Mehr als nur ein Stück Schokolade
Von Regisseur Alejandro González Iñarritu
Schatz ich bin auf dem Weg nach Hause“, „Sieh mal Daddy eine Taube“, „Laura, lass das“ Dann bricht die Nachricht ab. Cristina (Naomi Watts) hält das Telefon in der Hand, während sie auf den Betten ihrer zwei kleinen Töchter Ordnung schafft. Sie lächelt. Ein liebevolles Bild – eigentlich. Die Kamera fährt über ein Bett und hält auf einer Stoffpuppe mit rotem Tuch vor dem Gesicht, die von der Zimmerdecke baumelt.
Im selben Augenblick verabschiedet sich der ehemalige Sträfling Jack (Benicio del Torro) von seinem früheren Chef und steigt in seinen Truck. Links auf dem Armaturenbrett steht eine kleine Jesusfigur. Ein braunes Holzkreuz baumelt vom Rückspiegel herab. Ein Junge steht am Straßenrand und saugt das Laub von den Wegen.
Ein Dritter, ein Mathematikprofessor, sitzt zu Hause. Paul (Sean Penn) ist schwer krank, er wartet auf ein neues Herz. Ihm bleiben nur noch wenige Wochen. Wenn er allein ist, geht er aufs WC, zieht die Sauerstoffflasche hinter sich her, reißt sich den Schlauch aus der Nase und raucht.
In der nächsten Szene liegt ein Mann auf der Erde, er blutet. Eine junge, blonde Frau hält ihn im Arm. Sie schreit „Rufen Sie den Krankenwagen.“ Es ist Cristina. Michaels Nachricht auf dem Handy und der blutende Mann in ihrem Arm – das sind zwei Bilder, zwei Fragmente, zwei Puzzleteile.
Ein Puzzle mit drei Gesichtern
Alejandro González Iñarritu greift in seinem ersten auf Englisch erzählten Film auf die Struktur seines Debüts Amores Perros zurück. Mit 21 Gramm zeigt der Mexikaner einen Film, an dessen Ende drei sehr unterschiedliche Menschen, aber nur eine Geschichte stehen. Ein dramatischer Unfall verbindet das Leben von Cristina, Paul und Jack. Die junge Mutter steht in der Küche und backt Kuchen mit ihren Töchtern, Laura und Kathy. Im nächsten Moment ist sie allein: Kinder und Mann, alle sind tot. Für sie ist es der Augenblick des Absturzes. Für Paul ist es ein Neuanfang, denn er bekommt ein neues Herz.
Alejandro González Iñarritu konzentriert sich auf die extremen Gefühle seiner Protagonisten, deren Ursprünge in ihren komplexen familiären und sozialen Umfeldern liegen
Benicio Del Toro brilliert hier in seiner Rolle als aggressiver Ex-Häftling Jack, der versucht, durch Gott wieder auf den rechten Pfad zu kommen. „Wer dich einmal schlägt, dem halte auch die andere Wange hin“. Jack schreit seinen Sohn fast an.
Benicio del Toro ist als bester männlicher Nebendarsteller für einen Oscar nominiert worden, ebenso Naomi Watts als beste weibliche Hauptdarstellerin. Die Schauspielerin tritt in 21 Gramm ganz aus sich heraus und taucht in das Trümmerfeld der Gefühle einer Mutter, die plötzlich alles verliert. Das Leben der Mutter Cristina, aber auch das der Figuren Jack und Paul ist gezeichnet von Verlusten. Und genau hier liegt das Gewicht des Films. Wie viel wiegt Verlust im Leben eines Menschen? Schnell, fast hektisch geht Alejandro González Iñarritu dieser Frage nach. Die Episoden fliegen über die Leinwand.
Im Unterschied zu Amores Perros gibt der Mexikaner den Zuschauern diesmal ein Rätsel auf, das sich mit logischer Zuordnung nicht lösen lässt. Um dem Film folgen zu können, müssen sie ihrer Intuition vertrauen und sich auf die Intensität der Gefühle einlassen.
Frei von Raum und Zeit
Alejandro González Iñarritu erzählt ohne Chronologie und verleiht damit jeder Szene ein ähnliches Gewicht. Im Vergleich zu einer linearen Erzählung verlieren so manche Episoden an emotionaler Resonanz, weil sie nicht mehr im unmittelbaren Kontext gesehen werden, andere gewinnen. Iñarritu springt zwischen Personen, Orten und Zeiten: vom Schwimmbad in die Kirche, vom Schlafzimmer in den Spirituosen-Laden, vom Krankenhaus in den Partyraum, vom Knast in den Nachtclub. Der Blick auf den Schauplatz offenbart dabei gerade so viel wie nötig. Er ist fast minimalistisch. Erst die Nahaufnahmen, grobkörnige Bilder und eine freihändige Kameraführung verleihen dem Film ein ausdrucksstarkes Gesicht.
In 21 Gramm sprechen die Gesichter der Protagonisten, auch wenn sie schweigen. Mit einem solchen Schweigen beendet Alejandro González Iñarritu sein Drama. Das letzte Bild zeigt einen einsamen, kalten Ort. Es ist ein Ort voller Erinnerung, Erinnerungen an Cristina, Paul und Jack – vor allem an ihre sprechenden Gesichter.
21 Gramm ist keine leichte Kost. Es ist ein Film, mit einem Gewicht, das am Ende doch mehr wiegt als ein Stück Schokolade.
21 Gramm, Regie: Alejandro González Iñarritu, Mexiko 2003; 125 Minuten; Filmstart in Deutschland ist der 26. Februar 2004.