Berlinale | Nummer 548 - Februar 2020

MEHR SKEPSIS ALS AUFBRUCHSTIMMUNG

Trotz neuer Leitung bleibt bei der Berlinale 2020 vieles beim Alten

Die diesjährige Berlinale findet vom 20. Februar bis 1. März mit einer neuen Festivalleitung statt. Im Programm sind wieder jede Menge Filme aus Lateinamerika zu finden. Während des Festivals werden die Lateinamerika Nachrichten laufend aktuelle Filmrezensionen, Meldungen und Fotos vom Festival veröffentlichen. Folgt uns auf lateinamerika-nachrichten.de sowie auf Facebook, Twitter und Instagram!

Von Dominik Zimmer


© Aline Motta

Grund zur Hoffnung bestand durchaus. Nach 18 Jahren ging die Ära des Festival-Leiters Dieter Kosslick mit der letzten Berlinale zu Ende. Dieser hatte sich um das Filmfestival verdient gemacht, konnte in den letzten Jahren aber weder für größere Anziehungskraft noch für Innovation sorgen. Auf der neuen Doppelspitze aus künstlerischem Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, die von einer dreiköpfigen Findungskommission (in der letztere praktischerweise selbst saß) ernannt wurde, ruhten hohe Erwartungen. Schlanker sollte die 70. Ausgabe der Berlinale werden, übersichtlicher die Sektionen, das künstlerische Niveau sollte wieder steigen. Und natürlich sollte der Anspruch an Diversität und politische Relevanz, den die Berlinale sich mehr als alle anderen großen Filmfestivals auf die Fahne schreibt, weiter erfüllt werden.

Endgültige Schlüsse sollte man vor Beginn der Veranstaltung natürlich noch nicht ziehen. Aber ein wenig Enttäuschung macht sich schon breit beim Blick auf das, was personell und programmatisch bisher passiert, oder besser, nicht passiert ist. Da wäre zunächst Jeremy Irons als Jury-Präsident. Es ist bereits 20 Jahre her, dass eine Jury-Leitung zwei Mal hintereinander von einer Frau verantwortet wurde, von mehr geschlechtlicher Diversität gar nicht erst zu sprechen. Nun wurde es mit Jeremy Irons mal wieder ein alter, weißer Mann aus Europa, der in den letzten Jahren auch noch mit sexistischen und homophoben Äußerungen (von denen er sich später allerdings distanzierte) negativ aufgefallen war. Bei den Sektionen tat sich bis auf die Abschaffung der indigenen Native-Reihe und der Einführung des neuen Formats Encounters, bei dem es schwer fällt, darin mehr als ein Panorama mit Preisverleihung zu erkennen, auch nicht besonders viel. Kurzfilme und Perspektive Deutsches Kino wurden im Umfang stark verringert, ansonsten geht es im Grunde weiter wie bisher. Für einen echten Neuanfang ist das zumindest unter Diversitätsgesichtspunkten deutlich zu wenig.

Die aktuellen Proteste in Chile sind unerwähnt

Auch, was das lateinamerikanische Kino auf dem Festival angeht, setzen sich eher die Trends der letzten Jahre fort. Das betrifft vor allem die starke regionale Konzentration der Filme. Von den bislang bekanntgegebenen 33 Beiträgen aus oder über Lateinamerika stammen 26 aus den Mercosur-Staaten. Brasilien ist dabei an nicht weniger als 18 beteiligt – eventuell ein letzter kreativer Höhepunkt, bevor die drastische Kürzung der Filmförderung durch das Bolsonaro-Regime ihre Wirkung zeigt. Chile ist „Country im Fokus“ des diesjährigen European Film Market (EFM), im Festival laufen allerdings nur zwei Beiträge mit chilenischer Beteiligung: eine Montage eines 50 Jahre alten Films und eine multinationale Produktion. Zudem wird für den EFM ein „exciting program“ versprochen, die aktuellen Proteste in Chile aber mit keiner Silbe erwähnt. Offensichtlich hat hier die Partnerschaft mit den chilenischen Regierungsinstitutionen einen höheren Stellenwert als die aktuell brisante politische Situation (siehe S. 30), die sicher auch viele Filmschaffende beschäftigt.

All das soll aber nicht die Vorfreude auf die Filme aus Lateinamerika schmälern, bei denen es sicher wieder einige Perlen zu entdecken gibt. Im Wettbewerb waren die Titel bis Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht, auf mehr als ein oder zwei Filme aus Lateinamerika sollte man sich allerdings keine Hoffnung machen. Dafür nehmen zwei Beiträge aus dem Subkontinent an der neuen Sektion Encounters teil, für die auch Preise vergeben werden. Isabella (Argentinien) handelt von einer jungen Schauspielerin in Buenos Aires, die über mehrere Jahre versucht, die Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück zu ergattern. In Los conductos (Kolumbien) versucht der lange von der Polizei gesuchte Protagonist sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Die beim Publikum beliebte Panorama-Sektion ist mit sechs Filmen aus Lateinamerika gut besetzt, vier von ihnen stammen aus Brasilien. In Cidade Pássaro macht sich der nigerianische Musiker Amadi auf die Suche nach seinem in São Paulo verschwundenen Bruder. Der trockene Wind, Vento Seco, bringt mit dem Neuankömmling Maicon Abwechslung in das eintönige (Liebes-)Leben von Sandro in einer ländlichen Kleinstadt. O reflexo do lago ist eine Dokumentation über eines der größten Wasserkraftwerke der Welt im Amazonasgebiet. Den Einwohner*innen der Region wurde durch die Schaffung des Stausees Entwicklung versprochen, stattdessen haben sie bis heute paradoxerweise nicht einmal Zugang zu elektrischen Strom. Auch Nardjes A. ist eine politische Dokumentation, in der der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz eine junge algerische Aktivistin bei den Protesten in ihrem Heimatland begleitet. Aus Argentinien kommen die Beiträge Un crimen común, in dem der Sohn einer Hausangestellten tot aufgefunden wird, nachdem er in der Nacht zuvor nicht ins Haus gelassen wurde und Las mil y una, ein Coming-of-Age-Film, in dem Renata und Iris in einem feindseligen Umfeld ihre Zuneigung zueinander entdecken. Die meisten lateinamerikanischen Langfilme, acht an der Zahl, hat in diesem Jahr das Forum zu bieten. Vom uruguayischen Regisseur Alex Piperno kommt der Film Chico ventana también quisiera tener un submarino, in dem ein junger Matrose auf einem Kreuzfahrtschiff einen Gang entdeckt, der zu einem Apartment in Montevideo führt. El tango del viudo ist der erste und erst jetzt posthum vollendete Film des chilenischen Exil-Regisseurs Raúl Ruiz, ein Fiebertraum, der mit den Zeitebenen spielt. In Hombre entre perro y lobo (Kuba) verkörpern vier zurückgekehrte Veteranen aus dem Angola-Krieg die letzten Samurai der Revolution in den kubanischen Bergen. Luz nos trópicos handelt vom französischen Erfinder Hercule Florence, der seine Wahrnehmung der Welt während einer Amazonas-Expedition im 19. Jahrhundert völlig verändert.

Interessante Filme bietet traditionell die Jugendfilm-Sektion Generation

Dazu gibt es vier Dokumentarfilme: Responsabilidad empresarial vom argentinischen Doku-Spezialisten Jonathan Perel, über politische Spannungslinien in der jüngeren Geschichte; Medium (ebenfalls Argentinien), ein Porträt der 91-jährigen Pianistin Margarita Fernández; Ouvertures (Haiti), eine dokumentarische Recherche über den Anführer der Sklav*innenaufstände, die zur haitianischen Revolution führten und Vil Má (Brasilien), der sich mit der Sado-Maso-Künstlerin Vilma Azevedo aus São Paulo befasst.

Interessante Filme aus Lateinamerika bietet traditionell die Berlinale-Jugendfilm-Sektion Generation. Auch hier kommen drei Beiträge aus Brasilien. In Alice Júnior wird eine Trans*person in einer Schule in der brasilianischen Provinz zunächst gemobbt, verschafft sich mit Hilfe der YouTube-Community aber schließlich Respekt und Akzeptanz. Irmã ist ein experimentelles Roadmovie über zwei Schwestern, deren Vater sich nicht um sie kümmert und deren Mutter im Sterben liegt. Meu nome é Bagdá spielt im Skater*innenmilieu in São Paulo, wo Frauen auf der Straße und in Clubs gegen den dominanten Machismo kämpfen müssen. In Mamá, Mamá, Mamá (Argentinien) versucht Cléo in einem heißen Sommer gemeinsam mit ihren Cousinen den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten. Der einzige mexikanische Beitrag der diesjährigen Berlinale ist Los Lobos: Zwei mexikanische Brüder sind mit ihrer Familie in die USA gezogen, ihr Traum von Disneyland kollidiert dabei mit der Realität. Schließlich gibt es noch den deutschen Dokumentarfilm Perro, der in Nicaragua spielt und einen jungen Mann begleitet, der bedingt durch den Bau des „Gran Canal“ seine Heimatregion verlassen und ein neues Leben in der Stadt beginnen muss. Im Programm sind außerdem noch die Kurzfilme El nombre del hijo (Argentinien), El silencio del río (Peru), Rã (Brasilien; alle in der Sektion Generation) und Playback. Ensayo de una despedida (Argentinien; Sektion Berlinale Shorts) und folgende Filme/Performances in der Sektion Forum Expanded: Apiyemiyekî?, Jogos Dirigidos, (Outros) Fundamentos, Vaga Carne, Letter from a Guarani Woman in Search of the Land Without Evil (alle Brasilien), Jiíbie (Kolumbien) und Imaginary Explosions, episode 2, Chaitén (Chile).

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