Kolumbien | Korruption | Nummer 571 - Januar 2022 | Straflosigkeit

MACHTERHALT MIT ALLEN MITTELN

Interview mit dem ehemaligen Richter Iván Velásquez Gómez über Straflosigkeit und Korruption in Kolumbien

Iván Velásquez Gómez ist ehemaliger Direktor der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) und ehemaliger kolumbianischer Richter. Der 66-Jährige lebt seit 2019 wieder in Bogotá, wo er die Übernahme zahlreicher staatlicher Institutionen durch die Regierung und Vertraute des derzeitigen Präsidenten beobachtet. LN sprachen mit ihm über die Einflussnahme der Exekutive sowie über Straflosigkeit und Korruption unter der aktuellen Regierung von Iván Duque.

Interview: Knut Henkel

Foto: Knut Henkel

Iván Velásquez Gómez ist ehemaliger Direktor der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) und ehemaliger kolumbianischer Richter. Der 66-Jährige lebt seit 2019 wieder in Bogotá, wo er die Übernahme zahlreicher staatlicher Institutionen durch die Regierung und Vertraute des derzeitigen Präsidenten beobachtet. LN sprachen mit ihm über die Einflussnahme der Exekutive sowie über Straflosigkeit und Korruption unter der aktuellen Regierung von Iván Duque.


Kooptation ist ein Wort, dass Sie zu verfolgen scheint. In Guatemala haben Sie als Direktor der CICIG gegen die Übernahme zentraler Institutionen des Staates durch den „Pakt der Korrupten“ gekämpft, in Kolumbien scheint es derzeit nicht anders. Richtig?
Ja, leider. Diese Regierung von Iván Duque, die sich dem Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla widersetzt, die für politische Gewalt steht, eng verbunden ist mit Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, diese Regierung hat zentrale Institutionen des Staates quasi übernommen. Alle Kontrollorgane, sowohl im finanziellen als auch administrativen Bereich, Strafverfolgung und Generalstaatsanwaltschaft sind in den Händen der Regierung. Bestes Beispiel ist Francisco Barbosa, enger Freund von Iván Duque, der von ihm zum Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Ein anderes ist die ehemalige Justizministerin und Vertraute von Iván Duque, Margarita Cabello Blanco, die nun die wichtigste Kontrollbehörde im administrativen Bereich leitet. Der Rechnungshof, Contraloría, ist in den Händen eines Anhängers der Regierungspartei Centro Democrático. Auch die Defensoría del Pueblo, die Ombudsstelle, ist in den Händen eines Anhängers von Iván Duque und dieses System der Einflussnahme sorgt dafür, dass die Regierung die Straflosigkeit kontrolliert. Das beweist auch der Umgang mit dem 28. April und den über Wochen währenden sozialen Protesten, denen vor allem repressiv begegnet wurde. (siehe LN 564) Dafür gab es die offene Unterstützung des Präsidenten, der damals in Polizeiuniform mehrere Polizeistationen besucht hatte – das ist angesichts der hohen Opferzahlen durch Polizeigewalt Hohn für die Opfer und ein deutliches Signal an die Ermittlungsbeamten. Das ist eine Konstellation, die Straflosigkeit nach sich zieht, sie herbeikonstruiert.

Ein Grund für die Visite der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Anfang Juni.
Ja, genau. Die wurde von der Opposition angeregt, von der Regierung als nicht für nötig erachtet, bis sie dann letztlich einwilligte. Das Argument der Regierung lautete immer wieder, dass wir eine effektive Staatsanwaltschaft hätten. Doch das ist nicht korrekt und diese Haltung hat die Regierung mehrfach eingenommen. Das sorgt dafür, dass Straflosigkeit in Kolumbien genauso gestärkt wird wie die Korruption. Beides elementare gesellschaftliche Probleme.

Das nächste große Problem scheint die Registraduría, das Wahlregister, zu sein. Zwischen den Zahlen des Statistischen Amtes (DANE) und dem offiziellen Wahlregister gibt es eine Differenz von fünf Millionen Stimmen.
Kaum ein Tag vergeht, in dem Angehörige die Sterbedokumente ihrer Angehörigen zeigen, die aber noch im Register der Registraduría auftauchen. Das ist ein gravierendes Problem und wie die Behörden das lösen werden, ist nicht absehbar. De facto handelt es sich um fünf Millionen Stimmen, das heißt auch, dass das Wahlregister seit Jahren aufgebläht war. Kinder, die beweisen, dass der eigene Vater vor 15 Jahren gestorben ist, die Dokumente vorlegen und trotzdem ist er im Wahlregister geführt – das ist kriminell. Hinzu kommt, dass die Beweise, die Stimmenkauf in den letzten Wahlen zu Gunsten von Iván Duque belegen, stichhaltig sind. Nun ist klar, dass Paramilitärs und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez involviert waren und Stimmen gekauft wurden. Viele Details sind durch Audio-Aufnahmen von Telefongesprächen belegt. All das muss untersucht, ermittelt und sanktioniert werden, aber wenn die Staatsanwaltschaft kein Interesse hat, die Ermittlungsbehörden ebenfalls nur begrenzt aktiv werden und die Institutionen der Regierung blockieren, dann wird es schwierig. Das ist in Kolumbien aber die Situation.

Ist die Justiz an die Kette gelegt, hat sie ihre Unabhängigkeit verloren?
Ja, denn die Staatsanwaltschaft ist dem Uribismo (Anhänger*innenschaft des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, Anm. d. Red.) unterstellt. Daran besteht kein Zweifel. Wir entdecken jetzt die Dimension der Falsos Positivos, der hingerichteten Jugendlichen und Männer, die ermordet wurden, um anschließend als gefallene Mitglieder der Guerilla dargestellt zu werden. Doch welche Folgen hat das? Zu wenige.

Nehmen sie den Fall der Kriminalisierung der Primera Línea, der oft aus Studenten und Hausfrauen bestehenden ersten Linie bei den Demonstrationen und Blockaden in Cali, Popayán und anderen Städten des Landes zwischen dem 28. April und Mitte Juli des Jahres. Sie werden jetzt auf Druck der Polizei und des Generalstaatsanwalts kriminalisiert. Doch was ist mit den Opfern der Polizeigewalt, den Menschen, die ein Auge verloren, weil die Tränengasgranaten gezielt in Augenhöhe abgeschossen wurden, was ist mit den Frauen, die vergewaltigt wurden, was mit den Verschwundenen und den rund 80 Toten – wer untersucht all diese Straftaten, denn es waren überwiegend gezielte Straftaten und keine Unfälle?

Die Justiz steht unter Druck, wird in eine einzige Richtung gelenkt. Wer untersucht die Paramilitärs, die an der Seite der Polizei und Armee auf Demonstranten schossen? Die Bilder sind eindeutig.

Wie denken Sie über den Fall der im Jahr 2000 entführten Journalistin Jineth Bedoya – wird das im Oktober 2021 gefällte Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtshofs, in dem der kolumbianische Staat verantwortlich gemacht wird, das Land bewegen, Reformen anzustoßen?
Schwierige Frage, gerade was den Blick in die Zukunft angeht. Das Urteil ist zukunftsweisend, es ist wichtig und sorgt in der Theorie der Verteidigung der Menschenrechte für einen Fortschritt – aber in der Praxis? Welchen Effekt hat es da? Ja, der kolumbianische Staat, ein abstraktes Wesen, wird verurteilt, aber für Straftaten, die vor Jahrzehnten verübt wurden. Genauer: vor 21 Jahren. Was haben die Täter, die Auftraggeber aus Polizei oder Militär zu befürchten – sie werden nicht konkret benannt, was haben sie zu befürchten? Es ist ein symbolisches Urteil, ja, aber es kommt sehr spät und es wird die Auftraggeber nicht ins Schwitzen bringen, sie sind nicht beeindruckt.

Präsident Iván Duque ist sehr unpopulär. Doch er scheint das Land stärker verändert zu haben als seine Vorgänger. Seine Leute werden weiterhin in den Institutionen sitzen, oder?
Die gesamte Regierung Iván Duque, das gilt für wirklich alle Minister, sind sehr unbeliebt. Es ist wahrscheinlich, dass der Uribismo, der in mehreren Parteien, nicht nur im Centro Democrático verankert ist, in den nächsten Wahlen eine Niederlage kassieren wird. Deshalb wird an allen Schrauben gedreht, um das zu verhindern: auch am Ley de Garantías, dem Gesetz, welches Stimmenkauf mit öffentlichen Geldern unterbinden soll – deshalb werden größere, kostspielige Projekte in den Monaten vor den Wahlen nicht gestattet. Ziel ist es, klientelistische Strukturen und Stimmenkauf zu unterbinden und nun hat Iván Duque ein Gesetz vorgelegt, um das Ley de Garantías aufzuheben. Erfolgreich. Nun ist es also möglich große Projekte und Geldmittel vor den Wahlen zu verteilen: das öffnet dem Stimmenkauf Tür und Tor. Dagegen kann jetzt nur noch das Verfassungsgericht einschreiten, aber das dauert mehrere Monate – das ist eine schlechte Botschaft.

Wir können derzeit zusehen, wie versucht wird den enormen Vorsprung eines linken und sehr populären Kandidaten, Gustavo Petro, mit allen Instrumenten zu reduzieren – jedes Mittel ist recht.

Es hat den Eindruck, dass die Kooptation in der ganzen Region zunimmt. El Salvador, Guatemala, Mexiko oder Kolumbien – die Justiz scheint in der Defensive. Initiativen zur Stärkung der Justiz wie die CICIG in Guatemala oder die Mission zur Bekämpfung der Korruption in Honduras (MACCIH) scheinen kaum Früchte getragen zu haben. Richtig?
Wir brauchen derartige Initiativen, in der ganzen Region. Wir brauchen die internationale Unterstützung, die Beobachtung durch Experten, mahnende Worte, wenn Verfassungsrichter wie in El Salvador ausgetauscht werden, Kritik, wenn eine Generalstaatsanwältin nach der Pfeife der Korrupten pfeift wie in Guatemala. Die internationale Aufmerksamkeit, die Kritik ist extrem wichtig und die war zwischen 2016 und 2020 weitgehend verschwunden – vor allem in den USA, die traditionell sehr wichtig in der Region sind. Aber auch andere Regierungen und Bündnisse habe sich sehr bedeckt gehalten. Das war der Entwicklung der Justiz nicht förderlich.

Eine ganze Reihe von Analyst*innen bescheinigen Latein- und Mittelamerika eine Kultur der Korruption entwickelt zu haben. Ist dagegen ein Kraut gewachsen – wie lassen sich die Strukturen dahinter auflösen?
Unstrittig ist, dass es eine Akzeptanz für die Korruption auf Ebene der politischen und ökonomischen Entscheidungsträger gibt und dass der gesellschaftliche Widerstand dagegen zwar durchaus vorhanden, aber nicht stark genug ist. Eine entscheidende Frage ist, ob sich der Einfluss der Politik auf die Justiz, die teilweise den Justizsektor quasi übernommen hat, unterbinden lässt. Da sind wir dann wieder an dem Punkt der Unabhängigkeit der Justiz.

Ein anderes Beispiel aus Kolumbien: Dort hat ein Paramilitär in einem Verfahren erklärt, dass die Gesellschaft nicht für die Wahrheit vorbereitet sei. Die Wahrheit sei so grausam, dass sie kaum auszusprechen sei. Dieser Satz hat mich aufhorchen lassen. Ich bin der Meinung, dass wir uns bewusst werden müssen, wie weit diese Strukturen reichen und dass wir nur mit konsequentem Vorgehen eine Chance haben. Die Unabhängigkeit der Justiz ist dabei genauso wichtig wie ein unabhängiges Mediensystem und eine partizipative Gesellschaft, die sich engagiert. Das sind aus meiner Perspektiven die drei Faktoren, die nötig sind um die Transformation einer klientelistischen, korrupten Gesellschaft in eine demokratische zu ermöglichen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren