Migration | Nummer 354 - Dezember 2003

Menschen in Bewegung

Die Geschichte Lateinamerikas ist zum großen Teil auch eine Geschichte der Migration

Seit der Eroberung Lateinamerikas 1492 prägen Wanderungsbewegungen den gesamten amerikanischen Kontinent. Die indigene Bevölkerung wurde unter der Kolonialherrschaft vielfach zwangsumgesiedelt oder zur Flucht gezwungen. Sklaven aus Afrika wurden auf die Plantagen in der Karibik und Brasilien verschleppt. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die große Einreisewelle Europäischer SiedlerInnen ein …

Franziska Wetzlar

Als hoffnungsvoller Neubeginn für ArbeitsmigrantInnen und Abenteuerlustige, als Zufluchtsstätte für europäische Juden und Jüdinnen und politisch Verfolgte des NS und später auch für NS-VerbrecherInnen war Lateinamerika bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts Ziel vieler europäischer Auswanderer und Flüchtlinge. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Teil des amerikanischen Kontinents jedoch zum Auswanderungsgebiet entwickelt.

Migration als Überlebensstrategie
Im Jahr 2000 verließen schätzungsweise 15 Millionen Menschen Lateinamerika. Die Hälfte davon migrierte in die USA, wo Hispanics als die am schnellsten anwachsende Minderheit inzwischen einen Bevölkerungsanteil von 13 Prozent ausmachen.
Die größten Wanderungsbewegungen im 20. Jahrhundert sind jedoch innerhalb Lateinamerikas zu finden: Mangelnde Einkommensmöglichkeiten in ländlichen Gebieten treiben nach wie vor Unzählige in die explodierenden Städte. Andere ziehen als WanderarbeiterInnen saisonbedingten Jobs in der Agrarindustrie hinterher. In den 70er und 80er Jahren waren es darüber hinaus Militärdiktaturen in Südamerika und gewaltsame Konflikte in Zentralamerika, die viele aus ihren Herkunftsländern und -regionen vertrieben. Neoliberale Wirtschaftsreformen zwingen vor allem seit den 90er Jahren viele in die neuen meist informellen Verdienstmöglichkeiten im Export- und Dienstleistungssektor. Die Migration einzelner oder mehrerer Familienmitglieder in Regionen und Länder, die solche Arbeitsplätze bieten, wird eine wichtige Überlebensstrategie für ganze Familien und Gemeinden.
Die Auswirkungen dieser Wanderungen sind weitreichend. Migration hat Einfluss auf Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften, auf die wandernden Personen und Familien im Speziellen, wie auch auf globale Politik und Kultur. Einerseits schotten sich Europa und die USA gegen Armutsflüchtlinge ab. Die International Organisation of Migration (IOM) wirbt auf ihrer Webseite mit der Steuerung von Migration zum angeblichen „Vorteil für alle“. Andererseits preisen Literatur- und Kulturwissenschaften die globalen, nomadischen oder Diaspora- Identitäten der MigrantInnen, die das Globale Dorf näher zusammenrücken lassen.
In diesem Schwerpunkt wollen wir Einblicke in verschiedene Aspekte und Räume der Migration in Lateinamerika und zwischen den Kontinenten beleuchten.

Migration strukturiert Räume
Internationale Arbeitsmigration aus dem ländlichen Raum hat eine Restrukturierung der sozialen Ordnung der Herkunftsregionen zur Folge. Das Phänomen der Veränderung der Geschlechterbeziehungen durch die fast ausschließlich männliche Abwanderung sowie die veränderten sozialen und politischen Rollen der zurückbleibenden Frauen analysiert Stefanie Kron am Beispiel einer guatemaltekischen Gemeinde in ihrem Artikel „Doppelbelastung und neues Selbstbewusstsein“.
Aber auch Stadtbilder verändern sich. Orte, die Neuankömmlingen in einer Stadt zugewiesen werden, repräsentieren oft auch die soziale Ordnung: Ghettos und Parallelgesellschaften entstehen. Der Artikel „Bürgerkrieg und Flucht: Vertreibung in Kolumbien“ von Thomas Taraschewski greift dieses Thema auf. Migration über Ländergrenzen hinweg kann neue Grenzregionen entstehen lassen. Das Stadtportrait „Tijuana, Ende und Anfang einer Legende“ von Georg Neumann veranschaulicht das Phänomen von „Mexamerica“.

llegalität, Rassismus und sexuelle Gewalt
Die Integration von Neuankömmlingen in einer Gesellschaft ist von den politischen, sozialen und kulturellen Rechten abhängig, die einer Migrantengruppe zugestanden werden. Häufig jedoch landen die Hinzugekommenen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie und haben mit Rassismus und einer systematischen Entrechtung zu kämpfen.
Da die legale Arbeitsmigration immer stärker limitiert und in Europa höchstens noch als Expertenmigration geduldet wird, besitzen viele Eingewanderte keinen legalen Aufenthaltsstatus. Manche Branchen bei uns leben jedoch von der Billiglohnarbeit illegalisierter MigrantInnen, die aufgrund fehlender Papiere keine Rechte besitzen, sich gegen die Ausbeutung zu wehren.
Die Probleme, mit denen Illegalisierte in unserer Gesellschaft konfrontiert sind, beschreibt Anne Becker in ihrem Artikel über die Kampagne der Gesellschaft für Legalisierung, ein Netzwerk von antirassistischen und Migranten-Gruppen.
Sandra Grüninger blickt dagegen auf Chile. Peruanische ArbeitsmigrantInnen leiden dort besonders unter Rassismus und Ausbeutung. Immer mehr Peruanerinnen übernehmen eine Stelle als Hausangestellte in chilenischen Familien – eine Arbeit, die oft der Leibeigenschaft ähnelt. Diese Dienstleistungen der häufig noch jungen Mädchen bedeuten aber nicht nur fehlende Arbeitsrechte und eine große Abhängigkeit von ArbeitgeberInnen. Für die Frauen und Mädchen besteht zudem die Gefahr, Opfer sexueller Gewalt zu werden oder an einen Zuhälter zu geraten, der sie zur Prostitution zwingt. „Im roten Licht des Grenzstreifens“ zwischen Guatemala und Mexiko von Philipp Burtzlaff, Inga Rahmsdorf und Kathrin Zeiske beleuchtet diese Problematik.

Transnationale Räume entstehen
MigrantInnen bleiben meist in vielfältiger Weise ihrer Herkunftsregion verbunden. Sie lassen transnationale Netzwerke entstehen, so dass Migration nicht mehr nur die Wanderung einzelner von einem Wohnort zum nächsten bedeutet. Zwischen zwei Orten und deren BewohnerInnen bilden sich zahlreiche Verflechtungen. Freunde, Bekannte und Verwandte ziehen den ersten Auswanderern nach, andere gehen zurück. Einer der wichtigsten Aspekte dieses Austausches sind die Rücküberweisungen der Weggezogenen. Diesen so genannten „Dollars aus der Ferne“ geht Knut Henkel nach. Für viele Länder Lateinamerikas gehören die Rücküberweisungen inzwischen zu den wichtigsten Deviseneinnahmequellen.
Die Gemeinschaft, die MigrantInnen mit geliebten Menschen über weite Distanzen aufrechterhalten, bedeuten für sie eine selbst organisierte Sicherheit, sowohl auf sozialer wie finanzieller Ebene – gerade auch für die „Zurückbleibenden”, die auf staatliche Unterstützung in der Regel nicht zurückgreifen können. Für viele der „Nachzügler“ sind diese Kontakte entscheidend bei der Wahl ihres Ziellandes.
Durch die Einflüsse der Wahlheimat einerseits und des Herkunftslandes andererseits halten MigrantInnen nicht starr an ihrer originären Kultur fest, sondern bilden oft neue Identitäten und kulturelle Ausdrucksformen aus.

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