Film | Nummer 452 - Februar 2012

Macho oder Mutter?

Olhe pra mim de novo – Auf der Suche nach der eigenen Geschlechterrolle im brasilianischen Nordosten

Dominik Zimmer

„Die kleinen Dinge sind oft die widerstandsfähigsten“ – sagt Sillvyo Lúcio, transsexueller und klein gewachsener Protagonist des Filmes Olhe pra mim de novo („Schau mich von Neuem an“). Im Laufe des 77-minütigen Dokumentarfilms von Kiko Goifman und Cláudia Priscilla nimmt er die Zuschauer_innen mit auf einen Roadmovie durch den brasilianischen Nordosten und hat dabei ausreichend Gelegenheit, seine These zu beweisen.
Sillvyo Lúcio trägt seinen heutigen Namen noch nicht lange. Aufgewachsen in einem strenggläubigen, evangelikalen Elternhaus, war er nach eigener Aussage „zunächst eine Frau, wurde dann lesbisch und schließlich zum Mann“. Seine heutige Identität und seinen Namen – früher hieß er Núcia – hat er sich durch seine Geschlechtsumwandlung vor fünf Jahren bewusst selbst konstruiert. Geblieben ist ihm der unverkennbare Stolz, nordestino (aus dem Nordosten Brasiliens) zu sein. Und seine Tochter Maria Tereza, die er – noch als junge Frau – in der vergeblichen Hoffnung bekam, dadurch den Respekt seiner Eltern zurückgewinnen zu können.
Sillvyo Lúcio ist das, was Brasilianer_innen figura, ein Original, nennen würden. Selbstbewusst und eloquent gibt er im Film den alternativen Reiseführer. Dabei ist es schwer, sich seinem Charme zu entziehen, sogar versucht, über die deftigen Macho-Sprüche hinwegzusehen, die er zum Besten gibt, wenn er über Frauen spricht. Während des etwas konstruiert wirkenden Kurztrips – ohne erkennbaren roten Faden geht es kreuz und quer ohne durch vier nordöstliche Bundesstaaten Brasiliens – trifft Sillvyo Lúcio auf unterschiedliche gesellschaftlich benachteiligte Menschen der Region. Seine Gespräche mit Albinas, Menschen mit Erbkrankheiten, Homosexuellen und anderen Außenseiter_innen haben durchaus Unterhaltungswert. Dennoch lebt der Film vor allem von Sillvyo Lúcios Erzählungen aus seiner bewegten Vergangenheit, die von Ablehnung und Intoleranz seiner Andersartigkeit durch die Eltern geprägt ist. Doch selbst dieses dunkle Kapitel hat seine launigen Seiten: Um der Tochter die Homosexualität auszutreiben, schickte die Mutter sie zu einer Psychologin, mit der Núcia prompt ein Verhältnis begann.
Dramaturgischer Höhepunkt des Films ist Sillvyos Zusammentreffen mit seiner Tochter Tereza, die er nach seiner Geschlechtsumwandlung zum ersten Mal wiedersieht. In eindrucksvollen Dialogen wirbt Sillvyo um Verständnis für seine Entscheidung, ein Mann sein zu wollen. Eine Entscheidung, die Tereza verletzt hat, obwohl sie ihn – im Gegensatz zu seinen Eltern – weiterhin liebt. Ihr Wunsch, die Mutter weiter als solche wahrzunehmen, prallt auf sein Verlangen nach dem Ausleben einer selbst gewählten Identität.
Olhe para mim de novo ist ein interessanter, wenn auch etwas unvollständiger Einblick in das Seelenleben derjenigen Menschen im brasilianischen Nordosten, die jenseits des gesellschaftlichen Mainstreams stehen. Vor allem aber ist es ein sehenswertes Porträt des ungewöhnlichen Menschen Sillvyo Lúcio. Und ein Plädoyer für den Mut, auch gegen Widerstände seinen eigenen Weg zu gehen.

Olhe pra mim de novo („Schau mich von Neuem an“) // Claudia Priscilla/Kiko Goifman // 77 Minuten // Brasilien 2012 // Sektion Panorama

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