Land und Freiheit | Nummer 295 - Januar 1999

Menschen teilen Rechte und Visionen

Replik auf den Artikel „Marketing der Menschenrechte“

Er habe über das Ziel hinausgeschossen, wirft Vorstandsmitglied von FIAN / Deutschland Florian Hundhammer Ulf Baumgärtners Artikel in der letzten LN-Ausgabe vor und nimmt dazu wie folgt Stellung.

Florian Hundhammer

Menschenrechte sind nicht teilbar – so heißt die Botschaft der „Allgemeinen Erklärung“ von 1948. Reichtum und Land sind gerechter zu verteilen – so lautet die Maxime der Solidaritätsbewegung seit vielen Jahren. Was aber bedeutet das für jede(n) einzelne(n) von uns? Einige laufen politische Institutionen an, fordern mit höflicher Beharrlichkeit vertraglich zustehende Rechte ein. Andere stürmen schwungvoll los, propagieren ihr originäres Recht, Villen und Paläste selbst einnehmen zu dürfen. Und manchmal schießt einer, weil wohl frustriert, auf seiner Jagd nach der Gerechtigkeit über’s Ziel hinaus. So wie vor einem Monat an dieser Stelle geschehen.Eigentlich gäbe es genügend gemeinsame Erfahrungen in der Solidaritätsbewegung. Zum Beispiel die, daß die Hoffnung der Mehrheit in Lateinamerika auf eine menschenwürdige Existenz bisher unerfüllt blieb; daß sich trotz jahrelangem Krieg um Land kaum was am Leben in Hunger und Armut geändert hat. Wir müssen uns eingestehen: Die Revolution, die wir von hier aus gerne hätten mittragen wollen, ist nicht realisiert worden. Dafür suchen einige ihre Ziele nun in der Verwirklichung der sozialen Menschenrechte zu erreichen. Könnten diese nicht vielleicht den bewaffneten, revolutionären Kampf für Agrarreformen ersetzen?
Zunächst einmal: Sich mit Menschenrechten zu befassen, setzt eine vorherige Sensibilisierung für sie voraus, ein Bewußtsein über die verschiedenen Rechte, die jedem Menschen zu eigen sind. Wer über dieses Thema schreibt, offenbar aber nicht fähig oder bereit ist, Menschenrechtsverletzungen als solche zu erkennen oder gar anzuerkennen, wird betroffenen Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte schwerlich zur Seite stehen können. Zudem gerät, wer für sich selbst keine menschenrechtliche Sichtweise beansprucht (was selbstverständlich legitim ist), leicht in Verwirrung über die gebräuchlichen Kategorien. Deutlich wird das, als sich der Autor, Ulf Baumgärtner, um eine Abhandlung über das mehrfach zitierte Wort „Vorstellungen“ bemüht. Tatsächlich jedoch bezeichnet es nur zwei Handlungsoptionen: sozialrevolutionäre Motivation versus argumentatives Eintreten für Menschenrechte. Und es zeigt ein Gegensatzpaar auf, nämlich einerseits die schon etablierten, individuellen bürgerlich-politischen Abwehrrechte und andererseits die in der öffentlichen Akzeptanz noch nachgeordneten sozialen Gewährleistungsrechte, die sich meist auf Bevölkerungsgruppen beziehen.

Menschenrechte als Argumente

Bei beiden Arten von Menschenrechten wird der Staat als völkerrechtlicher Garant betrachtet, der im Falle der Nichtverwirklichung bzw. Verletzung seinen Verpflichtungen nachzukommen hat und eventuell anzuklagen ist. Gerade im lateinamerikanischen Kontext wird sichtbar, wie unmittelbar bürgerlich-politische und soziale Menschenrechte in Zusammenhang stehen, einander in ihrer Verwirklichung bedingen: In El Salvador und Brasilien, wenn wegen Verschleppung von Agrarreformen für die Bevölkerung keine ausreichende Ernährungsgrundlage geschaffen ist und dann bei Landbesetzungen Menschen verhaftet und ermordet werden; in Kolumbien und Zentralamerika, wenn die Regierungen auf (Blumen-) Plantagen beziehungsweise in Maquilas die ständige Verletzung von Arbeits- und Freiheitsrechten durch in- und ausländische Unternehmen tolerieren; in Brasilien und Chile, wenn im Rahmen von Projekten der Energieerschließung (etwa Staudammbau) Zwangsumsiedlungen ohne Entschädigung durchgeführt und so angestammte Rechte indigener Gruppen vom Staat selbst mißachtet werden.
Das Engagement von FIAN (Food First Informations- und AktionsNetzwerk) in allen diesen Ländern basiert auf der Überzeugung, daß Kinder, Frauen und Männer wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen – die sich zunehmend aus einem neoliberalen Denkschema speisen – Hunger leiden müssen. FIAN spricht deshalb vom „Menschenrecht, sich selbst zu ernähren“, welches häufig aus dem Partikularinteresse einiger weniger heraus ganzen Bevölkerungsgruppen vorenthalten wird. Ein bloßes „Recht auf Nahrung“ könnte hingegen bereits dann als verwirklicht definiert werden, wenn bei den Betroffenen Lebensmittelspenden eingetroffen sind.

Menschenrechte für die Revolution

Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage: Wozu braucht die Agrarreform im Zeitalter der Menschenrechte noch eine soziale Revolution? Über die „Effektivität“ letzterer ist hier vor einem Monat wortgewaltig philosophiert worden. Konkret ausgesagt wurde dabei nichts, stattdessen undifferenziert über die Wirksamkeit von sozialen Menschenrechten im heutigen Lateinamerika spekuliert. Tatsache ist, daß LandarbeiterInnenorganisationen, bäuerliche Gewerkschaften und Landlosenbewegungen vielerorts ihr Recht auf Land einfordern und auf die Umsetzung bereits verabschiedeter Agrarreformgesetze pochen. FIAN ist zur Begleitung ihrer Aktivitäten bereit, auf verschiedenen Ebenen, je nachdem, was den PartnerInnen vor Ort aktuell sinnvoll und effektiv erscheint. Das Ziel ist, eine Gegenmacht aufzubauen, das heißt den Druck auf politische EntscheidungsträgerInnen im Land soweit zu erhöhen, daß der unrechtmäßige, nicht legitimierte Einfluß von wirtschaftlichen Akteuren und GroßgrundbesitzerInnen zurückgedrängt werden kann. Im übrigen hat internationale Anteilnahme (Stichwort: Eilbriefaktionen) für diejenigen, die in Lateinamerika selbst um ihre Rechte und um Landbesitz kämpfen, eine häufig lebenswichtige Schutzfunktion.

Gleiches Land für alle?

FIAN beruft sich bei seinem Handeln primär auf die UNO-Konvention zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Entsprechend muß es im Kampf für Agrarreformen darum gehen, für die Betroffenen soviel Land (und Produktionskredite, etc.) zu erreichen, daß eine menschenwürdige, ausreichende, eigenständige Ernährung gewährleistet ist. Mögliche Forderungen wie „Gleiches Land für alle!“ kann FIAN vom Selbstverständnis und Mandat her als Organisation nicht mittragen, einzelne Mitglieder gleichwohl schon. Das bedeutet: Soziale Menschenrechte lassen sich im Dienst eines Kampfes für Land und Freiheit durchaus einsetzen. Sie können innerhalb ihres argumentativen Hintergrundes an einer solidarisch begründeten Revolution teilhaben. Und zwar weltweit, indem wir hier und unsere PartnerInnen dort eine gemeinsame Vision verfolgen und gerechtere Alternativen zum neoliberalen Dogma entwerfen.

Diskreditierung von Menschenrechten

Daher mutet es zynisch an, wenn – wieder ein Verweis auf den Autor vor einem Monat – Menschen in anderen Teilen der Welt die Kompetenz zu eigenständigen, verantwortlichen Entscheidungen bei ihrem Kampf für Land abgesprochen wird. Wird ihnen keine eigene Rechtspersönlichkeit eingeräumt, können folglich ihnen zugefügte Menschenrechtsverletzungen gar nicht ernstgenommen werden. Müssen aber nicht die, die sich hier engagieren, denjenigen gewissen Respekt zollen, deren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit mit Repression und Mord quittiert wird? Ebenfalls unverständlich ist die Schlußfolgerung, soziale Menschenrechte deswegen zu diskreditieren, weil auch US-Präsidenten sie für sich vereinnahmen möchten. Gerade wenn Menschenrechte als exklusive Rhetorik von Staatsmännern mißbraucht zu werden drohen, bietet sich die Chance, deren phrasenhafte Bekenntnisse mit verbindlichen Inhalten zu füllen, die es dann konsequent einzuklagen gilt. Mehr als fragwürdig erscheint schließlich der Versuch, der möglichen Schlagkraft menschenrechtlicher Argumente jegliche Relevanz abzusprechen, nur weil sich ihre Trägerorganisation nicht in das gewünschte ideologische Muster integrieren lassen will. Soll hier die Herrschaft eines gesinnungsethischen Dogmas etabliert werden, wonach nicht mehr allen das Recht zukommen darf, sich zu Solidarität und Verantwortungsbewußtsein zu bekennen?

Verwirklichung von Solidarität

Das kürzliche Vernetzungstreffen der El Salvador-Gruppen hierzulande hat einmal mehr gezeigt: Die Ausprägungen von Solidaritätsarbeit sind zahlreich, ihre Handlungsansätze höchst verschieden, viele Zielvorstellungen einander ähnlich. Öffentliche Auseinandersetzungen über die Differenzen untereinander können fruchtbar sein, Anlaß zur Reflexion des eigenen Handelns bieten, impulsgebende Dialoge auslösen. Solange die gegenseitige Kritik konstruktiven Charakter und das gemeinsame Ziel im Auge behält. Mitunter kann der von anderen gewählte Stil sehr verwundern.
Inhaltlich gesehen trifft der Begriff „Marketing“ auf die Arbeit von FIAN zu. Denn wer sich im juristischen Kontext bewegt, beruft sich in der Regel auf ein Mandat; dieses ist meist exakt definiert, hebt sich gleichsam von anderen Waren positiv ab. Für die ständige Qualifizierung der sozialen Menschenrechte sorgt ein Kontrollausschuß der UNO in Genf, vor dem die Staaten regelmäßige Berichtspflicht haben. Und die Menschenrechte werden offensiv „auf den Markt geworfen“, weil nur so ihre Verwirklichung erreicht werden kann. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit, die politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen versucht, ist ein wichtiges Instrument, das aber sorgfältig von einer festen „programmatischen Einbindung“ in politische Weltanschauungen zu unterscheiden ist. An einer Stelle setzt die Metapher des Marktes freilich aus: FIAN verfolgt keine gewinnmaximierenden Absichten. Die Organisation wird, wie viele andere auch, von Idealismus und Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement getragen. Und sollte es sich noch nicht herumgesprochen haben: Wer sich zu Solidarität bekennt und sie praktiziert, hat es nicht auf finanziellen Profit abgesehen, lehnt ihn im Gegenteil wohl sogar entschieden ab.
Wird Solidarität nun wirklich zu den erhofften Agrarreformen führen? Wie erfolgreich der Kampf dafür ist, liegt in der Hand der Beteiligten selbst. Es hängt von ihrem Willen ab, verschieden eingeschlagene Wege zu tolerieren, wenn doch das Ziel identisch ist. Oder anders ausgedrückt: Die einen setzen auf direkte Ansprache der politisch Verantwortlichen, wollen die Stimme der Hungernden für die Durchsetzung ihrer Rechte verstärken. Auch die anderen erheben die Stimme für Gerechtigkeit, verweigern den Dialog mit denen oben, hören auf die unten, wollen die Strukturen neu erschaffen. Recht haben sie alle, Visionen noch dazu. Warum nicht gemeinsam nach Land und Freiheit schreien?

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