Hunger in den Abschiebezonen.
Hunger in den Auffanglagern.
in den Konzentrationslagern.
in den Parks.
in den Straßen.
Hunger unter Brücken.
Hunger in Afrika.
in Europa.
in Brasilien.
vierhundertfünfzigtausend Personen verhungern
auf den Feldern in Somalia.
in den Ghettos von Beirut.
Hunger in den Gestrüppen von Calais.
hungrige Unerwünschte.
papierlos durch Hunger.
Hunger, der ausschließt.
kastriert.
vergewaltigt.
Hunger, der Arme ausreißt.
Hunger, der Augen verbindet.
der Organe verkauft.
Hunger, der erstickt.
der ertränkt.
Hunger auf den Meeren.
in der Luft.
Hunger.
Hunger.
Hunger

auf Hoffnung.

LEONARDO TONUS

geboren in São Paulo, ist Professor für brasilianische Literatur an der Sorbonne-Nouvelle Universität. Er lebt seit 30 Jahren in Frankreich und arbeitet in den Bereichen zeitgenössische brasilianische Literatur, Literaturtheorie und vergleichende Literaturwissenschaft mit Forschungen zur Migration. Als Autor verfasste er die Gedichtbände Agora Vai Ser Assim (2018) und ­Inquietações em tempos de insônia_(2019), beide beim Verlag Nós. Sein Gedichtband Diários em mar aberto erschien 2021 beim Verlag Folhas de Relva in Brasilien sowie 2023 in deutscher Übersetzung (Aufzeichnungen von hoher See) beim Hagebutte Verlag München.

LILLI-HANNAH HOEPNER

studierte Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Seit 2008 ist sie als Regisseurin an verschiedenen Theatern im deutschsprachigen Raum und auch immer wieder in Brasilien tätig. Seit 2018 arbeitet sie darüber hinaus auch als Übersetzerin.


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