Literatur | Nummer 286 - April 1998

Macht Literatur Politik?

Zur neuen Debatte in den Lateinamerika Nachrichten

Markus Müller / Valentin Schönherr

Was hat Literatur mit Politik zu tun? Nicht viel, möchte man auf den ersten Blick meinen, denn für das politische Geschäft sind diejenigen zuständig, die es betreiben – eben die Politiker, von der Regierungschefin bis zum Demonstranten. Bestenfalls sind alle aufgefordert, sich für Politik zuständig zu fühlen, aber eine Sonderrolle für Literaten anzunehmen, liegt zunächst nicht auf der Hand. Dafür bleibt deren Arbeitsfeld gleichfalls weitgehend unbehelligt.
Auf den zweiten Blick stimmt dieses Bild mit der Realität nicht überein. Natürlich greifen Mächtige immer wieder und bis heute durch Zensur in die Arbeit von Schriftstellern ein – und es ist nicht ungewöhnlich, daß sich Schriftsteller direkt, also nicht über den Umweg des Schreibens, politisch betätigen. Aber um dieses direkte Engagement für politische Ziele soll es in der Debatte, die wir mit dieser Ausgabe beginnen, nicht gehen. Wir wollen uns auf das geschriebene Wort beschränken.
„Literatur, jede, ist ganz sicher politisch“, behauptete Günter Kunert kürzlich in einem Artikel (moosbrand 5 / März 1997) – und meinte damit den „Widerstand der literarischen Sprache gegen die Einvernahme der Gehirne durch öffentliche und offizielle Sprachregelungen“. Politisch sei Literatur also nicht im Sinne von „politischem Bekennertum“, sondern indem sie aus der Unterwerfung unter vorherrschende Mechanismen befreit (soweit Kunert).
Darüber hinaus sind Bezüge zu politischen Themen – ob nun direkte oder nur sehr mittelbare – aus literarischen Texten kaum wegzudenken. Mag man „Politik“ weiter oder enger fassen, Teil der Lebenswirklichkeit ist sie allemal. Aber nicht alle Schriftsteller behandeln politische Fragen lediglich als literarische Sujets wie andere Sujets auch. Sie verstehen – so eine sehr spitze, aber bezeichnende Metapher – Kunst als „Waffe“ (Friedrich Wolf) und sich selbst als Krieger. Dafür hat sich der Begriff „Engagierte Literatur“ eingebürgert, auf spanisch literatura comprometida. Literatur dient hier nicht mehr nur dazu, die Welt zu beschreiben und zu deuten, sondern sie zu verändern. Engagierte Literatur hatte die Aufgabe, Menschen von der Notwendigkeit einer Handlung zu überzeugen – etwa indem eine sozial miserable Lage, das Funktionieren eines Unterdrückungsapparates, die Brutalität eines Krieges geschildert werden – und sie zum Handeln selbst zu bewegen. Häufig steht engagierte Literatur im Kontext klarer parteilicher Abgrenzungen, so für die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, gegen Pinochets Diktatur in Chile, für Solidarität mit dem unterdrückten Volk und so weiter.
In Lateinamerika hat engagierte Literatur eine wichtige Rolle gespielt. Erstaunlich viele namhafte Autoren (Miguel Ángel Asturias, Jorge Icaza, Miguel Otero Silva, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, César Vallejo, Pablo Neruda, Jorge Amado, Carlos Monsiváis, Elena Poniatowska, Sergio Ramírez, Roque Dalton…) haben in ihren Werken zumeist explizit Partei ergriffen, haben politische Verhältnisse als veränderungsbedürftig beschrieben und sich selbst als engagierte Schriftsteller betrachtet. Vor allem gegen den „US-amerikanischen Imperialismus“ sah man sich in vorderster Front kämpfen.
Selbstverständlich läßt sich vielen lateinamerikanischen Schriftstellern das Prädikat „engagiert“ nicht antragen. Dennoch, und ohne ungerechtfertigt zu pauschalisieren, hat das Engagement in der lateinamerikanischen Literatur einen besonders guten Stand.
Seit etwa zehn Jahren bahnt sich jedoch ein Wandel an, ja ein radikaler Bruch ist zu bemerken: engagiert im herkömmlichen Sinne schreibt kaum noch jemand. Wohl kritisiert García Márquez in „Nachricht von einer Entführung“ kolumbianische Verhältnisse, wohl rechnet Vargas Llosa in „Tod in den Anden“ unmißverständlich mit der Guerilla Sendero Luminoso ab. Aber die Zeiten, in denen Schriftsteller für oder gegen politische Projekte oder Organisationen dezidiert Partei ergriffen hätten, und zwar mittels ihrer Literatur, diese Zeiten scheinen trotz mancher Ausnahme vorbei.
Zwei Vermutungen stellen wir der Debatte voran, wie dieser sich vollziehende Wandel erklärt werden könnte.
Erstens: Vielleicht ist mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und – für Lateinamerika besonders einschneidend – mit der Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua 1990 diejenige Seite einer bipolaren Realität weggefallen, die zum Engagement besonders ermuntert hatte. Die Totalopposition zum „Yankee-Imperialismus“ ist damit gleichfalls nicht mehr möglich. Wenn in einem Land wie Bolivien oder (beinahe) Guatemala frühere Militärdiktatoren als Präsidenten gewählt werden, kann vom unterdrückten Volk, auf dessen Seite sich Schriftsteller und Leser zu schlagen hätten, nicht mehr problemlos gesprochen werden.
Zweitens: Es geht wieder ein Gespenst um, diesmal ein postmodernes. Das 1978 proklamierte Ende der „Großen Erzählungen“ hat mittlerweile den Zeitgeist ergriffen. Utopien, egal welcher Couleur, sind out. Subjekte, ganz gleich ob als Held, Klasse oder Volk, spielen in diesem Denken keine Rolle mehr. Die Geschichte hat ihr Ende erreicht. Zudem verwischen die nationalen Grenzen, und überhaupt wird allenthalben von hybriden Identitäten geredet. Wofür sollte man sich als Schriftsteller, auch in Lateinamerika, noch engagieren?
Wenn die junge Starautorin Zoé Valdés Fidel Castro diskreditiert, dann ruft sie niemanden zum Widerstand gegen ihn auf, sondern sie plädiert für den Rückzug ins Private. Themen wie Liebe, Erotik, auch Esoterik haben in den Verlagsprogrammen Konjunktur, und Isabel Allende schreibt Kochbücher.
Täuscht dieser Eindruck? Ist die literarische Beschäftigung mit politischen Fragestellungen subtiler geworden? Oder gehen ihr Schriftsteller von heute tatsächlich aus dem Weg? Ist an die Stelle von Engagement ein Bemühen um – unparteiliche? objektive? – Analyse, um Aufklärung getreten?
Es soll also in der Debatte darum gehen, einen Prozeß zu beschreiben und Vorschläge zu seiner Deutung anzubieten, einen Prozeß, der sich in den letzten zehn Jahren vollzogen hat und der besonders für Lateinamerika einige Relevanz besitzen dürfte, eben wegen der vormals starken Prägung der lateinamerikanischen Literatur durch ihren engagierten Impetus.
Eine Art Zusatzfrage könnte sein, ob die Unterscheidung in engagierte und nichtengagierte Literatur überhaupt noch sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Denn die Grenze zwischen beiden ist mitunter außerordentlich schwer zu ziehen und dürfte, wenn sie zu einer Entweder-Oder-Entscheidung auffordert, die Komplexität vieler literarischer Werke stark unterschätzen.
In diesem Heft beginnen wir mit einem historischen Überblick, in dem auch Begriffe näher bestimmt werden, und einem Interview zum Thema mit dem mexikanischen Intellektuellen Carlos Monsiváis.

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