Brasilien | Nummer 310 - April 2000

Mit dem Volk regieren

Die Arbeiterpartei PT in Rio Grande do Sul

Im Süden Brasiliens versucht eine Regierung der Arbeiterpartei etwas Unerhörtes: Statt die multinationalen Konzerne und die Industrie zu beknien, setzt sie auf Landreform und Umverteilung.

Andreas Missbach

Im Büro des Abgeordneten Ronaldo Zuhlke hängt eine leicht abgewandelte Asterix-Karikatur: „Wir befinden uns im Jahr 2000 nach Christus. Ganz Brasilien ist von den Neoliberalen besetzt. Ganz Brasilien? Nein, im äußersten Süden hört das unbeugsame Volk der PeTistas nicht auf, Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für …“ Zuhlke ist Fraktionschef der Arbeiterpartei PT im Parlament des Bundesstaates Rio Grande do Sul.
Seit einem Jahr regiert in Brasiliens südlichstem Bundesstaat die PT. Olivio Dutra ist der erste Gouverneur der Arbeiterpartei in einem politisch und wirtschaftlich bedeutenden Teilstaat. Zwar fehlt der Linkskoalition, die den volksnahen Ex-Gewerkschafter unterstüzt, im Parlament die Mehrheit, für Olivio Dutra ist diese Situation jedoch nicht neu, da er bereits als Bürgermeister von Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, gegen eine rechte Mehrheit im Stadtparlament regierte. „Wirtschaftliche Entwicklung mit Einkommensumverteilung“ und „Demokratisierung der Amtsführung“, diese beiden großen Ziele will die „Regierung des Volkes“ in Rio Grande do Sul verwirklichen.

Rote Fahne im Büro

„Eine Abteilung für Landreform gab es früher gar nicht. Ein einziger Beamter war dafür zuständig“, sagt Davi Stival, stellvertretender Abteilungsleiter für Agrarreform im Landwirtschaftsministerium. „Wir haben ein ehrgeiziges Ziel: In den vier Regierungsjahren wollen wir zehntausend landlose Familien ansiedeln.“ Leicht wird das nicht, denn dem Bundesstaat fehlt die Kompetenz, Land zu enteignen, und die Mittel für den Landkauf sind knapp. Stival und seine MitarbeiterInnen versuchen deshalb, mit der staatlichen Landreformbehörde Incra in Brasilia zu verhandeln. Incra soll brachliegenden Großgrundbesitz in Rio Grande do Sul enteignen, dafür würde die Abteilung für Agrarreform dann die Kosten für die Ansiedelung der Landlosen, für deren wirtschaftlichen Neuanfang, für Straßen, Stromanschluss und Schulen übernehmen.
Die PT-Regierung unterstützt bereits die BewohnerInnen älterer Agrarreformsiedlungen. Diesen Menschen wurde zwar Land vom Staat zugeteilt, sie blieben dann aber oft in unzugänglichen Gegenden ohne jede Unterstützung. „Diese Siedlungen wurden zu ländlichen Favelas“, sagt Davi Stival.
Sein Büro ist wahrscheinlich die einzige Regierungsstelle Brasiliens, in der die rote Fahne der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra) hängt. Bevor Stival ins Team des Gouverneurs eintrat, war er selber in der Landlosenbewegung aktiv, sein Chef im Agrarreformsekretariat gehört sogar zu den Gründungsmitgliedern des MST. „Das heißt aber nicht, dass wir keine Konflikte haben. Die Landlosenbewegung hat uns im letzten Jahr immer wieder heftig kritisiert, weil wir nicht recht vom Fleck kamen. Wir hatten ganz einfach den bürokratischen Aufwand unterschätzt, den es bedeutet, eine ganze Abteilung aus dem Boden zu stampfen.“ Die nationalen Medien reagierten mit Häme auf die Anfangsschwierigkeiten. Nur 57 landlose Familien seien angesiedelt worden, schrieb die Wochenzeitschrift Veja Ende letzten Jahres. „Von den 28 bereits geschlossenen Verträgen, durch die bis Mitte Februar 1270 Familien Land erhielten, schrieben die Journalisten nichts“, sagt Stival. Doch der Veja-Bericht ist noch harmlos, verglichen mit dem Ton, den die lokale Presse anschlägt. So druckte die in der Hauptstadt Porto Alegre erscheinende Zeitung Zero Hora kürzlich einen scharfen Kommentar, in dem der Arbeiterpartei vorgeworfen wird, sie habe „sich nicht von den aufständischen Methoden des politischen Kampfes distanziert. Im Gegenteil, sie besitzt einen bewaffneten Arm, der auf dem Lande einen Krieg im Stile eines roten Faschismus führt“ – gemeint ist damit die Landlosenbewegung.
Die neue Regierung von Rio Grande do Sul schreckt auch nicht davor zurück, die vorherige Politik wieder rückgängig zu machen. Zeca Moraes, Staatsekretär für Entwicklung, beschreibt die abgewählte Regierung von António Britto so: „Auch in unserem Bundesstaat wurde die neoliberale Rezeptur des Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso befolgt, allerdings noch etwas verschärft. Britto privatisierte Staatsbetriebe, darunter die Elektrizitäts- und die Telefongesellschaft von Rio Grande do Sul.
Den größten Teil der erzielten Einnahmen verwendete er für Steuergeschenke und Bauinvestitionen, um nationale und multinationale Großkonzerne anzulocken. So sollten die dringend gebrauchten Arbeitsplätze geschaffen werden.“ Doch dazu kam es nicht immer: Dem Biergiganten Brahma zum Beispiel versprach die frühere Regierung eine Kürzung der Warenumsatzsteuer von 75 Prozent bis die Investitionskosten für eine neue Brauerei vollständig amortisiert sind. Nach Fertigstellung der hochproduktiven Anlage schloss Brahma zwei ältere Brauereien, Resultat: Arbeitsplatzabbau.
Weitaus prominenter war jedoch der „Fall Ford“. Die Regierung Britto bot dem US-amerikanischen Autokonzern ein Paket im Wert von vier Milliarden Reais für seine erste Fabrik in Rio Grande do Sul (der Real war zur Zeit des Vertragsabschlusses ungefähr 1,80 DM wert, seit der Abwertung Anfang letzten Jahres liegt er bei etwa 1,10 DM). Der Bundesstaat gewährte Ford ein Darlehen von 220 Millionen Reais, fünf Jahre rückzahlungsfrei, zu einem Drittel der marktüblichen Zinsen und ohne Inflationsanpassung (je nach Inflationsrate braucht Ford deshalb nur ein Bruchteil zurückzuzahlen). Britto versprach vierspurige Zufahrtsstraßen, Telefon-, Strom-, Gas- und Wasserleitungen und den Bau eines neuen Hochseehafens (exklusiv für die Firma Ford), Gesamtkosten 230 Millionen Reais. Schließlich verzichtete der Bundesstaat bei Ford auf Warenumsatzsteuern im Wert von 3,6 Milliarden Reais. Bis zu 100.000 neue Stellen würden so geschaffen, begründete die Regierung Britto diesen Deal. Dabei beschäftigt nicht einmal die gesamte Autoindustrie in Brasilien so viele Menschen; Ford garantierte gerade mal 1500 Arbeitsplätze.
„Wir hatten im Wahlkampf versprochen, die Privatisierungen zu stoppen, deshalb fehlten die Mittel, die Britto versprochen hatte“, sagt Zeca Moraes. „Zudem war uns klar, dass die Kosten in keinem Verhältnis zum erwartbaren Nutzen stehen. Deswegen holten wir die Multis zurück an den Verhandlungstisch.“
Doch die Regierung in Brasilia sprengte die Verhandlungen, indem sie ein im Mai 1997 beendetes Sonderprogramm zur Förderung der Automobilindustrie im Nordosten Brasiliens wieder in Kraft setzte. Sollte Ford die Fabrik im Staat Bahia bauen, erhielte der Konzern nicht nur Vergünstigungen im Umfang des Pakets von Rio Grande do Sul, sondern zudem weitere Steuererleichterungen und verbilligte Kredite des Bundes. Ford zögerte nicht lange. „Das ganze war eine Intrige des Präsidenten und des mit ihm verbündeten Gouverneurs von Bahia. Sie wollten ein Klima des Misstrauens gegenüber der Regierung von Rio Grande do Sul schaffen und Olivio Dutra als vertragsbrüchig hinstellen. Die Presse hat brav mitgespielt“, sagt Zeca Moraes.

Intrigen gegen die PT-Regierung

In anderen Fällen waren die Verhandlungen erfolgreich. Der US-amerikanische Automulti General Motors willigte in einen Deal ein, zahlt bereits erhaltene Kredite vorzeitig zurück und baut nun einen Teil der Infrastruktur auf eigene Rechnung. „Tatsächlich gibt unsere Regierung für diese Fabrik kein Geld mehr aus“, sagt Moraes. „Die Bauprojekte, die wir noch zu Ende bringen müssen, finanzieren wir mit den zurückbezahlten Krediten. Insgesamt hat uns die Neuverhandlung Ausgaben von 103 Millionen Reais erspart“. Der Computerkonzern Dell war nach Gesprächen mit der neuen Regierung bereit, die Hälfte der erhaltenen Begünstigungen in die Informatikforschung an Universitäten in Rio Grande do Sul zu investieren.
Die eigenständige Haltung gegenüber den multinationalen Konzernen hat in der Hauptstadt Porto Alegre, wo die PT seit drei Amtsperioden ununterbrochen den Bürgermeister stellt, bereits Tradition. Bevor die französische Handelskette Carrefour die Erlaubnis zum Bau eines großen Supermarktes erhielt, mußte sie ein Sozialprogramm vorlegen, das den Anforderungen der Gemeindeverwaltung genügte: Carrefour wird innerhalb des Gebäudes vierzig Geschäfte für HändlerInnen der Region errichten, ein Ausbildungsprogramm im Quartier unterstützen und auch ältere ArbeiterInnen einstellen. In der Früchte- und Gemüseabteilung soll zudem ein Bereich für die Produkte von KleinbäuerInnen aus dem Großraum Porto Alegre reserviert werden, ausserdem liefert der Supermarkt sämtlichen Müll getrennt an eine Müllsammlerkooperative.
Die Multis stehen aber nicht im Zentrum der Entwicklungsstrategie der neuen Regierung. „80 Prozent der Produktion stammen aus Klein- und Mittelbetrieben, 90 Prozent der Arbeitsplätze in Rio Grande do Sul sind dort zu finden“, sagt Zeca Moraes. Statt industrieller Großprojekte werden nun die Unternehmen der traditionellen Wirtschaftsstruktur der Region gefördert: Nahrungsmittelverarbeitung, Leder- und Schuhproduktion, Textilien und die dazu gehörenden Maschinenindustrien. Dabei versucht die Regierung die soziale und geografische Verteilung von Industrie und Gewerbe besser zu streuen: Kleinbetriebe, Genossenschaften und ländliche Gebiete erhalten besondere Förderung.

Gentechfreier Staat statt kopfloser Politik

„Für die größten Konflikte im Parlament und in der Gesellschaft sorgte in unserem ersten Amtsjahr ein zuvor völlig unbekanntes Thema: die Verwendung von genveränderten Pflanzen in der Landwirtschaft“, erinnert sich Fraktionschef Zuhlke.
Im Frühjahr 1999 brachte die PT einen Gesetzesentwurf vor das Parlament des Bundesstaates, dessen Kernaussage aus folgendem Satz bestand: „Der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen im Bundesstaat Rio Grande do Sul ist verboten.“ Für ein solches Gesetz gibt es handfeste wirtschaftliche Gründe. Drei Staaten (Brasilien, die USA und Argentinien) produzieren heute 90 Prozent der weltweiten Sojaernte. Nur in Brasilien hat sich der Anbau von Gen-Soja noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Könnte garantiert werden, dass die Soja-Produktion von Rio Grande do Sul frei von gentechnisch veränderten Pflanzen ist, dann wäre der Absatz auf dem gentech-kritischen europäischen Markt gesichert.
Eigentlich ist der Anbau von genveränderten Pflanzen in Brasilien nach einem Gerichtsentscheid auf Bundesebene noch nicht freigegeben. Trotz Verbot wird aber beispielweise das Gen-Soja von Monsanto angebaut. Ein Drittel der Anbaufläche in Rio Grande do Sul sei mit aus Argentinien geschmuggelten genverändertem Saatgut bepflanzt, spekulieren die Zeitungen des Bundesstaates. Diese Zahl ist vermutlich deutlich zu hoch gegriffen, denn den BefürworterInnen der Gen-Saat liegt alles daran, gentechnisch veränderte Pflanzen in der Landwirtschaft als unabänderliche Realität darzustellen. Dass geschmuggeltes Saatgut angebaut wird, steht aber außer Zweifel.
Die PT-Regierung versuchte also das Verbot durchzusetzen, was in Brasilien fast einer Revolution gleichkommt. Sie kontrollierte Farmen, beschlagnahmte Gen-Samen und Pflanzungen. Dabei legte sie sich nicht nur mit den Landwirten an, sie nahm auch die Genmultis unter die Lupe und forderte die Bundesbehörden erfolgreich auf, illegale Versuche der Konzerne in Rio Grande do Sul zu stoppen. Trotzdem ist der gentechfreie Bundesstaat ein Projekt der Zukunft. Die rechte Opposition hält im Parlament von Rio Grande do Sul die Mehrheit und blockiert das Gesetz.

Kampf mit der rechten Opposition

„Die Opposition versucht uns lahm zu legen, um eine Regierungskrise zu provozieren“, sagt Zuhlke. Besonders bitter war der Schiffbruch, den die Regierung Ende des Jahres mit einer Vorlage über Löhne und Steuern erlitt. Die PT versuchte ein Wahlversprechen umzusetzen und machte sich daran, die niedrigsten Löhne im Staatssektor anzuheben und die absurde Lohnungleichheit zu beseitigen: Das höchste Salär entspricht 140 Minimallöhnen. Die PT schlug einen Maximallohn von 7000 Reais vor (damit erhielte niemand mehr als der Gouverneur) und wollte das Salär der untersten Lohnklasse verdoppeln. Mit gezielten Steuererhöhungen, die vor allem Besserverdienende treffen, sollten diese Veränderungen finanziert werden. „Die Abgeordneten der Opposition sagten uns klipp und klar, dass sie dem Projekt nicht zustimmen könnten, denn dadurch würde unsere Regierung für dieses Jahr auf eine solide Grundlage gestellt“, erinnert sich Ronaldo Zuhlke.
Der Fraktionschef gibt jedoch auch zu, dass die Arbeiterpartei einen taktischen Fehler gemacht hat: „Als wir das Budget des partizipativen Haushalts im Parlament einbrachten, haben wir große Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude organisiert. Die Opposition konnte es sich nicht leisten, das Budget abzulehnen. Das haben wir beim Lohnpaket verschlafen. Wir dürfen zentrale Fragen nicht mehr im Parlament behandeln, ohne unsere Strategie zuvor mit den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen abgesprochen zu haben.“ Mit der Unterstützung des Volkes, davon ist Zuhlke überzeugt, ist die Regierung der PT nicht zu schlagen.

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