Kuba | Nummer 437 - November 2010

Mehr Effizienz ist alternativlos

Neue Reformen rufen Hoffnungen und Ängste in der Bevölkerung hervor

Der von Regierungschef Raúl Castro seit zwei Jahren eingeschlagene Kurswechsel in der Beschäftigungspolitik wird in Kuba vielerorts diskutiert. Die Ankündigung des kubanischen Gewerkschaftsverbandes CTC, dass bis zum 1. April kommenden Jahres 500.000 Staatsangestellte ihren Arbeitsplatz verlieren werden, hat die Diskussionen weiter angefacht.

Rainer Schultz

Ana Maria, seit zehn Jahren Köchin in einem staatlichen Gästehaus, macht sich Sorgen: „Wie soll ich künftig meine laufenden Telefon- und Stromkosten zahlen?“ Der Hintergrund ihrer Besorgnis:  Kubas großes Experiment auf dem Arbeitsmarkt ist angelaufen. Im August wurden in der Nationalversammlung verschiedene Arbeitsgesetze vorbereitet. Seit dem 1. Oktober sind diese neuen Maßnahmen nun wirksam. Ihre sozialen Folgen, das genaue Ausmaß und die konkreten Abläufe kann niemand vorhersehen, sie stellen ein Novum in der sozialistischen Republik dar.
Die 43-Jährige Köchin gesteht, dass sie seit Bekanntwerden der Pläne pünktlicher zur Arbeit kommt und mehr Avocados schält als je zuvor. „Das Essen wird so gut schmecken, dass mich einfach niemand entlassen kann“, fügt sie mit wiedergewonnenem Selbstvertrauen hinzu.
„Es ist das Zusammenspiel zweier Faktoren“, erklärt der Ökonom Omar Everleny gegenüber den Lateinamerika Nachrichten den Zeitpunkt dieser Reformen: „das Ende des noch von Fidel Castro eingeleiteten ’Kampfs der Ideen’“ – ein mit der Rückkehr des kubanischen Flüchtlingsjungen Elián González einsetzender Reideologisierungsprozess – „und die nicht mehr aufschiebbaren Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise für Kuba selbst.“ Präsident Raúl Castro formulierte es im April dieses Jahres so: „Wir können nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen.“ Die Staatseinnahmen waren zwar seit 1994 – nach einem Einbruch Anfang der 1990er Jahre – wieder stetig gestiegen, trotzdem reichte es nicht aus, um das umfassende und weiter wachsende Sozialsystem zu finanzieren. Als 2008 dann drei Hurrikane über die Insel fegten, und Ernte, Infrastruktur und Häusern schwer zusetzten, wurden die Folgen der globalen Wirtschaftskrise deutlich sichtbar: weniger Tourismuseinnahmen und Auslandsüberweisungen sowie die Verteuerung der Lebensmittelimporte. Darüber hinaus erlitt Nickel – inzwischen Kubas Hauptdiviseneinbringer nach den Dienstleistungen (insbesondere Tourismus) – einen Preisverfall von bis zu 70 Prozent. Eine weitreichende Haushaltssanierung wurde unumgänglich: 2009 wurden daraufhin 40 Prozent weniger Waren importiert, viele Regale in den bescheidenen Geschäften der Insel sehen deshalb heute noch leerer aus.
Obwohl zuletzt sogar der Mindestlohn noch einmal um 100 Peso erhöht wurde, begann die Regierung zugleich mit Einsparungen bei vielen Haushaltsposten. Dabei wurden erstmals sogar zwei Säulen der Revolution als gefährdet eingestuft. O-Ton Raúl Castro: „Ohne eine solide und dynamische Wirtschaft (…) wird es unmöglich, den erreichten hohen Standard im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu erhalten (…).“ Die Lage ist also ernst. Viele „Gratisleistungen“ seien nicht mehr adäquat, so der 78-jährige General. Gemeint ist damit beispielsweise die legendäre libreta, jene Lebensmittelrationierung, die jeder kubanischen Familie seit 1962 einkommensunabhängig ein Mindestmaß an Kalorienzufuhr sichert, sei es der Krankenschwester oder dem Betreiber eines Privatrestaurants.
Das Zentrum der Reformen besteht aus drei Hauptteilen: Abbau „überflüssiger“ Arbeitskräfte und ihre Zuweisung in prioritäre Bereiche, vor allem Landwirtschaft und Bauwesen, in die zunehmend investiert wird. Zugleich wird versucht, die Produktivität dadurch zu erhöhen, dass man den Lohn wieder stärker an Ergebnisse koppelt und sich das Gehalt von der staatlichen Unterstützung für die nichtarbeitende Bevölkerung wesentlich unterscheidet. Castro: „Die Menschen müssen wieder die Notwendigkeit spüren, zu arbeiten.“ Die dritte Komponente der Reformen stellt die Ausweitung des Privatsektors dar.
Dieser letzte Teil ist besonders kontrovers: einerseits allseitig begrüßt, andererseits bleiben Unsicherheiten. Ivonne, die vor 15 Jahren begann ein Zimmer ihrer Wohnung zu vermieten und und vorher als Friseurin arbeitete, bringt es auf den Punkt: „Woher sollen die Leute das Geld, die Einrichtung und die Erfahrung nehmen, plötzlich einen Friseursalon zu führen?“ Sie selber habe den Beruf aufgegeben, weil sie einfach keinen Zugang zu den internationalen Entwicklungen mehr fand. „Eine Freundin hat es geschafft“, erzählt sie etwas neidisch. „Sie hat jahrelang einen kleinen Privatsalon in Havannas reichem Stadtteil Miramar betrieben und fast alle kubanischen Fernsehstars gehen zu ihr. Dadurch bekommt sie Produkte aus der ganzen Welt, die immer auf dem neuesten Stand sind.“ Die Regierung kündigte im Fernsehen an, Mikrokredite für Neugründungen zur Verfügung stellen zu wollen. Bisher gibt es dazu aber noch keine genauen Informationen.
Die acht MitarbeiterInnen des Friseursalons ‚Primavera‘ im mittelständischen Bezirk Vedado beraten schon jetzt, wie sie es arrangieren können, kollektiv die Führung ihres Salons zu übernehmen. Es fehle ihnen vor allem an Geld, um neue Geräte zu kaufen, aber auch an Managementerfahrung, so Raquel, die seit acht Jahren hier Haare schneidet, färbt und Bräuten die Frisuren zurechtlegt.
Der Salon wirkt museal. Die Haartrockner sind US-amerikanische Produkte aus den 50er Jahren. Eine Kundin schwärmt vor, wie chic dieser Salon damals war und kramt dabei ein vergilbtes Foto ihrer Hochzeitsfrisur aus ihrem ebenso alten Lederportemonnaie hervor. Sie reicht es mit einer aufmunternden Geste in die Runde der anderen wartenden Damen, die hier mit viel Geduld und ohne Termin auf ihren turno warten. Ihre Geste zeigt sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.
Mit Ausnahme der kleinteiligen Landwirtschaft verstaatlichte Kuba im Zuge der „revolutionären Offensive“ 1968 sämtliche verbliebene Privatinitiativen. Erst 1993 wurden wieder neue Lizenzen unter strengen Auflagen für bestimmte Tätigkeiten vergeben, darunter Privatrestaurants und Zimmervermietung. Die Idee dahinter war, Ressourcen zu mobilisieren und Bedürfnisse zu befriedigen, denen der Staat nicht mehr nachkommen konnte. Die Zahl der cuentapropistas – auf eigene Rechnung arbeitende KubanerInnen – ist seitdem jedoch wieder von über 200.000 auf rund 140.000 gesunken, darunter übrigens nur jede Fünfte eine Frau. Viele Lizenzen wurden nicht erneuert oder wegen Regelverstößen eingezogen. Raúl Castro kündigte nun an, die „irrationalen Regulationen“ zu beseitigen.
Insgesamt arbeiten noch immer 85 Prozent der circa fünf Millionen ökonomisch aktiven KubanerInnen im staatlichen Bereich. Vor kurzem veröffentlichte die Parteizeitung Granma eine Liste mit den 178 Tätigkeiten, die ab sofort wieder legal ausgeübt werden dürfen. „Der gewaltige Unterschied zu vorher“, so Georgina, „ist, dass die Leute im Privatsektor jetzt neben ihren Einkommenssteuern Sozialabgaben zahlen müssen, damit sie später eine Rente beziehen können.“ Neu ist auch, dass sowohl Räume als auch Arbeitskräfte gemietet werden können.
„Viele der Gesetzesänderungen sind eigentlich nur die ‚Legalisierung’ der Dinge, die wir hier ohnehin schon kannten“, meint Enrique, Dozent an der großen Informatikhochschule UCI. „Mit dem Unterschied, dass der Staat jetzt durch die neuen Steuern Geld daran verdient.“ Georgina, die für den kubanischen Gewerkschaftsverband CTC in der Provinz Havanna den Reformprozess begleitet, erklärt die juristischen Vorteile dieser Legalisierung der kleinen Servicearbeiten: „Wenn Du jetzt einen Klempner brauchst, kannst Du davon ausgehen, dass er registriert ist und Dir eine Rechnung für die Reparatur schreibt. Wenn etwas nicht funktioniert, kannst Du es reklamieren. Das war bisher nicht möglich.“
Auf den Leserbriefseiten der Granma wird seit Wochen über viele Aspekte der Reformen, darunter auch das notwendige Ausmaß diskutiert. Die Lesermeinung von Curbelo Dacosta, dass im Sozialismus nur die „grundlegenden Produktionsmittel“ in Staatshänden bleiben sollen, ist dabei repräsentativ. LeserInnen sorgen sich aber auch über den Selektionsprozess, mithilfe dessen über den Verbleib am Arbeitsplatz entschieden werden soll. Das zentrale Kriterium sei die persönliche Eignung betonte Präsident Castro in seiner Parlamentsrede, damit Diskriminierungen verhindert werden können. Georgina erklärt wie dies geschieht: Eine Expertenkommission wird eingerichtet, in der neben der Leitung des betreffenden Betriebs, Gewerkschaftsmitglieder und drei für diesen Zweck gewählte Belegschaftsmitglieder feststellen, wer unabdingbar ist. Alle anderen müssen entlassen werden. Betroffen sei vor allem „unproduktive Arbeit“ wie Wachpersonal und zusätzliche Bürokräfte.
Carmita, Sekretärin für internationale Studierende an der Uni Havanna, erzählt ihrer Freundin am Telefon diesmal nicht, dass es ihr gut geht, sondern dass in der Univerwaltung 150 Leute ihren Arbeitsplatz verlassen müssen. „Dann werde ich wohl Zuckerrohr schneiden oder Unkraut jäten“, witzelt sie mit rauchiger Stimme in den Hörer und meint damit die Absicht der Regierung die dringend benötigte Lebensmittelproduktion mithilfe der freigesetzten Arbeitskräfte anzukurbeln. „Nein, mach dir keine Sorgen, Limai, wenn ich nicht mehr diese Papierberge abarbeite, bricht der Laden hier zusammen”, hört man die 47-jährige Sekretärin vor dem Auflegen sagen.
Trotz der weitreichenden Folgen – erstmals wird die Zeit des Arbeitslosengeldes auf maximal sechs Monate festgelegt – trifft Georgina auf viel Verständnis, wenn sie auf Versammlungen die Notwendigkeit dieser Maßnahmen vorstellt: „Meine Kollegen verstehen, dass es keine Alternative dazu gibt.“ Dennoch steht derzeit vielen KubanerInnen Ungewissheit ins Gesicht geschrieben.

* Bei den nur mit Vornamen erwähnten Personen handelt es sich um Pseudonyme, da die Befragten um Anonymität baten.

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