Brasilien | Literatur | Nummer 609 - März 2025

Lyrik aus Lateinamerika

Ein Gedicht von Ana Martins Marques

Von Ana Martins Marques

Silêncio

Língua das coisas

Mas também: língua de se falar
com as coisas
e com as próprias palabras

O nome das coisas
quando não falamos delas

Único modo que têm os mortos
de cantar

O que há entre uma xícara e outra xícara
entre uma pedra e uma rosa
entre Vênus e uma cadeira

O modo como soa
uma palavra
riscada

Toda fala nasce com a cicatriz do silêncio,
que foi quebrado

Não há palavra que não seja marcada pelo silêncio
como camisas que secaram
presas ao varal

Por outro lado, frequentemente o silêncio
vem manchado por uma palavra
como um espelho sujo

A forma mais próxima do silêncio é o círculo:
forma geométrica da espera

O rastro que deixou
o animal que não passou

É este o meu nome
quando não me chamas

Cover von Streich dieses Wort / Risque esta palavra (Hagebutte Verlag)

Stille

Sprache der Dinge

Doch auch: Sprache, um mit den Dingen
zu sprechen
und das mit eigenen Worten

Der Name der Dinge
wenn wir nicht über sie sprechen

Der einzige Weg für die Toten
zu singen

Was zwischen einer Tasse und einer anderen Tasse ist
zwischen Stein und Rose
zwischen Venus und einem Stuhl

So wie ein Wort
klingt
das gestrichen wird

Alles Gesprochene kommt mit der Narbe
einer gebrochenen Stille zur Welt

Kein Wort ist nicht von der Stille geprägt
so wie Hemden, die an der Leine
getrocknet sind

Andererseits kommt nicht selten die Stille
befleckt durch ein Wort daher
wie ein schmutziger Spiegel

Die Form, die der Stille am nächsten kommt, ist der Kreis:
geometrischer Ausdruck des Wartens

Die Spur, die ein Tier hinterließ
das nicht da war

Genau das ist mein Name
wenn du nicht nach mir rufst

Ana Martins Marques wurde 1977 in Belo Horizonte geboren und ist eine der beliebtesten zeitgenössischen Dichterinnen ­Brasiliens. Sie hat einen Abschluss in Literatur und promovierte in vergleichender Literaturwissenschaft. Ihre Gedichtbände wurden vielfach prämiert, unter anderem mit dem Preis der Biblioteca Nacional und beim Oceanos-Preis. In deutscher Übersetzung von Michael Kegler erschienen bisher ihr aktueller Gedichtband Risque esta palavra (Companhia das Letras, 2021) als zweisprachige Ausgabe unter dem Titel Streich dieses Wort (Hagebutte Verlag, 2024) und eine an O livro dos jardins (Quelônio, 2019) angelehnte Auswahl unter dem Titel Gärten (Axel Dielmann Verlag, 2022).

Michael Kegler, geboren 1967 in Gießen und ­aufgewachsen in der Nähe von Belo Horizonte, übersetzt seit den 1990er-­Jahren Literatur aus dem Portugiesischen. Für seine Arbeit erhielt er unter anderem den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW. Neben Ana Martins ­Marques ­übersetzte er in den letzten Jahren Lyrik von Ana Luísa Amaral, Hélia Correia, Al Berto und Yara Nakahanda ­Monteiro.


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