Editorial | Lateinamerika | Nummer 534 - Dezember 2018

// MÄRKTE STATT MENSCHENRECHTE

Die Redaktion

Die Welt schaut betroffen nach Brasilien. Der rechtsradikale Jair Messias Bolsonaro wird Präsident. Wieder einmal wird mit Entsetzen gefragt, wie das bloß alles geschehen konnte. Gerade im Fall Brasiliens sind die Gründe für diese Entwicklung komplex und vielfältig. Es gibt eine breite und historisch völlig neue rechte Allianz, welche die Krisen und damit verbundene Diskurse geschickt nutzt und zahlreiche Paradigmenwechsel einleiten konnte. Anstatt die Ursachen aber ausschließlich in den Krisen und Entwicklungen innerhalb Brasiliens während der vergangenen Jahre zu suchen, macht es – insbesondere mit Blick auf die Mitwirkung deutscher Unternehmen in der vergangenen brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) – Sinn, auch nach der Unterstützung der deutschen Politik und Wirtschaft zu fragen.

Die Ankündigung, den marktradikalen, zeitweise in Chicago zum Ökonomen ausgebildeten Paulo Guedes zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen zu machen, sorgte für Vorfreude. Für Akteur*innen aus der Wirtschaft wird die Unterstützung des ultrarechten Bolsonaro zu einer für sie vernünftigen Option. Das Duo Bolsonaro/Guedes steht für einen deregulierten Markt, der durch ein repressives, totalitäres System geschützt wird und indem alle Unternehmen privatisiert werden sollen. Die Deutsche Bank ließ sich zu der Aussage hinreißen, Bolsonaro sei der „Wunschkandidat der Märkte“. Das sah die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung offensichtlich ganz ähnlich, denn bis einige Tage nach dem ersten Wahldurchgang berichtete sie noch auf ihrer Internetseite, Bolsonaros Partei durch Kurse für Führungskräfte auf die Wahlen vorbereitet zu haben. Was sie nach laut werdender Kritik jedoch wieder dementierte und versicherte, die Unterstützung nach dem Bekanntwerden von Bolsonaros Kandidatur eingestellt zu haben und lediglich die Webseite nicht aktualisiert zu haben. Bei all den Sorgen um die brasilianische Demokratie wurde das wohl ganz einfach vergessen. Die Börse in São Paulo jedenfalls legte zeitweise acht Prozent zu, als sich Bolsonaros Wahlsieg abzeichnete. Das war der höchste Anstieg der vergangenen zwei Jahre. Die steigenden Kurse sind für Bolsonaro ein Vertrauensvorschuss. Sie stärken aber auch Industrien in Brasilien, die ihn wiederum strukturell, politisch und teilweise auch finanziell unterstützen. Die Agrarindustie beispielsweise ist eine enge Verbündete Bolsonaros.

Bolsonaro erhält auch Legitimität durch die diplomatische Zurückhaltung der Bundesregierung, die ihm zum Sieg gratulierte. Das dürfte der Bedeutung Brasiliens für Deutschland geschuldet sein – immerhin ist Brasilien nur eines von fünf Ländern außerhalb der Europäischen Union, mit denen die Bundesrepublik eine sogenannte strategische Partnerschaft führt. Deutsche Wirtschaftsunternehmen machen etwa zehn bis zwölf Prozent der brasilianischen Industrie aus. Brasilien seinerseits ist Deutschlands größter Handelspartner in Lateinamerika.

Noch weiter als die Bundesregierung gingen deutsche Firmenchefs. Sie offenbarten schon vor der Wahl wenig Vorbehalte gegen Bolsonaro. Einem Bericht der Deutschen Welle zufolge erklärten sechs namentlich nicht genannte Firmenchefs von deutschen Unternehmen, sie erwarteten nach einer Wahl Bolsonaros die Rückkehr von Stabilität und Wirtschaftswachstum. Die Führungsetagen deutscher Firmen treten so in die Fußstapfen ihrer Vorgänger*innen aus den 1970er Jahren. Im Namen des Neoliberalismus und des ungezügelten Wachstums werden die schon vor Bolsonaros Amtsantritt beginnende Verfolgung und Ermordung an Oppositionellen und erklärten Feind*innen durch Bolsonaros Anhänger*innen stillschweigend hingenommen. Anstatt nur entsetzt die Einhaltung von Menschenrechten zu fordern, sollten wir uns fragen, was die wirtschaftsliberalen Werte, die gemeinhin mit Freiheit verbunden werden, eigentlich in ihrer konkreten Umsetzung alles anrichten können.

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