Nummer 324 - Juni 2001 | Puerto Rico

Massenverhaftungen in Puerto Rico

Gefängnisstrafen für Demonstranten lösen international Proteste aus

Seit die US-amerikanische Marine nach einer mehrmonatigen Pause ihre Schießübungen auf der puertoricanischen Insel Vieques wieder aufgenommen hat, üben Demonstranten in New York und Puerto Rico den zivilen Ungehorsam. In knapp drei Wochen hat die Bundespolizei bereits zweihundert Menschen festgenommen.

Monika Feuerlein

Am 23. Mai wurde der Präsident der puertoricanischen Unabhängigkeitspartei PIP, Ruben Berríos, von einem US-amerikanischen Bundesrichter zu vier Monaten Haft verurteilt. Außer ihm erhielten zwei Abgeordnete des Bundesstaats New York, ein Stadtteilvertreter aus der Bronx und Reverend Sharpton, Pfarrer einer New Yorker Diözese und einstiger Weggefährte von Martin Luther King Jr., Gefängnisstrafen von bis zu 90 Tagen. Ihr Vergehen: Unbefugtes Betreten des militärischen Sperrgebiets auf der puertoricanischen Insel Vieques. Die Verurteilten hatten am ersten Mai ein Loch in den Stacheldrahtzaun zum Truppenübungsplatz geschnitten und sich dort positioniert, wo demnächst wieder Bomben abgeworfen werden sollten. Die Aktion dauerte nur 20 Minuten, dann schritt die Bundespolizei ein und transportierte die Demonstranten ab.
Als „völlig überzogen“ bezeichnete die puertoricanische Gouverneurin Sila Calderón die verhängten Strafen, schließlich handele es sich bei den Delikten nur um „zivilen Ungehorsam“. Zusammen mit ihrem Amtskollegen George Pataki, Gouverneur des Einzelstaats New York, setzt sie sich für die Freilassung der Angeklagten und die sofortige Einstellung der Truppenübungen auf Vieques ein. Calderón, Mitglied der Partido Popular Democratica (PPD) ist seit dem 18. Januar diesen Jahres im Amt und strebt – im Unterschied zu ihrem Vorgänger Rosselló, der den Anschluss Puerto Ricos an die USA forderte – die Beibehaltung des gegenwärtigen Status der Karibikinsel als assoziierter Freistaat an (siehe Kasten). Dieser Status bedeutet jedoch auch, dass sich Puerto Rico unter der Jurisdiktion der USA befindet, und ihr bezüglich eines Verbots der militärischen Manöver die Hände gebunden sind.
Doch der Widerstand und die Proteste gegen die Präsenz der Militärs auf der Karibikinsel mehren sich – in Puerto Rico und in der puertoricanischen Bevölkerung New Yorks. Seit dem 27. April 2001, dem Tag, an dem die Militärs nach einer mehrmonatigen Pause die Wiederaufnahme der Bombardements ankündigten, wurden auf dem Militärgelände rund 200 Demonstranten festgenommen, darunter der US-amerikanische Staranwalt Robert F. Kennedy Jr., der demokratische Abgeordnete im Kongress Louis Gutiérrez und der Schauspieler Edward Olson. 28 Personen demonstrierten im Gebäude der Vereinten Nationen und wurden ebenfalls kurzfristig festgenommen.
Das harte Vorgehen der Polizisten und das unverhältnismäßige Strafmaß im Schnellverfahren, das internationalen Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren nicht entspricht, hat nun auch Amnesty International zur Entsendung eines Prozessbeobachters bewogen.

Tränengas und Schnellverfahren

Augenzeugen zufolge ging die Polizei mit Tränengas und Gummibolzen gegen Unbewaffnete vor, mehrere Personen, darunter Kinder, wurden schwer verletzt. Die Demonstranten wurden ohne Schutz gegen den Regen im Freien festgehalten und durften 24 Stunden keinen Kontakt zu Freunden und Verwandten aufnehmen. Am 30. April wurde einigen Angeklagten, so auch der New Yorker Prominenz, der Prozess gemacht. Der Schauspieler James Olson und Robert Kennedy Jr. kauften sich gegen eine Kaution von 3000 US-Dollar frei, etwa 140 weitere Festgenommene sind noch in Haft.
Seit 1941 der Marinestützpunkt in Vieques geschaffen wurde, protestiert die einheimische Bevölkerung gegen den Lärm der Bomben, die ökologische Zerstörung und die gesundheitliche Bedrohung durch die Streitkräfte. Damals enteignete das Militär rund drei Viertel der 135 km2 kleinen Insel und vertrieb Tausende von Farmern und kleinen Grundstücksbesitzern von ihrem Land. Die meisten der 9.400 Einwohner leben nun eingezwängt zwischen dem Munitionslager im Westen und dem Manöverplatz im Osten von Vieques. Haupteinkommenszweig ist die Fischerei, doch die Fischbestände sind durch die ständigen Bombardierungen und die Verschmutzung des Wassers mit metallischen Rückständen der Geschosse bedroht.
Das Militär schafft auch keine wirtschaftlichen Alternativen, nur etwa dreißig Einheimische finden dort einen Job. Die Arbeitslosigkeit in Vieques liegt mit 50 Prozent weit über dem Landesdurchschnitt, über 72 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Wissenschaftliche Untersuchungen haben mehrmals eine hohe Konzentration von Quecksilber, Arsen, Kadmium und anderen giftigen Metallen im Boden und in den Wasservorräten der Insel vorgefunden. Deswegen wird die Bevölkerung seit einigen Jahren von der Hauptinsel aus mit Trinkwasser versorgt. Die metallischen Munitionsrückstände werden jedoch auch von Pflanzen, Fischen und Muscheltieren aufgenommen und wandern über die Nahrungskette zum Menschen. Ein Großteil der Bevölkerung leidet an Haut-, Lungen- und Bronchialleiden, bereits Kinder sind von Seh- und Gleichgewichtsstörungen betroffen. Die Krebsrate in Vieques übertrifft die der Hauptinsel um 27 Prozent.
Über sechzig Jahre verhallten die Proteste der Bevölkerung von Vieques ungehört. Ein tödlicher Unfall im April 1999 brachte den Wendepunkt: Ein Jagdbomber verfehlte sein Ziel um mehrere hundert Meter. Drei Menschen wurden verletzt, David Sanes, ein ziviler Angestellter der Militärbasis, kam ums Leben. Die Marine setzte bis auf weiteres ihre Manöver aus, unter Aufsicht von Ex-Präsident Clinton wurde eine Beratungskommission aus Vertretern des Militärs und der puertoricanischen Regierung einberufen.

Breite zivile Protestbewegung

Gleichzeitig formierte sich eine breite zivile Protestbewegung humanitärer, ökologischer und pazifistischer Ausrichtung um die Forderung „Frieden auf Vieques“. Studenten, Umweltaktivisten, Fischer, Gewerkschaftler, Frauengruppen und Künstler organisierten Protest-Camps auf dem Sperrgebiet und blockierten wichtige Zufahrtswege. In New York, wo inzwischen die Hälfte der Puertoricaner lebt, und in Kuba fanden solidarische Protestkundgebungen für Vieques statt. Der massive Druck der Protestbewegung veranlasste schließlich, nach 28 Jahren intensiven Lobbyings, das Dekolonisierungskomitee der Vereinten Nationen dazu, eine Resolution für eine Einstellung der Truppenübungen in Vieques zu verabschieden. So wurde erreicht, dass die Marine den bisher abgestrittenen Einsatz von Napalm-Bomben zumindest teilweise eingestand. Mit dem Einsatz des Giftgases verstößt sie gegen die eigenen Satzungen.
Doch die Lobby der Militärs im US-amerikanischen Kongress ist stark. Für sie ist Vieques die „Kronjuwele“ der atlantischen Flottenstützpunkte und unverzichtbar für die nationale Sicherheit. So konnten die Militaristen im Kongress dann auch Anfang letzten Jahres die eingeschränkte Fortsetzung der Schießübungen bis 2003 durchsetzen. Allerdings darf die Marine ab sofort nur Übungsmunition verwenden. Dies schließt zumindest alle Arten von Sprengstoffkörpern aus. Ferner soll nach Ex-Präsident Clintons Direktiven ein lokales Referendum stattfinden, in dem die puertoricanische Bevölkerung über eine weitere Präsenz der Streitkräfte nach 2003 entscheidet. Stimmen die Puertoricaner gegen die Militärs auf ihrer Insel, was bei der derzeitigen Lage sehr wahrscheinlich ist, sieht Clintons Plan eine zeitlich gestaffelte Rückgabe der enteigneten Ländereien vor. Außerdem sollen 40 Millionen Dollar aus Bundesmitteln zur Verfügung stehen, um ökologische Schäden zu beheben und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Ergebnisses zu Gunsten der Marine stehen 90 Millionen Dollar als einmalige Entschädigungszahlung zur Verfügung.

Leben auf der Kronjuwele

Die Puertoricaner sind über dieses Angebot allerdings empört. Fünftausend gingen in einer Protestkundgebung gegen diese Kompromisslösung im Juli 1999 auf die Straßen. „Das Referendum ist völlig undemokratisch. Es wurde von der Marine und für die Marine geschrieben, nicht von der puertoricanischen Regierung. Die Option der Bevölkerung – sofortiges Ende der Bombardements – ist gar nicht vorgesehen,“ heißt es in einer öffentlichen Stellungnahme der an der Protestbewegung beteiligten Organisationen. Und weiter: „Grundlegende Menschenrechte, wie das Recht auf Frieden, dürfen nicht Gegenstand eines Referendums werden.“ In Sila Calderón findet diese Position eine tatkräftige Unterstützerin. Gleich nach ihrem Amtsantritt ließ die puertoricanische Gouverneurin ein Lärmschutzgesetz verabschieden und will, wenn nötig, bis vor das Oberste Bundesgericht ziehen, um die Militärs wegen Lärmbelästigung zu verklagen. Mit dem Slogan „Wir lassen uns nicht kaufen!“ tritt sie öffentlich gegen das für November 2003 geplante Referendum ein.
Die Taktik der Protestbewegung, das Referendum zu boykottieren, birgt allerdings auch Risiken. So könnten, wenn George W. Bush, der neue Präsident im Weißen Haus, Konflikte anzettelt, weitere Argumente für die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Stützpunkts auftauchen. Zwar hat Bush die Mehrheit im Senat vorerst verloren, doch da es in den USA im Unterschied zu Deutschland praktisch keinen Fraktionszwang gibt, kann Bush womöglich auch in Zukunft seine Projekte durchsetzen. Allerdings hat die Machtverschiebung zu Gunsten der Demokraten im Senat auch Auswirkung auf die Bestätigung von Bundesrichtern.
Insgesamt stehen die Aussichten für einen Erfolg der puertoricanischen Protestbewegung besser denn je: Organisationen der sonst so zerstrittenen politischen Lager haben den Schulterschluss vollzogen, und die Widerstandsbereitschaft hat ein bisher einzigartiges Ausmaß erreicht. Die Strategie des unerbittlichen Vorgehens gegen die Demonstranten durch Polizei und Justiz ist nicht aufgegangen. Sie konnte die Aktionen nicht verhindern und hat einflussreiche Politiker sowie von Vertreter aller größeren religiösen Gemeinschaften in New York und Puerto Rico zur öffentlichen Unterstützung der Protestierenden veranlasst.
„Das Foto von Pfarrer Sharpton, zusammen mit ausführlichen Artikeln zur Situation in Vieques findet sich zurzeit in allen US-amerikanischen Zeitungen und Fernsehsendungen,“ freut sich Robert Rabín, ein Sprecher des Komitees zur Rettung und Entwicklung von Vieques: „Wir hätten selbst keine bessere PR-Kampagne auf die Beine stellen können, als es die Marine unfreiwilligerweise durch die Inhaftierung von diesen angesehenen Personen der Bürgerrechtsbewegung getan hat.“ Doch auch von der Protestbewegung sind erste Gewalttaten ausgegangen. So wurde ein Offizier von Unbekannten zusammengeschlagen, die Polizei entschärfte eine Bombe in einem Gebäude des US-Postservice. An der Wand hinterließen die Täter nur das Wort „Vieques“. Die Marine hat unterdessen eine neue Testreihe für den 13. Juni diesen Jahres angekündigt. Es könnte verhängnisvoll für die Protestbewegung sein, wenn sie sich dadurch zu weiteren Gewalttaten provozieren ließe.

KASTEN:
Puerto Rico: assoziierter Freistaat der USA

Seit 1952 ist Puerto Rico assoziierter Freistaat der USA. Damit wurde zwar offiziell der Status als Kolonie beendet, nicht aber die politische und rechtliche Abhängigkeit, die immer noch koloniale Züge trägt. Die Machtbefugnisse des Staates können in letzter Instanz immer noch vom US-amerikanischen Kongress festgelegt werden..
Puertoricaner zahlen keine Bundessteuern, dürfen jedoch auch nicht an US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen teilnehmen und leben unter der Jurisdiktion der USA. Dies erklärt auch die nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt der US-amerikanischen Marine auf ihrem 1941 geschaffenen Truppenstützpunkt Roosevelt Roads, dem größten US-amerikanischen Militärstützpunkt in der Karibik.
Alle Parteien Puerto Ricos machen die Beziehung zu den USA zum Wahlprogramm: Aufrechterhaltung des Status quo, gleichberechtigte Angliederung an die USA, oder die Unabhängigkeit. Während die ersten beiden Fraktionen sich stets die Waage halten, erzielt letztere Option seit Jahrzehnten nur noch fünf Prozent Zustimmung.

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