Chile | Nummer 295 - Januar 1999

Manchmal nur ein Augenzwinkern

Der Fall Pinochet sorgt in Chile für politische und mediale Dramen, die große Mehrheit reagiert verhalten

Die Verhaftung Augusto Pinochets, die Abweisung seiner vermeintlichen Immunität durch die Law Lords und zuletzt die Weigerung des britischen Innenministers, ihm das Auslieferungsverfahren zu ersparen, haben bei den Opfern der Diktatur wie bei den bedingungslosen Anhängern des Generals eine Welle der Emotionen ausgelöst und für politische Krisenstimmung gesorgt. Der Autor des folgenden Berichts hat in Chile ein Phänomen beobachtet, das trotz seiner Allgegenwart kaum nach außen dringt: Die meisten ChilenInnen vermeiden das Thema in der Öffentlichkeit.

R. Leuschner

Der Jubel unter den Angehörigen der verschwundenen Verhafteten einerseits, dann der unkontrollierte Wutausbruch des Pinochet-Sohns, Wut und Verzweiflung in den Gesichtern der ihn umgebenden Frauen – das sind Bilder im chilenischen Fernsehen am 25. 11. kurz nach elf Uhr Ortszeit; eben haben die fünf Lordrichter ihr Votum bekannt gegeben. Wenig später Bilder von der Alameda, wo Pinochet-Gegner mit Sekt das Urteil auf offener Straße feiern. Aus dem Versammlungsraum der Pinochetisten, die sich ja eigentlich zum Doppelfest von 83. Geburtstag und erwarteter Freilassung zusammengefunden haben, bricht die Übertragung zunächst ab, als Fotografen und Kameraleute, einheimische wie ausländische, körperlich angegriffen werden.

Medialer Aufruhr, reales Schweigen

Das alles erlebe ich über das Fernsehen mit, einige hundert Kilometer nördlich von Santiago; in unserem Viertel bleibt alles ruhig. Wenig später, bei einem Gang durch Coquimbo und die Nachbarstadt La Serena der gleiche Eindruck: ein Tag wie jeder andere. Nirgends Menschenansammlungen, kein Gespräch im Bus oder sonstige Anzeichen, daß irgendetwas Besonderes vorliege.
Der Aufwand im Fernsehen an diesem Tag ist enorm – mindestens seit neun Uhr morgens laufen Live-Schaltungen auf mehreren Kanälen mit jeweils eigenem Team, die Zentralen schalten vom britischen Parlament zu Pinochets Klinik, in Santiago von den Pinochet-Gegnern zu seinen Anhängern, zurück nach London, stundenlang. Die abendlichen einstündigen Fernsehnachrichten im staatlichen Sender dehnen sich auf fast neunzig Minuten – und keine, nicht eine einzige Nachricht, die sich nicht auf Pinochet bezöge. Ja, es hat weitere Demonstrationen gegeben, Concepción wird genannt – dreißig Studenten oder mehr haben auf dem Campusgelände demonstriert, da es Vermummte gab, schlug die Polizei zu, es gab auch Verletzte – keine weiteren Meldungen. Ich frage bei Bekannten im Norden und Süden nach – wie war’s am Arbeitsplatz, als die Meldung kam? Erstaunlich oft höre ich: Nein, keine Gefühlsausbrüche, manchmal sogar nur ein Augenzwinkern unter gleichgesinnten Pinochet-Gegnern.
Schon Tage zuvor ist mir die unglaubliche Diskrepanz zwischen medialem Aufwand zum Fall Pinochet und öffentlicher Wahrnehmung beziehungsweise Darstellung aufgefallen und unerklärlich geblieben. Niemand greift von sich aus mir gegenüber das Thema auf. Auf meine Nachfrage immer wieder die fast einhellige Erklärung: Weil das Thema konfliktbesetzt ist, wird es, am Arbeitsplatz etwa, gemieden. Viel leichter war es, im gleichen Zeitraum spontane Reaktionen wegen der Krise der Energieversorgung mit täglichen zweistündigen Stromsperren zu erleben: Nicht nur, daß die Konsequenzen unmittelbar täglich spürbar waren – hier konnte man auch über die Ursachen und die Urheber der Krise sprechen, ohne einander wehzutun.

Zerreißprobe für die Concertación

Auf der offiziellen politischen Ebene dominiert das Thema dagegen weiterhin, beherrscht ungebrochen die Medien. Im Getriebe der Regierung beginnt es zu knirschen. Während die Kabinettsmitglieder selbst weiterhin geschlossen agieren, werden zwischen und innerhalb der Parteien der Regierungskoalition Differenzen erkennbar: In den ersten Dezembertagen, während der sozialistische Außenminister José Miguel Insulza in London und Madrid für die Rückkehr Pinochets nach Chile plädierte, schrieben sozialistische Abgeordnete in einem Brief an den britischen Innenminister Straw, daß in Chile die Voraussetzungen für ein Verfahren gegen Pinochet nicht gegeben seien. Unter dem Aspekt Regierungsloyalität ist das natürlich ein Affront – inhaltlich wird ihm nicht widersprochen. Aber über chilenische Justizqualitäten wird nicht debattiert, statt dessen nehmen von den Rechten bis zu den Christdemokraten alle den Brief zum Anlaß, auf die Sozialisten einzuschlagen: Wie wollen sie das Land regieren, wenn sie nicht einmal ihren Parteiladen auf Linie bringen können? Ricardo Lagos, die Kandidatenhoffnung der Sozialisten für die nächste Präsidentschaft, hat sich schwer getan, eine Linie zu finden. Inzwischen plädiert auch er für Pinochets Rückkehr und ein Verfahren gegen ihn im Land, als hätte das eine mehr oder weniger problemlos das andere zur Folge. Kurz, die Sozialisten tun sich schwer, einen Kurs zwischen Loyalität zur Regierung und politischer Überzeugung zu finden. Es gereicht den Christdemokraten zur Ehre, daß auch ein paar ihrer Abgeordneten sich in dieser Frage schwer mit der Parteidisziplin tun.

Altbekannte Drohgebärden

Die (parlamentarische) Rechte hat es einfacher: Sie verlangt die bedingungslose Rückkehr Pinochets, drängt die Regierung zu mehr „Härte“, bietet ihr „patriotisch“ ihre volle Unterstützung an und erkennt in jedem Zweifel der Sozialisten an der Perfektion der chilenischen Demokratie blanken Vaterlandsverrat.
Bislang sind es kleine rechte Gruppen, darunter viele Frauen, die mit spektakulären (Fernseh)-Auftritten den Eindruck erwecken wollen, ohne Pinochets Rückkehr drohe das Chaos. Britische Flaggen wurden verbrannt, Verkehrsadern kurzfristig blockiert. Natürlich reichen ein paar Dutzend Personen und zwei, drei Fernsehkameras für die gewünschte Propagandawirkung. Gezielt werden dabei Gesten aus der Zeit vor dem Putsch ‘73 wiederholt: Sprechchöre fordern die Militärs auf, mehr Härte zu zeigen; jemand schwenkt eine Fahne der längst aufgelösten berüchtigten faschistisch-paramilitärischen Organisation Patria y Libertad; der Staatssekretär des Inneren spricht von rund 500 anonymen Drohungen gegen linke Politiker in der letzten Zeit. Selbstverständlich ergreifen einige besonders bedrohte Abgeordnete Vorsichtsmaßnahmen.
Und das Militär? Sein gegenwärtiges Verhalten scheint bisher niemanden besonders zu beunruhigen. Daß vor allem das Heer sich Pinochet verpflichtet fühlt und sein Oberkommandierender, General Izurieta, im Nationalen Sicherheitsrat gegenüber Präsident Frei die Besorgnis der „familia militar“ ausdrückt, ist sozusagen selbstverständlich und bleibt im Rahmen der Besonderheiten der chilenischen Demokratie. Chilenische Medien vermitteln vom Oberkommandierenden den Eindruck, er habe versucht, der Truppe die Bemühungen der Regierung um Pinochets Rückkehr angemessen zu vermitteln. In der Sonntagsausgabe der großen konservativen Tageszeitung Mercurio, wenige Tage vor Straws Entscheidung, taucht jedoch mehrfach der Gedanke auf, es könne zu spontanen Aktionen innerhalb des Militärs kommen.
Die politische Geographie Santiagos hat bisher verhindert, daß es zu nennenswerten Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Pinochets gekommen ist – die Linke demonstriert im Umfeld des historischen Zentrums, im Bereich der Alameda, die Plaza Italia bildet die östliche Grenze. Die Rechte bleibt bislang vorzugsweise in ihren Oberschichtvierteln. So haben beide Gruppen zwar Zusammenstöße mit der Polizei gehabt, aber – bislang – nicht gezielt miteinander.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren