Chile | Nummer 608 - Februar 2025

MENSCHENWÜRDE IM MITTELPUNKT

Organisationen wie El Arca kämpfen in Chile gegen prekäre Lebensbedingungen und Stigmatisierung von Migrant*innen

In den vergangenen Jahren ist der Anteil von Migrant*innen an der chilenischen Gesamtgesellschaft deutlich gewachsen. Die unzureichende Betreuung durch den Staat und rechte Hetzkampagnen in den Medien führen dazu, dass Migrant*innen nicht nur kaum Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt haben, sondern auch permanente Diskriminierung erleben. Dieser Bericht zeigt, wie die Organisation El Arca sich in Santiago für direkte Hilfe für Betroffene und gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung einsetzt.

Von Jacob Bex, Santiago de Chile

Bei einem Spaziergang über die Hauptstraße Alameda in der chilenischen Hauptstadt Santiago lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit europäischen Städten nicht leugnen – zumindest auf den ersten Blick. Doch ein zweiter Blick in die Seitengassen und rund um die Metrostationen offenbarte lange ein anderes Bild: ein buntes Treiben von Straßenverkäufer*innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern – das Herz der Stadt war bunt und lebendig. Die Zeiten haben sich in den vergangenen zwei Jahren drastisch geändert. Viele der Parolen und bunten Graffitis der Revolte von 2019 wurden grau überstrichen, die einst lebendige Alameda wirkt wieder eintönig und kalt. Die Straßenverkäufer*innen wurden vertrieben und liefern sich ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel mit den anrückenden Carabineros.

Das Bild wird zusätzlich durch eine wachsende Zahl von Zelten getrübt, die entlang der Alameda aufgeschlagen sind. Die Zelte stehen dicht beieinander, in denen Migrant*innen aller Altersgruppen Schutz suchen –im kalten Winter wie in der drückenden Sommerhitze der Hauptstadt. Seit einigen Jahren zeigen sich in Santiago Bilder, an die viele Chilen*innen nicht gewöhnt sind: Familien, die im öffentlichen Raum campen oder Eltern, die mit ihren Kindern auf der Straße um Geld bitten oder kleine Dienstleistungen anbieten, um ein paar Münzen zu verdienen.

„Das hat bei den Einheimischen große Empörung ausgelöst“, erklärt die Sozialarbeiterin Perla Scappini. Dieser traurige Zustand verdeutliche, dass die Migrationspolitik im Vorzeigeland Lateinamerikas endgültig versagt hat. Chile zählt zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit, was insbesondere auf geflüchtete Menschen erhebliche Auswirkungen hat.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Migrant*innen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas stark gestiegen. Zwischen 2006 und 2022 hat sich der Anteil von Migrant*innen an der Gesamtgesellschaft in Chile nahezu verneunfacht, von einem auf fast neun Prozent. Derzeit stellen Menschen aus Venezuela mit etwa einem Drittel die größte Gruppe unter Migrant*innen in Chile, gefolgt von Peru mit 15,4 Prozent und Kolumbien mit 11,7 Prozent.

Die in Santiago gestrandeten Familien leben in wachsender Unsicherheit und sozialer Verwundbarkeit – ein Problem, das sich während der COVID-19-Pandemie weiter verschärft hat. Viele Familien leben unter prekären Bedingungen wie Obdachlosigkeit, Unterernährung und einem eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Das stark privatisierte Gesundheitssystem Chiles verschärft diese Situation zusätzlich.

Speziell Migrant*innen aus Haiti haben Chile nach kürzerem oder längerem Aufenthalt wieder verlassen, da sie aufgrund von Sprachbarrieren, Diskriminierung und fehlenden Perspektiven keine Möglichkeit für ein besseres Leben sahen. Die haitianische Gemeinschaft, die in Chile geblieben ist, lebt überwiegend im Stadtteil Quilicura, der in der Öffentlichkeit oft als „Mini-Haiti“ bezeichnet wird. Diese Bezeichnung spiegelt die Stigmatisierung wider, die auch in anderen Stadtteilen Santiagos verbreitet ist. So wird die Umgebung der Estación Central aufgrund der hohen Anzahl venezolanischer Migrant*innen abwertend als „Pequeña Caracas“ bezeichnet.

„Leider ist die Diskriminierung von Migrant*innen in Chile Realität“, erklärt Scappini. Ein großer Teil dieses Problems hänge ihrer Meinung nach mit der Berichterstattung in der Presse zusammen. Dort werden häufig Stereotype verstärkt und negative Vorurteile über Migrant*innen verbreitet. Die Diskriminierung zeigt sich im Alltag – sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf dem Markt oder bei Wohnungsanzeigen wie „nur an Chilenen zu vermieten“. An anderen Stellen werde ausgenutzt, dass Migrant*innen, die die zahlreichen Anforderungen nicht erfüllen können, überhöhte Mietpreise in Kauf nehmen. „Das ist ein klares Zeichen für Diskriminierung“, betont die Sozialarbeiterin.

Präsident Boric als Hardliner in Sachen Migration

Auch die vermeintlich linke Regierung unter Präsident Gabriel Boric unternimmt wenig dagegen. Nach Druck aus der rechten Opposition zeigt sich Boric bereits seit 2023 eher als Hardliner in Sachen Migration und zieht klare Grenzen bei der Aufnahme von Geflüchteten, etwa aus Venezuela. Zudem wird derzeit eine Neufassung des Migrationsgesetzes Ley de Migraciones in zweiter Runde im Senat verhandelt, die eine erhebliche Verschärfung der bisherigen Rechtslage vorsieht. So soll sich in Chile zukünftig nur einbürgern können, wer bereits seit zehn Jahren – nicht wie bislang fünf – im Land lebt. Außerdem soll ein sogenanntes Ausländerregister mit biometrischen Daten von Migrant*innen eingerichtet werden. Unbegleitete Minderjährige aus anderen Ländern sollen zukünftig nicht nach Chile einreisen können, außerdem sind höhere Haftstrafen für Schleuser vorgesehen. Kritik am neuen Gesetzesentwurf, insbesondere zum Thema Einbürgerung, kam unter anderem von Rebeca Cenalmor-Rejas, Vertreterin des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR): „Die Staatsangehörigkeit ist ein unverzichtbares Menschenrecht“, so Cenalmor-Rejas und erinnerte an internationale Abkommen, die Chile unterzeichnet hat.

Um die schwierigen Lebensumstände von Migrant*innen zu verbessern, gibt es in Chile verschiedene Initiativen und Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten und die soziale Integration fördern. Eine davon ist die Corporación El Arca, die seit 2018 in der Gemeinde Macul, einem Stadtteil von Santiago, tätig ist. El Arca dient als erste Anlaufstelle für Familien, die oft monatelange und belastende Fluchtwege hinter sich haben. Migrant*innen erhalten hier Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Kleidung, rechtlicher Beratung und psychosozialer Betreuung.

Die Einrichtung bietet bis zu zehn Familien gleichzeitig Unterkunft und Verpflegung für maximal zwei Monate. Zusätzlich versorgt sie regelmäßig etwa 60 weitere bedürftige Haushalte mit Lebensmittelpaketen, Hygieneartikeln und Kleidung aus Spendenaktionen. Die Arbeit der Organisation beschränkt sich jedoch nicht nur auf materielle Hilfe, sondern verfolgt das Ziel, Geflüchtete bestmöglich in die chilenische Gesellschaft zu integrieren.  „Wir wollen auch den Geschichten und Beweggründen hinter der Migration Namen und Gesichter geben. Eine wichtige Mission unserer Organisation ist es, migrantische Familien der chilenischen Bevölkerung näherzubringen und ihre enorme Resilienz sichtbar zu machen“, erklärt Scappini, die die Einrichtung seit vielen Jahren leitet.

Immer wieder werde die große Resilienz vieler Migrant*innen deutlich: „Trotz vieler Schwierigkeiten – emotionaler, psychologischer, wirtschaftlicher, sozialer –, geben sie nicht auf. Wir sehen das bei Erwachsenen, die zwei oder drei Jobs haben, die bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um ihren Familien zu helfen, weiterzukommen“, betont Scappini. „Die Migrant*innen haben eine unglaubliche Arbeitskraft nach Chile gebracht, die jedoch leider wirtschaftlich nicht gewürdigt wird und die – es muss gesagt werden – oft zu Missbrauch und Ungerechtigkeiten durch viele Arbeitgeber geführt hat“, erklärt Scappini.

Neben der grundlegenden Versorgung leistet El Arca gezielte Sozialarbeit, indem Migrant*innen bei der Wohnungssuche, der Vermittlung von Arbeits- und Schulplätzen sowie bei rechtlichen Fragen unterstützt werden. Für traumatisierte Geflüchtete steht eine psychosoziale und therapeutische Betreuung zur Verfügung. Besonders wichtig sind diese Angebote für Kinder, die unter den Belastungen der Flucht besonders leiden.

Die Finanzierung von El Arca erfolgt größtenteils durch Spenden, wobei wichtige Beiträge von Kirchen, Privatpersonen und dem Lebensmittelnetzwerk kommen. Der zunehmende rassistische Diskurs in Teilen der chilenischen Gesellschaft hat die Arbeit der Organisation bislang noch nicht erschwert. Vor allem die Unterstützung von Familien mit Kindern rufe eine besondere Empathie hervor, die die Barriere der Ablehnung überwinde, meint Perla Scappini.

Durch gezielte Kommunikation und die Weitergabe von Erfolgs- und Integrationsgeschichten der Migrant*innen konnte El Arca Unterstützer*innen und Förderer*innen für seine Projekte gewinnen. Dennoch ist sich die Organisation bewusst, dass dies keine repräsentative Erfahrung unter Initiativen ist, die mit Migrant*innen arbeiten. Es zeigt jedoch, dass letztlich die Menschenwürde im Mittelpunkt steht – eine Erkenntnis, die viele Menschen gewinnen, wenn sie die Geschichten derjenigen hören, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden.

Raus aus dem Prekariat

Nach Ansicht von Perla Scappini ist die Regularisierung des Aufenthaltsstatus der Schlüssel zu einer besseren Zukunft für Migrant*innen in Chile. „Der Zugang zu grundlegenden Rechten setzt die RUT (staatliche Identifikationsnummer, Anm. der Red.) voraus. Der irreguläre Status Hunderttausender Migrant*innen führt dazu, dass sie sich in einer Situation völliger sozialer Verwundbarkeit befinden, da sie sowohl ungerechten Arbeitsbedingungen als auch überhöhten Mietpreisen ausgesetzt sind.“ Ebenso sieht es die landesweite Koordination von Migrant*innen, die Präsident Boric Mitte Januar einen offenen Brief überreichte. Darin fordern 177 Migrant*innen, die in Chile registriert sind, ihre schnellstmögliche Regularisierung in Chile, um das Leben in Prekarisierung beenden zu können.

Langfristig braucht es ein umfassendes Umdenken und, dass die Migrationspolitik an die tatsächlichen Gegebenheiten angepasst wird. Scappini betont, dass dafür regionale Maßnahmen zur Migration erforderlich sind – nicht nur auf nationaler Ebene. „Solange die Länder der Region keine gemeinsamen Lösungen für die sozialen Probleme hinter der Migration finden, reguläre Einreisemöglichkeiten schaffen und Maßnahmen einführen, um problematische Aspekte der Migration zu bewältigen, wird die gesellschaftliche Ablehnung dieser Gruppe weiterhin bestehen bleiben.“

Dach über dem Kopf, Verpflegung und psychosoziale Betreuung für Migrant*innen in der Organisation El Arca in Santiago de Chile (Foto: Jacob Bex)


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