Mexiko | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

Mexiko hat einen neuen Präsidenten, aber…

Der Linkskandidat Andrés Manuel López Obrador erkennt den Wahlsieg des rechtskonservativen Felipe Calderón nicht an

Zwei Monate nach den Wahlen in Mexiko hat das Wahlgericht einen Sieger ermittelt. Doch der linke Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador will auf einem demokratischen Kongress eine Volksregierung bilden lassen und die Institutionen erneuern.

Dinah Stratenwerth

Und was jetzt?, titelte die linke Wochenzeitung La Jornada, als Mexiko am 6. September – zwei Monate nach den Wahlen – einen offiziellen neuen Präsidenten hatte: Den rechtskonservativen Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN). Calderóns Gegner, der Sozialdemokrat Andrés Manuel López Obrador erkennt das knappe Wahlergebnis wegen zahlreicher Unregelmäßigkeiten sowohl im Wahlkampf als auch am Wahltag nicht an. Er will am 16. September eine demokratisch legitimierte Gegenregierung aufstellen.
Seit über einem Monat zeltet López Obrador, kurz AMLO, der für einen Zusammenschluss aus seiner Partei der demokratischen Revolution (PRD) und der Konvergenzpartei (PC) bei den Wahlen antrat, im Herzen der mexikanischen Hauptstadt auf dem zentralen Platz, dem Zócalo. Mit ihm zusammen sind dort tausende seiner AnhängerInnen, die glauben, das knappe Ergebnis der Präsidentschaftswahlen am 2. Juli sei durch Betrug zustande gekommen. López Obradors Gegner Felipe Calderón hat demnach 35,71 Prozent der Stimmen, AMLO hingegen 35,15 Prozent, was einen Unterschied von 233.831 Stimmen ergibt.

Wahl mit Haken

Die seit Anfang Juli anhaltende Diskussion um die Wahlen treibt zum Teil seltsame Blüten. So unterstellten JournalistInnen AMLO empört, er schlafe gar nicht in seinem Zelt auf dem Zócalo, sondern ginge heimlich nachts nach Hause. Aber wo auch immer AMLO nun schläft, er weigert sich, aufzugeben. Sein Parteienbündnis, die „Koalition für das Wohl aller“, hatte nach dem Wahltag eine Neuauszählung der Stimmen gefordert, da sowohl die PRD als auch unabhängige WahlbeobachterInnen von zahlreichen Unregelmäßigkeiten in den Wahllokalen berichtet hatten. Diesen wurde aufgrund der knappen Stimmdifferenz zwischen Calderón und López Obrador eine wahlentscheidende Bedeutung beigemessen.
So hätten die Listen der WählerInnen nicht mit den tatsächlich abgegebenen Stimmen übereingestimmt, Wahlpakete seien nachträglich geöffnet und Stimmzettel hinzugefügt worden. Im Vorfeld der Wahlen soll Calderón zudem mit Hilfe seines Schwagers, der an einem Softwareunternehmen beteiligt ist, Daten aus staatlichen Sozialprogrammen für den Stimmenfang benutzt haben. Ganze Kommunen sollen so auf Parteipräferenz geprüft worden und dann gezielt mit Propaganda bearbeitet worden sein.
Generelle Kritik übten die PRDlerInnen an der Wahlbehörde IFE. Deren neun stimmberechtigte Mitglieder sind eigentlich parteiunabhängige Angehörige der Zivilgesellschaft, die der mexikanische Kongress vorschlägt. Für die Wahlen sollen allerdings die PAN und die diesjährige Wahlverliererin, die Institutionelle Partei der Revolution (PRI), die Plätze im Wahlinstitut untereinander ausgehandelt haben. Von der PRD vorgeschlagene KandidatInnen hätten keine Chance gehabt, so die Kritik. Dem Vorsitzenden der IFE, Carlos Ugalde, werfen PRD-Mitglieder vor, nicht, wie vorgeschrieben, Partei unabhängig zu sein, sondern enge Verbindungen zur PRI zu haben. Diese Kritik ist nicht neu, die Zusammensetzung der IFE wurde schon bei der Neubesetzung ihres Vorstandes und der Wahl Ugaldes 2003 kontrovers diskutiert. Ihren Ruf als Bollwerk der Demokratie, den die Behörde seit der demokratischen Öffnung und der Wahlreform 1997 zunächst hatte, hat sie auf jeden Fall verloren.
Außer die Wahl selbst und die IFE kritisierten AMLOs MitstreiterInnen auch den Wahlkampf, der von Verleumdungen von allen Seiten geprägt war und in dem sowohl Noch-Präsident Fox (PAN) als auch UnternehmerInnenverbände zu Gunsten von Calderón an die Öffentlichkeit traten.
Die Unterstützung für die KritikerInnen ist groß: Eine Million Menschen versammelte AMLO bei seinem ersten Plenum Ende Juli auf dem Zócalo. So viele Personen hatten sich in der Geschichte des Landes noch nie auf dem Platz zusammengefunden.

Das Gericht entscheidet

Mit den Beschwerden der Parteien beschäftigen sich seit Anfang August die sieben RichterInnen des Wahlgerichtes TEPJF. Denn nicht nur die Koalition der PRD, sondern auch die PAN hatte Beschwerden eingereicht. Das Wahlgericht hatte nun zu entscheiden, ob alle Stimmen neu ausgezählt würden, wie es von der PRD-Koalition gewünscht wurde, oder nur ein bestimmter Teil der Stimmen. Schließlich wurden Wahllokale, in denen es Unregelmäßigkeiten gab, neu ausgezählt, nicht aber alle abgegebenen Stimmen. Die RichterInnen überprüften neun Prozent der Wahllokale, um einen Monat später festzustellen, dass es ihrer Meinung nach keinen groß angelegten Wahlbetrug gab.
Auch Präsident Fox und die Werbespots der UnternehmerInnenverbände, die im Vorfeld offen Angst vor der Wahl AMLOs geschürt hatten, waren Thema der richterlichen Untersuchung. Eigentlich ist es Verbänden und Interessengruppen verboten, öffentlich für oder gegen eineN KandidatIn Stellung zu beziehen, doch die Wahlbehörde war schon vor dem 2. Juli nicht in der Lage, die AMLO-feindlichen TV-Spots des UnternehmerInnenverbandes CCE zu verbieten.
Über Fox, der ebenfalls illegalerweise den PAN-Kandidaten unterstützt haben soll, äußerten sich die RichterInnen mit einem vieldeutigen Satz, der sinngemäß lautete: „Das Verhalten des Präsidenten hätte den Ausgang der Wahlen beeinflussen können, wenn nicht andere Umstände ebenfalls eingetreten wären.“ Was diese anderen Umstände seien, wurde allerdings im Dunkeln gelassen. Die Jornada kritisiert die Entscheidung des Wahlgerichts daher als ein klares „Ja, aber…“: Ja, die Wahlen sind gültig, aber es gab Unregelmäßigkeiten.

Calderón: Versöhnung

Felipe Calderón gibt sich schon seit Beginn der PRD-Proteste versöhnlich. Schon kurz nach der Wahl hatte er López Obrador eingeladen, eine Koalitionsregierung zu bilden, was dieser ablehnte, da er Calderón nicht als Wahlsieger anerkennt. Kurz vor der endgültigen Entscheidung des TEPJF sagte Calderón, sein Feind sei nicht AMLO, sondern die Probleme Mexikos, die es zu lösen gelte.
Im Wahlkampf hatten die Wahlstrategen der PAN López Obrador noch mit dem Slogan „López Obrador ist eine Gefahr für Mexiko“ schlecht gemacht und keine Gelegenheit ausgelassen, um darauf hinzuweisen, dass Mexiko mit AMLO als Präsident im kommunistischen Chaos versinken würde. Für seine neue Dialogbereitschaft hat Felipe Calderón eine patriotische Begründung: Da der Wahlkampf ja nun vorbei sei, könne man auch die Differenzen beiseite lassen und zusammen arbeiten, sagte er bei seiner ersten Ansprache nach der Gerichtsentscheidung am 6. September in der PAN-Parteizentrale. „Wir können unterschiedlich denken, ohne Feinde zu sein“, fasste er zusammen. Schließlich sei im „Vaterlandsmonat“ mit dem Nationalfeiertag am 16. September Mexiko wichtiger als „Partikularinteressen“.

AMLO: Neue Institutionen

Auch Andrés Manuel López Obrador ist Mexiko wichtiger als die Interessen einer Minderheit. Diese herrschende Minderheit, die er angreift, ist die „Elite, die die mexikanischen Institutionen als Geisel genommen hat“, wie er sich ausdrückt. Denen will er nun eine Volksregierung entgegen stellen, die sich just am 16. September bilden soll. Die rein elitär geprägten demokratischen Institutionen sollen gründlich reformiert werden. In allen größeren Städten können die MexikanerInnen sich für einen so genannten konstituierenden Demokratischen Nationalkongress (CDN) registrieren lassen.

Alternativen für das politische System

Die Debatten um diesen CDN laufen auf Hochtouren: In allen Bundesstaaten gibt es Vorbereitungsgruppen, die Alternativen zum aktuellen politischen System diskutieren. Es hätten sich bereits 210.000 TeilnehmerInnen für den CDN registriert, ließ AMLO seine AnhängerInnen am Abend des Tages der Gerichtsentscheidung bei einer Rede auf dem Zócalo wissen.
Eine Million Personen sollen es insgesamt werden. Um ihre Position zu manifestieren unterschrieben die Vorsitzenden der PRD, der Arbeiterpartei PT und des Bündnispartners Convergencia zusätzlich eine „Erklärung für die Würde, die Demokratie und die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“. Auch die Schriftstellerin und Journalistin Elena Poniatowska setzte ihre Unterschrift unter das Dokument.
Auf der anderen Seite gab AMLO kürzlich in einem Interview mit der Financial Times zu, dass er „weniger als die Hälfte“ der MexikanerInnen hinter sich hätte.
Und auch von Seiten Intellektueller, die eher PRD-nah einzuordnen sind, wird Kritik an AMLOs Protest laut. So betont die Essayistin Denise Dresser in jeder ihrer Kolumnen, López Obrador würde die Linke spalten. Eine Opposition außerhalb der demokratischen Institutionen werde ihn nicht weit bringen, meint Dresser. Allerdings kritisiert sie ebenso die ihrer Ansicht nach nicht weniger kompromisslose Haltung der anderen Seite.
Sowohl Calderón als auch López Obrador setzten nicht auf denkende StaatsbürgerInnen, so Dresser, sondern auf „Gläubige in einer Glaubensgemeinschaft“, die gegen die jeweiligen „Feinde aufgehetzt werden“.
Der rechte Historiker Luis Pazos wirft AMLO vor, mit zweierlei Maß zu messen: Komme der Aufbau der demokratischen Institutionen der PRD zu Gute, so spielen sie im System mit, sei das jedoch nicht der Fall, etwa bei der Präsidentschaftswahl, stellten sie es in Frage.
Tatsächlich hat die PRD das beste Wahlergebnis ihrer 17-jährigen Geschichte eingefahren, die Hauptstadt ist fest in ihrer Hand und sie ist zweitstärkste Kraft im Abgeordnetenhaus. Dort wird Calderón, ebenso wie Fox vor ihm, gegen eine Oppositionsmehrheit regieren müssen. Die SozialdemokratInnen hatten also innerhalb des Systems trotz aller Schmutzkampagnen der PAN auch Erfolge zu verbuchen.
Während der Kongress seine Arbeit bereits am 1. September aufnahm, wird der neue Präsident erst am 1. Dezember vereidigt. Das wollen Andrés Manuel López Obrador und seine AnhängerInnen allerdings verhindern. Einen Vorgeschmack dafür gab es am 1. September, als PRD-ParlamentarierInnen kurzerhand das Redepult im Abgeordnetenhaus besetzten, damit Noch-Präsident Fox seinen abschließenden Regierungsbericht nicht vorlesen konnte.
Sie protestierten damit gegen die harten Sicherheitsvorkehrungen, im Rahmen derer die Bundespolizei bereits zwei Wochen vor Fox’ Rede ganze Straßen der Hauptstadt abgeriegelt hatte. Am Tag X waren zudem zwei U-Bahnhöfe komplett gesperrt und das Parlamentsgebäude mit mehreren Kilometern Zaun umgeben. Fox verzichtete ob des Widerstands schließlich darauf, seinen Bericht zu verlesen, und gab nur das Manuskript ab.

Vorgeschmack auf Dezember

AMLO und seine AnhängerInnen feierten den Rückzug im Zeltlager auf dem Zócalo als Erfolg und als Aktion mit Vorbildcharakter. „Das ist ein Vorgeschmack auf den ersten Dezember“, sagte PRD-Wahlkampfkoordinator Jesús Ortega Martínez.
César Navarra, Generalsekretär der PAN kündigte hingegen an, dass Calderón ins Amt eingeführt werde, was auch immer passiere. Bis dahin wolle man mit den GegnerInnen einen Dialog führen, in der Hoffnung, dass „AMLOs Geiseln“ wieder zur Vernunft kämen. Bis jetzt heißt es nämlich seitens der mexikanischen Regierung, dass der Zócalo auf keinen Fall mit Gewalt geräumt werden soll.

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