Nummer 510 – Dezember 2016 | Venezuela

“MADURO HAT KAUM MEHR ZUSTIMMUNG”

Interview mit dem kritischen Chavisten Nicmer Evans über die politische Krise und Alternativen in Venezuela

Das Referendum zur Abwahl von Präsident Nicolás Maduro ist gestoppt, die rechte Opposition droht mit weiteren Straßenprotesten. Jenseits der zwei großen politischen Lager versucht sich der kritische Chavismus als dritte politische Kraft zu positionieren. Die LN sprachen mit dem Politologen Nicmer Evans über die politische Situation und die Perspektiven jenseits der Polarisierung.

Von Interview: Tobias Lambert
NICMER EVANS ist Politologe und Mitglied von Marea Socialista (Sozialistische Flut). Die ehemalige Strömung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) spaltete sich im Mai 2015 von der Regierungspartei ab. Neben Ex-Minister*innen, Intellektuellen und Aktivist*innen beteiligt sich Marea Socialista an der Plattform zur Verteidigung der Verfassung (Plataforma en defensa de la CRBV), einem Zusammenschluss kritischer Chavist*innen. (Foto: privat)

Herr Evans, wie beurteilen Sie die jüngste Entscheidung des Nationalen Wahlrates (CNE), das Abberufungsreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro vorerst zu stoppen?
Sowohl Justiz als auch CNE folgen offensichtlich den Anweisungen der Regierung. Diese hatte schon vor Monaten versichert, dass es zumindest dieses Jahr kein Referendum geben werde. Regionalgerichte in mittlerweile sieben Staaten haben die erste Unterschriftensammlung aus dem Mai wegen einer Reihe gefälschter Unterschriften für ungültig erklärt. Daraufhin hat das CNE den gesamten weiteren Prozess ausgesetzt. Aber in einem ersten Schritt musste nur ein Prozent der Wahlberechtigten in jedem Staat unterschreiben. Dass diese Anzahl auch ohne gefälschte Unterschriften erreicht wurde, hatte der Wahlrat zuvor selbst anerkannt und daher dem Antrag auf ein Referendum stattgegeben.

Das Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) will ein Referendum notfalls durch anhaltenden Druck auf der Straße erzwingen. Ende Oktober mobilisierte es unter dem Motto „Die Übernahme Venezuelas“ in zahlreichen Städten. Kann die rechte Opposition dauerhaft auf der Straße präsent bleiben?
Insgesamt habe ich große Zweifel an ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Schon am 1. September fand eine enorm große Kundgebung statt. Doch die Leute sind damals nicht gekommen, weil der MUD dazu aufgerufen hat, sondern weil sie die Regierung ablehnen. Als die rechte Opposition zwei Wochen später erneut auf die Straße mobilisierte, ging fast niemand hin. Die Oppositionspolitiker verstehen nicht, dass die Ablehnung der Regierung Maduro weit über die Parteien hinausgeht. Der MUD kann heute die Stimmen der Frustrierten einfangen, weil es keine Alternative gibt, mehr aber auch nicht. Dem Autoritarismus der Regierung setzt er einen parlamentarischen Autoritarismus entgegen.

Sie hatten gemeinsam mit anderen Vertreter*innen des kritischen Chavismus öffentlich erklärt, dass Sie ihre Unterschrift zur Aktivierung des Referendums leisten wollten. Wie kam es dazu, dass Sie in dem Punkt mit der rechten Opposition an einem Strang ziehen?
Ich unterstütze den MUD in keinster Weise. Aber nur weil das Akteure sind, die andere Meinungen vertreten, heißt das nicht, dass sie nicht auch einmal richtig liegen können. Öffentlich zu sagen, dass wir unseren Fingerabdruck abgeben würden, um das Referendum zu aktivieren, war unsere Art auszudrücken, dass wir ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht verteidigen. Dieses wurde durch revolutionäre Kämpfe durchgesetzt. Es geht darum, eine schlechte Regierung vorzeitig abwählen zu können. Und unsere derzeitige Regierung ist eine schlechte Regierung. Maduro hat laut Umfragen kaum mehr Zustimmung im Land, während die Leute Chávez noch immer verehren.

Sowohl Sie als auch Präsident Maduro bezeichnen sich als Chavisten. Was unterscheidet Ihre Interpretation des Chavismus von jener der Regierung?
Um nur ein paar zentrale Punkte zu nennen: Chávez hat immer Demokratie, Protagonismus und die direkte Partizipation der Bevölkerung verteidigt und sich permanent den Wählern gestellt. Maduro hat demgegenüber kaum etwas, um nicht zu sagen nichts zum Aufbau der Demokratie in Venezuela beigetragen. Auch wenn Chávez‘ Persönlichkeit durchaus autoritäre Züge aufwies, war seine Regierung im Gegensatz zu jener Maduros nicht autoritär. Chávez hat der Kritik Raum gegeben und sie ständig in seine Regierungsführung eingebaut. Maduro hingegen gesteht keine Fehler ein und ist nicht offen für Kritik. Und genau deswegen ist der kritische Chavismus entstanden.

Zeitnahe Neuwahlen würden ziemlich sicher zu einem Wahlsieg des MUD führen. Welche politische Rolle kann ein kritischer Chavismus zukünftig spielen?
Es stimmt, der MUD würde heute die Wahlen gewinnen, aber dennoch sind mittelfristig Überraschungen möglich. Umfragen zeigen, dass sich die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung von keinem der beiden großen Blöcke repräsentiert fühlt. Wenn es heute wirklich transparente Präsidentschaftswahlen gäbe, könnte eine dritte Kraft zumindest die politisch gewollte Polarisierung aufbrechen. Das wird der kritische Chavismus zwar nicht alleine leisten, aber eine neue, progressive Linke hat in Venezuela großes Potenzial. Der Aufbau von Alternativen kann jedoch nicht durch Dekrete erfolgen, sondern braucht seine Zeit.

Es scheint, dass die Bewohner*innen der barrios vergleichsweise ruhig bleiben, obwohl sie am ehesten die Kapazität hätten, die Regierung zu stürzen. Woran liegt das?
Es gab dieses Jahr phasenweise täglich lokale Proteste und auch Plünderungen, aber die waren nicht koordiniert. Ich denke, dass mit der Aussetzung des Referendums ein neuer Protestzyklus beginnt, der allmählich an Stärke gewinnen wird. Bis vor kurzem war die Wirtschaftskrise der Hauptgrund auf die Straße zu gehen, doch nun wird die politische Ebene an Bedeutung gewinnen. Die Regierung setzt auf Angst. Die Leute in den ärmeren Vierteln befürchten, von der Verteilung günstiger Lebensmittel ausgeschlossen zu werden.

Wie dramatisch nehmen Sie die Wirtschaftskrise wahr?
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass unsere Leute sterben, weil es keine Medikamente gibt. Niemand kann mehr von einem normalen Arbeitseinkommen leben. Die Bevölkerung zahlt für die ervWirtschaftskrise, die eine korrupte politische Führung verursacht hat, die über Jahre hinweg Reichtümer angehäuft hat. Ich will nicht abstreiten, dass es auch einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung gibt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieser nicht die Hauptursache für die Krise ist. Chávez hatte seinerzeit genauso mit Sabotage seitens der Wirtschaft und Schwankungen beim Erdölpreis zu kämpfen, aber er konnte die Probleme stets überwinden. An der Aufgabe, das einseitig auf Erdöl basierende extraktivistische System zu überwinden, ist allerdings auch Chávez gescheitert. Doch heute liegt der einzige Vorschlag der Regierung darin, mit Hilfe transnationaler Unternehmen den Bergbau auszuweiten. Das wird nicht die Krise lösen, sondern bedeutet weitere Plünderung.

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