Kolumbien | Nummer 601/602 - Juli/August 2024

Menschen statt Kühe

Die geplante Agrarreform der Petro-Regierung ist mehr als nur Rhetorik

In Kolumbien steht Kühen mehr Land zur Verfügung als Bäuer*innen: 80 Prozent der Agrarflächen sind im Besitz von einem Prozent der Bevölkerung und mehr als die Hälfte der Menschen, die Ländereien bewirtschaften, besitzt kein eigenes Land. Laut einer Oxfam-Studie von 2018 ist Kolumbien damit das Land mit der ungleichsten Landverteilung in Lateinamerika. Diese extreme Konzentration von Grund und Boden führt zu Auseinandersetzungen – und ist damit ein wesentlicher Faktor für den bis heute andauernden bewaffneten Konflikt. Das versucht die erste linke Regierung Kolumbiens nun zu ändern.

Von Tininiska Zanger Montoya & Adriana Yee Meyberg

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Mehr Kühe als Menschen Landbesitz ist in Kolumbien stark konzentriert (Foto: Aris Gionis via Flickr (CC BY-NC 2))

Eine der erklärten Prioritäten der Regierung unter Präsident Petro ist es, eine Agrarreform durchzusetzen, die im ersten Punkt des Friedens­abkommens zwischen der FARC-Guerrilla und der Santos-Regierung 2016 beschlossen wurde. Laut dem Abkommen sollen drei Millionen Hektar von Großgrundbesitzer*innen umverteilt und Landtitel über sieben Millionen Hektar Land an die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung vergeben werden. „Die Agrarreform ist der Weg, um die Gewalt auf dem Land zu vermeiden”, schrieb Petro im Juni auf der Plattform X. Dabei geht es nicht nur oder vorrangig um die Landrückgabe an intern Vertriebene. Dafür ist das Landrückgabeprogramm des 2011 verabschiedeten Opfergesetzes zuständig. „Landrückgabe ist keine Landreform. Sie ist einfach nur Gerechtigkeit“, so Petro. „Bei der Landreform geht es darum, dass Landlose oder Bauern mit zu wenig Land Landtitel bekommen. Und das geschieht durch eine Änderung der Grundbesitzverhältnisse.”

Um die ambitionierten Pläne der Regierung besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der ungleichen Landverteilung in Kolumbien, die ein Erbe der spanischen Kolonialzeit ist. „Der König oder sein Delegierter vergaben die Ländereien an die Kolonisatoren. Diese wurden von Generation zu Generation weitergegeben und bleiben so in den gleichen Händen”, erklärte der Lateinamerikaforscher Juan Guillermo López von der Freien Universität Berlin den LN. „Wir haben es in Kolumbien noch nicht geschafft, ein Kataster (Register über die Landbesitzverhältnisse, Anm. d. Red.) einzurichten. Oft haben Kleinbauern informell Land gekauft, sie haben keine Eigentumstitel. Es ist also sehr schwierig nachzuweisen, welches Land wem gehört, wenn es um die Agrarreform geht. Das ist das große Landproblem”, so López. Diese unklaren Besitzverhältnisse führten im Zusammenspiel mit einer gescheiterten Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, dem bewaffneten Konflikt und illegalem Landkauf infolge paramilitärischer Gewalt zu einer stetig größer werdenden Landkonzentration. Die Folge: Millionen von landlosen Bäuer*innen. Die Bemühungen um die Umverteilung von Land begannen vor fast einem Jahrhundert mit den liberalen Reformen von Präsident Alfonso López Pumarejo im Jahr 1936 und jenen von Präsident Alberto Lleras Camargo im Jahr 1961. Wären sie umgesetzt worden, hätten sie einen bedeutsamen Einfluss auf die Landverteilung gehabt. Ihr Erfolg war jedoch sehr begrenzt – teils aus konzeptionellen Gründen und teils, weil sie auf den erbitterten Widerstand jener gesellschaftlichen Gruppen stießen, die bis heute von diesen Ungleichheiten profitieren. Eine weitere Reform sah 1994 mit einer staatlichen Deregulierung und verschiedenen Freihandelsabkommen die neoliberale Wirtschaftsöffnung im Land vor. Diese ließ den Agrarsektor schutzlos zurück und Kolumbien entfernte sich mehr und mehr von einer Produktions- und Subsistenzwirtschaft. Es folgten ein rasanter Anstieg im Bergbau- und Wasserstoffsektor, ebenso wie beim Import von Agrarprodukten, die die kleinbäuerliche Bevölkerung größtenteils selbst hätte produzieren können. Diese konnten im freien Markt nicht mithalten, auch angesichts der fehlenden Infrastruktur, der Gewalt im Land und dem fehlenden staatlichen Schutz. Auf jeden Versuch einer Agrarreform folgte eine (gewaltvolle) Gegenreform, die zu mehr Landkonzentration führte.


Landbesitz bedeutet wirtschaftliche und politische Macht

In Kolumbien bedeutet Landbesitz vor allem eines: wirtschaftliche und politische Macht. Wer nach feudaler Art landlose Arbeiter*innen die eigenen Ländereien bewirtschaften lässt, hat die Kontrolle über sie. Großgrundbesitzer*innen beeinflussen daher unter anderem Wahlergebnisse und die regionale Politik. Eben deshalb steht die Landfrage im Mittelpunkt des jahrzehntelangen Konflikts in Kolumbien.

Dabei wird der größte Teil der potenziellen Anbauflächen gar nicht genutzt – und wenn, dann hauptsächlich für den Export: Kolumbien verfügt über 11,9 Millionen Hektar Agrarfläche. Davon werden nur 3,9 Millionen Hektar bewirtschaftet. Ein Großteil liegt dagegen brach, ist nicht wirtschaftlich ertragreich und wird für die extensive Rinderzucht genutzt. Im Durchschnitt steht auf einem Hektar Land in Kolumbien etwas mehr als eine halbe Kuh. Denn Reichtum entsteht hier nicht durch Landwirtschaft, sondern durch Spekulation: Landbesitz ist eine Kapitalanlage – das reale Geschäft der Großgrundbesitzer*innen.

Eben diesen „unproduktiven Ländereien“ will die Petro-Regierung entgegentreten – und macht sich damit mächtige Feinde. Eine Agrarreform widerspricht den Interessen der herrschenden Klasse in Kolumbien, traditionell Besitzerin des Landes und bis vor kurzem mit ihren Vertreter*innen stets an der Spitze des Staates. Während dem Präsidentschaftswahlkampf verbreitete die heutige Opposition die Lüge, Gustavo Petro würde Land, Eigentum, Häuser und Unternehmen der gesamten Bevölkerung enteignen.

Dabei steht der gesetzliche Rahmen schon seit fast einem Jahrhundert. Rechtlich gilt: Wer in Kolumbien Land besitzt, muss dieses produktiv nutzen, es muss eine „öffentliche Funktion“ erfüllen und darf kein Spekulationsobjekt sein. Ist das nicht der Fall, hat der Staat das Recht, diese Ländereien zu enteignen. Aus eben diesem Grund betreiben Großgrundbesitzer*innen Viehzucht. „Wenn ein Großgrundbesitzer eine Kuh hält, gilt er bereits als Viehzüchter. Das Problem ist also, dass sie eine einzige Kuh auf fünf Hektar stellen können und damit zeigen, dass sie das Land produktiv nutzen”, erklärt der Forscher Juan Guillermo López. Die Funktion der Rinder ist also nicht vorrangig deren Vermarktung. Sie erfüllen lediglich die Rolle der Platzhalter und Wächter über den Landbesitz.

Die Bemühungen der Regierung um eine umfassende Agrarreform begannen mit einer politischen Vereinbarung mit dem Viehzüchterverband (Fedegán) im Oktober 2022. Die Vereinbarung über den Staatsankauf von drei Millionen Hektar zu Marktpreisen ist ein wichtiger Meilenstein, denn seit jeher stellt sich der mächtige Verband gegen jede Landreform. Jose Felix Lafaurie, Präsident des Verbands, und Petro sind seit Jahren erbitterte Gegner. Fedegán steht zudem historisch in Verbindung mit Anti-Restitutionsarmeen und rechten paramilitärischen Gruppen.

Mit dem millionenschweren Verkauf würde Fedegán zum ersten Mal eine Agrarreform unterstützen. Zwar entbindet die Vereinbarung den Verband von seiner historischen, sozialen und rechtlichen Verantwortung, das Land zurückzugeben. Sie könnte jedoch relativ schnell greifbare Ergebnisse garantieren und das Risiko gewaltsamer Opposition reduzieren. Ihre Umsetzung gestaltet sich allerdings schleppend: Seit der Unterzeichnung der Vereinbarung bis Mai 2024 hat Fedegán erst 821.114 Hektar Land zum Kauf angeboten, von denen nur 208.512 brauchbar sind – das entspricht etwa sieben Prozent des Gesamtziels. In vielen Fällen sind die angebotenen Grundstücke unfruchtbar, schwer zugänglich und abgelegen, oder die Legitimität des Erwerbs ist nicht gewährleistet. Und auch nach dem Kauf gibt es weiterhin Verzögerungen bei der Übergabe der Ländereien.

Für die Reform greift Petro auch auf Mechanismen zurück, die bereits seit 30 Jahren festgelegt, jedoch nie umgesetzt wurden. Dazu gehört das Nationale System für Agrarreformen. Darin sind Ziele verankert, die weit über die Landverteilung hinausgehen. Es handelt sich um ein umfassendes Projekt zur ländlichen Produktivität, das auf einer gerechten Struktur des Besitzes von Land und Produktionsmitteln basiert: Durch Ausbau der Infrastruktur, Industrialisierung und Wertschöpfung vor Ort, Anbindung an die Märkte, freiwillige Substitution von Koka-Anbaukulturen durch Nahrungsmittelproduktion, Investitionen in Bildung und Gesundheit sowie Zugang zu Krediten sollen die Bedingungen geschaffen werden, damit Bäuer*innen Subsistenzwirtschaft betreiben und Überschüsse verkaufen können. Dadurch soll ein produktiver und technologischer Schwung in den kolumbianischen Agrarsektor gebracht werden, damit das Land seine Ernährungssouveränität wiedererlangt.

Eine Grundlage dafür existiert bereits: Die Bauernschutzzonen (ZRC) sind selbstverwaltete Gebiete, in denen der Staat die kleinbäuerliche Bevölkerung als Rechtssubjekte anerkennt und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und so auch ihrer traditionellen Lebensweise garantiert. In diesen Zonen sind Obergrenzen für Landbesitz festgelegt, die je nach Bodenbeschaffenheit und Marktanbindung variieren. Der rechtliche Rahmen für die ZRC wurde im Gesetz 160 von 1994 festgelegt. „Die Zonen wurden während der Uribe-Regierungen als Guerrilla-Hochburgen stigmatisiert und blockiert. Auch während der Duque-Regierung hatten sie keine echte Unterstützung. Die haben sie erst mit Petro erfahren”, so Juan Guillermo López. Gegenwärtig gibt es 14 solcher Schutzzonen, sieben davon wurden erst in Petros Regierungszeit anerkannt

Kampf gegen die Ungleichheit Auch Kleinbäuer*innen sollen eine Chance gegen Großgrundbesitzer*innen haben (Foto: MinAgricultura y Desarrollo Rural retrieved from Presidencia)

Bedeutende Schritte nach vorn, aber Gegenwind im Kongress

Trotz gewaltigen Widerstands sind bereits bedeutende Fortschritte in der Agrarreform zu beachten. Im Juni 2024 wurde die Anerkennung von Kleinbäuer*innen als Rechtssubjekte im Kongress beschlossen. Diese Gesetzesänderung hebt ihre Rolle als zu schützende politische Subjekte hervor, die eine aktive Rolle in der Agrarreform spielen. „Die bäuerlichen Gemeinschaften haben eine besondere Beziehung zum Land, die auf der Nahrungsmittelproduktion beruht”, so das Gesetz. Auch sollen sie dadurch Rechte auf vorherige Befragungen bekommen, die zuvor nur Angehörigen indigener Gemeinschaften galten.

Am selben Tag stimmte die Senatskammer der Einrichtung einer Agrar- und Landgerichtsbarkeit (JAR) zu. Die Entscheidung gilt nach sechs Jahren als bedeutendster Fortschritt bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Die JAR soll spezialisierte Richter*innen in konfliktträchtigen Gebieten installieren und den Zugang der Landbevölkerung zur Justiz verbessern. Solle der Frieden auf dem Land durch den Rechtsweg erreicht werden. „Somit können alle Streitigkeiten, die wir über Landrechte, Brachland und öffentliches Eigentum haben, bearbeitet werden“, so die inzwischen ehemalige Agrarministerin Jhenifer Mojica. Allerdings muss dafür noch ein weiteres Gesetz durch den Kongress gebracht werden, welches die Zuständigkeiten der Agrargerichte definiert und schnellere Verfahren zur Streitbeilegung festlegt. Das Projekt trifft momentan auf starken politischen Widerstand. Die taktischen Verzögerungen der Opposition könnten das Projekt letztlich scheitern lassen, was das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung in die Institutionen erschüttern würde.

Insgesamt wurden bis Mai 2024 laut dem Agrarministerium 1.065.109 Hektar Land für die Agrarreform gewonnen. Diese Fläche setzt sich aus gekauftem Land, formalisierten Landtiteln sowie Land zusammen, das der Staat von Drogenhändlern beschlagnahmt hat. Kritiker*innen der Regierung heben die langsame Umsetzung der Umverteilung von Land und der Vergabe von Landtiteln hervor. Fakt ist jedoch auch, dass die landlose kleinbäuerliche Bevölkerung, historisch Opfer des Konflikts, zum ersten Mal von einer Regierung anerkannt wird und sich ein neues Narrativ in Bezug auf die extrem ungerechte Realität der Akkumulation von Land durchsetzt.

Petro-Regierung legt Grundsteine

Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Im Juni 2024 wurden Landtitel von 800 Hektar an 35 Familien in El Aro in der Region Ituango vergeben. Am 27. Oktober 1997 hatte das Paramilitär in der Gemeinde ein Massaker verübt, das die Vertreibung von mehr als tausend Kleinbäuer*innen zur Folge hatte. Der Interamerikanische Menschenrechtshof verurteilte den kolumbianischen Staat 2006 und verpflichtete ihn dazu, die Opfer von El Aro zu entschädigen. Das Urteil war bis jetzt von allen Regierungen ignoriert worden. Weitere über 2.000 Hektar Land, die zuvor von der Mafia beschlagnahmt wurden, wurden im Juni an 181 Familien in den Regionen Bolívar, Sucre und Cesar übergeben. Die Gebiete, die stark unter Gewalt und Landraub gelitten haben, sollen nun den Landwirt*innen und Friedensunterzeichner*innen zugutekommen. Im Mai 2024 hat die Regierung in sieben Departamentos über 3.000 Hektar kollektive Landtitel an afro-kolumbianische Gemeinschaften formalisiert. 1.046 Familien profitierten von dieser Maßnahme. In Santa Bárbara de Punto im Departamen­­to Magdalena vergab die Regierung Kleinbäuer*innen 658 Hektar Land, das sie zuvor von einem Viehzüchter gekauft hatte. Zweifellos steht die Landfrage im Mittelpunkt des Konflikts in Kolumbien. Deshalb ist die Agrarreform eine Voraussetzung für einen zukünftigen Frieden. Es wird immer deutlicher, dass die Petro-Regierung in ihrer Amtszeit lediglich die Grundsteine für die Agrarreform legen kann. Ihr langfristiger Erfolg oder Misserfolg hängt von der Kontinuität eines progressiven politischen Projekts ab. Selbst wenn alle im Friedensabkommen festgelegten Ziele der Agrarreform erreicht werden würden, hätte die kleinbäuerliche Bevölkerung noch nicht genug Land pro Kopf, um davon würdevoll leben zu können. Eines steht zumindest fest: Kolumbiens aktuelle Regierung macht nach Jahrzehnten der negativen Entwicklungen einen ersten Schritt, damit in Zukunft Menschen statt Kühe über die Felder verfügen.


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