Megacity im Kaleidoskop
Luiz Ruffatos Roman Es waren viele Pferde liefert scharf beobachtete Szenen über Brutalität, Frust und Schnelllebigkeit
„Ninguém vai entender nada“ – „Niemand wird das verstehen“ – Die Reaktion von Luiz Ruffatos Verlegerin auf sein Manuskript war für den Autor „eher frustrierend“. Doch es sollte anders kommen. Die Leser_innen verstanden sehr wohl. „Es waren viele Pferde“ ist ein präzise beobachteter São-Paulo-„Roman“, der die Megacity scharfsinnig entlarvt. Das Buch wurde zum Bestseller und als eines der bedeutendsten Werke brasilianischer Literatur gefeiert. Von Michael Kegler übersetzt, liegt es jetzt im Verlag Assoziation A vor. Zeit wurde es, denn das Buch ist ein Tipp.
In 69 kurzweiligen „Shortcut“-Szenen rast die_der Leser_in an einem einzigen Tag, am 9. Mai 2000, durch die Megacity São Paulo. Rast vorbei an Fernanda, der Naiven, die Fotos für irgendwelche Wichsvorlagen macht und jetzt an der Straßen-ecke billigen Döner kaut, in der Hand eine Gratis-Brause dazu. Vorbei an einem lethargischen Indio, der sich als Toilettenputzer erniedrigt. Die_der Leser_in betritt noch die dumpfe Wohnung eines Kinderporno-Rings. Ein Bus aus dem verarmten Nordosten rumpelt vorbei, darin eine verhärmte Alte, die Luft abgestanden, die Gedärme eingezwängt. Auf der Avenida wird ein Familienvater überfallen. São Paulos Zentrum ist schäbig und als cracolândia – dort, wo die Crackszene sich trifft – in Verruf. In einem Wohnhaus zetert ein Ehepaar, während die alkoholkranke Françoise noch immer auf die große Filmkarriere in der oberflächlichen Glitzerwelt der Stadt hofft.
Beim Lesen riecht, schmeckt, fühlt man São Paulo, hetzt durch die Straßenschluchten, dringt ins Private der Stadtbewohner_innen ein, ohne sein Sofa verlassen zu müssen. Wird mitgerissen vom Menschenstrudel auf der Praça da Sé, dort „lümmeln sich auf den Stufen der Kathedrale Arbeitslose, Betrunkene, Bettler, Drogensüchtige“. Ruffato malt keine pompösen literarischen Gemälde, er fertigt scharfsinnige Skizzen an. Sein Talent ist seine exakte Beobachtungsgabe, seine Präzision in wenigen Details. Skizzen zumeist vom Kampf der Marginalisierten, Verhärmten, Bilder der Brutalität in dieser in Abgasen erstickenden Stadt. Ruffato dokumentiert den Kampf des Individuums ums Überleben. Oder um ein Minimum an, wenn auch frustriertem, Lebensglück. Dabei reiht Ruffato Dialoge, Geschwätz, Nachrichten auf Anrufbeantwortern, ja selbst Kontakt- und Stellenanzeigen aneinander. Ruffato hat ein Kaleidoskop der urbanen Gesellschaft geschaffen – voller Szenen, die sich rasant drehen. Ohne auf Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung, ja, selbst ohne auf Satzvollständigkeit zu achten, verwendet Ruffato zugleich verschiedene Schrifttypen und Umbrüche. Mit seinem fragmentierten Stil und der graphischen Aufbereitung, ähnlich der poesia concreta, spiegelt Ruffato die Strukturlosigkeit São Paulos wider. Ein „improvisiertes Fingerspiel“ sei sein Buch, so der Autor, der 1961 in Minas Gerais geboren wurde. Und ein „Anschreiben gegen den traditionellen Roman“. Er orientiere sich an der französischen Avantgarde des 19. Jahrhunderts und an Anton Tschechow. Der russische Autor forderte einst, dass man beim Schreiben einer guten Geschichte Anfang und Ende einfach weglassen solle. So auch Ruffato: Seine Figuren verschwinden ebenso unvermittelt wie sie auftreten. Ihr Schicksal währt eine Szene lang, dann reißt der nächste „Shortcut“ sie ins Ungewisse. Denn São Paulo, das sind 22 Millionen Menschen – die sich aber kaum wahrnehmen. Denn die Megacity gewährt keine Zeit zum Innehalten oder Anteilnehmen. Gerade entwickelt sich Mitgefühl für die geisteskranke Frau, die durch Morumbi torkelt, „die arme voll wunden schwarze fingernägel das kleid in fetzen“ – schon bricht die Szene ab. Welches Schicksal erleidet die Frau, was wird aus ihr? Die Antwort bleibt aus, die Stadt drängt, das Buch drängt weiter. Ein Baby in einer Favela, „wie eine Mumie in stinkenden Fetzen“? Im Moloch geht es unter im Straßenlärm.
Luiz Ruffato // Es waren viele Pferde // Assoziation A // Berlin 2012 // 18,00 Euro