Lyrik aus Lateinamerika
Ein Gedicht von Ana Martins Marques
Silêncio
Língua das coisas
Mas também: língua de se falar
com as coisas
e com as próprias palabras
O nome das coisas
quando não falamos delas
Único modo que têm os mortos
de cantar
O que há entre uma xícara e outra xícara
entre uma pedra e uma rosa
entre Vênus e uma cadeira
O modo como soa
uma palavra
riscada
Toda fala nasce com a cicatriz do silêncio,
que foi quebrado
Não há palavra que não seja marcada pelo silêncio
como camisas que secaram
presas ao varal
Por outro lado, frequentemente o silêncio
vem manchado por uma palavra
como um espelho sujo
A forma mais próxima do silêncio é o círculo:
forma geométrica da espera
O rastro que deixou
o animal que não passou
É este o meu nome
quando não me chamas

Stille
Sprache der Dinge
Doch auch: Sprache, um mit den Dingen
zu sprechen
und das mit eigenen Worten
Der Name der Dinge
wenn wir nicht über sie sprechen
Der einzige Weg für die Toten
zu singen
Was zwischen einer Tasse und einer anderen Tasse ist
zwischen Stein und Rose
zwischen Venus und einem Stuhl
So wie ein Wort
klingt
das gestrichen wird
Alles Gesprochene kommt mit der Narbe
einer gebrochenen Stille zur Welt
Kein Wort ist nicht von der Stille geprägt
so wie Hemden, die an der Leine
getrocknet sind
Andererseits kommt nicht selten die Stille
befleckt durch ein Wort daher
wie ein schmutziger Spiegel
Die Form, die der Stille am nächsten kommt, ist der Kreis:
geometrischer Ausdruck des Wartens
Die Spur, die ein Tier hinterließ
das nicht da war
Genau das ist mein Name
wenn du nicht nach mir rufst
Ana Martins Marques wurde 1977 in Belo Horizonte geboren und ist eine der beliebtesten zeitgenössischen Dichterinnen Brasiliens. Sie hat einen Abschluss in Literatur und promovierte in vergleichender Literaturwissenschaft. Ihre Gedichtbände wurden vielfach prämiert, unter anderem mit dem Preis der Biblioteca Nacional und beim Oceanos-Preis. In deutscher Übersetzung von Michael Kegler erschienen bisher ihr aktueller Gedichtband Risque esta palavra (Companhia das Letras, 2021) als zweisprachige Ausgabe unter dem Titel Streich dieses Wort (Hagebutte Verlag, 2024) und eine an O livro dos jardins (Quelônio, 2019) angelehnte Auswahl unter dem Titel Gärten (Axel Dielmann Verlag, 2022).
Michael Kegler, geboren 1967 in Gießen und aufgewachsen in der Nähe von Belo Horizonte, übersetzt seit den 1990er-Jahren Literatur aus dem Portugiesischen. Für seine Arbeit erhielt er unter anderem den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW. Neben Ana Martins Marques übersetzte er in den letzten Jahren Lyrik von Ana Luísa Amaral, Hélia Correia, Al Berto und Yara Nakahanda Monteiro.