Märchenhaftes Santiago
In Der Dieb und die Tänzerin poetisiert Skármeta die chilenische Wirklichkeit
Santiago de Chile, Anfang des 21. Jahrhunderts: Nicolás Vergara Grey, einer der letzten Kavaliersganoven der alten Schule, verlässt nach fünf Jahren Haft dank einer neuerlassenen allgemeinen Amnestie frühzeitig das Gefängnis. Zur gleichen Zeit lässt auch der wegen Pferdediebstahls verurteilte 20-jährige Ángel Santiago die Gefängnismauern hinter sich, in der Tasche den Plan zu einem Riesencoup, den ihm einer seiner Mitinhaftierten anvertraut hat. Sein Auftrag lautet, den genialen Plan dem stadtbekannten und verehrten Panzerknacker Vergara Grey zu überbringen. Noch bevor es zu einem ersten Zusammentreffen zwischen den beiden kommt, lernt Ángel die 17-jährige Tänzerin Victoria Ponce kennen – und verliebt sich in sie.
Anhand von verschiedenen parallel laufenden oder zusammenführenden Erzählsträngen – außer den drei Hauptfiguren besetzen ein korrupter Gefängnisdirektor, Viktorias engagierte Kunstlehrerin, ein Mörder und ein junger Polizist wichtige Nebenrollen – begleitet der/die LeserIn verschiedene Figuren der chilenischen Hauptstadt auf einem Stück ihres Lebensweges. Schon bald wird deutlich, dass der große Coup und die Lebensträume der drei Hauptfiguren nur die vordergründige Handlung für eine Darstellung der chilenischen Gesellschaft bilden.
Das eigentliche Thema des Romans, das sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, ist die von der chilenischen Gesellschaft unverarbeitet gebliebene Militärdiktatur. So wurde Victorias Vater als Oppositioneller von Pinochets Schergen ermordet; der Gefängnisdirektor, der Ángel bei seiner Ankunft im Gefängnis hat vergewaltigen und misshandeln lassen, ist ein ehemaliger Folterer in neuer Uniform, der aus Angst vor Ángels Rache einen Mörder aus dem Gefängnis auf ihn ansetzt. Und bei dem Geld und dem Schmuck, den die beiden Ganoven beim großen Coup erbeuten, handelt es sich um das unangetastete schmutzige Vermögen des ehemaligen Geheimdienstchefs des Diktators, General Canteros.
Der Roman äußert auf diese Weise Kritik an der Korruption und dem mehr oder weniger verdeckten Fortbestehen der alten Strukturen aus den Zeiten der Diktatur Pinochets, die den Staatsapparat nach wie vor beherrschen.
Trotz des ernsten Themas ist die Atmosphäre des Romans jedoch alles andere als düster: Während des Lesens fließt die Handlung wie ein in klaren und sättigenden Farben gedrehter fabelhafter Film Szene für Szene vor dem geistigen Auge des Lesers vorüber. Die einfache, jedoch auf ihre Art sehr poetische und humorvolle Skármeta´sche Sprache bestimmt die Lektüre von Der Dieb und die Tänzerin und versetzt den Leser in ein märchenhaftes Santiago: Die arme Tänzerin, die sich prostituiert, um ihre Tanzstunden bezahlen zu können, trifft auf den jungen, impulsiven Pferdedieb, der auf einem alten Rennpferd durch Santiago reitet. Der galante und kluge Ganove, dessen bisherige Raubzüge ausgeklügelte „Kunstwerke“ waren, bei denen niemals Personen zu Schaden gekommen sind, verlässt das Gefängnis mit dem Vorsatz, ein ehrliches Leben zu beginnen und um die Liebe seiner Familie zu kämpfen. Und dann ist da noch der mehrfache Mörder, dem stets eine Meute Hunde auf den Fersen folgt, die er auf mysteriöse Weise anzieht.
Es ist ein idealisiertes Bild, das sich dem Leser trotz aller tragischen Momente des Romans darbietet. Doch gerade diese märchenhafte Poetisierung der Wirklichkeit macht Der Dieb und die Tänzerin zu einem sprachlich sehr schönen Roman, der durch Spannung und seine liebevoll gezeichneten Charaktere besticht.
Antonio Skármeta: Der Dieb und die Tänzerin. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Piper, München 2005, 398 S., 22,90 Euro.