Kuba | Nummer 329 - November 2001

Mit der Sonderperiode in die Zukunft

Kubas wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung seit 1990

Seit Beginn der 90er Jahre befindet sich Kuba in einem Prozess des Wandels, der durch die politischen Veränderungen in Osteuropa ausgelöst wurde. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) brach das Fundament weg, auf dem die kubanische Wirtschaft jahrzehntelang ruhte. Das Land verlor mit einem Schlag seine wichtigsten Handelspartner und stürzte in die schwerste Krise seit dem Sieg der Revolution. In dieser Situation rief die Regierung die Sonderperiode (período especial) aus und leitete ein Bündel von Reformen ein, die bis dahin im sozialistischen Kuba undenkbar gewesen wären und nicht nur die kubanische Wirtschaft umgestalteten, sondern auch erhebliche soziale Konsequenzen nach sich zogen.

Sönke Widderich

Schon in den 80er Jahren zeichneten sich erste Krisensymptome ab. Trotz stetig steigender Investitionen stagnierte die kubanische Wirtschaft. Die chronische Unproduktivität vieler Wirtschaftsbereiche konnte jedoch durch die feste Einbindung in den RGW weitgehend kompensiert werden. Andererseits hatte jedoch das System der Arbeitsteilung innerhalb des RGW, in dem Kuba hauptsächlich für die Erzeugung von Zucker und anderen Agrarprodukten zuständig war, auch Nachteile, die sich in der extremen Importabhängigkeit der Insel manifestierten. Ende der 80er Jahre bezog Kuba 98 Prozent aller Brennstoffe, 86 Prozent der Rohstoffe, 80 Prozent der Maschinen und elektrischen Geräte und 63 Prozent der Nahrungsmittel aus RGW-Ländern. Die Auflösung der Wirtschaftsorganisation im Juni 1991 und der Zerfall der Sowjetunion ein halbes Jahr darauf trafen Kuba unvorbereitet, denn, so Fidel Castro, „niemand stellte sich je vor, dass etwas, das so unerschütterlich und sicher wie die Sonne schien, eines Tages verschwinden würde“.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung waren katastrophal. Die auf jährlich eine Milliarde US-Dollar geschätzten Transferleistungen der UdSSR fielen ebenso abrupt weg wie die Präferenz- und Fixpreise innerhalb des RGW, mit dem Kuba bis dahin etwa 85 Prozent des Außenhandels abwickelte. Nahrungsmittel, Ersatzteile für den aus Osteuropa stammenden Maschinenpark und vor allem Erdöl mussten auf einmal zu Weltmarktpreisen eingekauft werden. Gleichzeitig sank die Importkapazität des Landes von 8,1 Milliarden US-Dollar im Jahre 1989 auf nur noch 2,2 Milliarden US-Dollar 1992, denn es gab kaum noch etwas, das Kuba exportieren konnte. Bis 1993 halbierte sich die Zuckerproduktion. 80 Prozent der Industrieanlagen standen still. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel von 1990 bis 1993 um nahezu 35Prozent. Das Gütertransportwesen und der öffentliche Personennahverkehr brachen ebenso zusammen wie die Versorgung der Industrie und der Bevölkerung mit Elektrizität, sodass es täglich mehrere Stunden andauernde Stromsperren gab. Kuba stand unmittelbar vor dem Kollaps. In dieser Situation war die kubanische Führung gezwungen, tief greifende Reformen einzuleiten.

Chronologie der Reformen

Die erste substanzielle und innerhalb der Kommunistischen Partei nicht unumstrittene Maßnahme verkündete Fidel Castro am 26. Juli 1993 anlässlich des kubanischen Nationalfeiertages, der mit dem Sturm auf die Moncada 1953 den Beginn der Revolution markiert: die Legalisierung des zuvor unter Strafe stehenden Devisenbesitzes für kubanische Staatsangehörige. Diesen Schritt, der dem Schlachten einer heiligen Kuh gleichkam, rechtfertigte Castro als einzigen Weg, die „Errungenschaften der Revolution“ zu bewahren, das heißt die im internationalen Vergleich hohen Standards im Bildungs- und Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten, die nationale Unabhängigkeit gegenüber der Hegemonialmacht USA zu verteidigen und egalitäre gesellschaftliche Prinzipien beizubehalten. Durch die Legalisierung des Devisenbesitzes sollten die stark anwachsenden remesas (Geldtransfer der Exilkubaner an ihre in Kuba lebenden Verwandten und Freunde) kanalisiert und für den Wirtschaftsprozess in Wert gesetzt werden. Überall auf der Insel wurden quasi-staatliche Dollarshops errichtet, um die dringend benötigten Devisen abzuschöpfen.
Im September 1993 folgte die Erweiterung privatwirtschaftlicher Tätigkeit im Rahmen der trabajo por cuenta propia (Arbeit auf eigene Rechnung). Durch die Zulassung neuer Tätigkeitsfelder sollte einerseits das in der período especial stark eingeschränkte Angebot an Gütern und Dienstleistungen wieder verbreitert wird, andererseits sollten Arbeitsplätze geschaffen werden. Obwohl die gesetzlichen Rahmenbedingungen die privatwirtschaftlichen Aktivitäten in engen Grenzen halten und zahlreiche Einschränkungen hinsichtlich der Materialbeschaffung, Produktion und Vermarktung bestehen, machten sich viele Kubaner und Kubanerinnen selbstständig. Die Zahl der registrierten Selbstständigen erreichte Ende 1995 mit rund 208.000 ihren Höhepunkt, sank allerdings seit der Einführung von Einkommenssteuern für privatwirtschaftliche Tätigkeiten im März 1996 wieder ab. Gegenwärtig sind etwa 160.000 Personen gemeldet, die als Straßenverkäufer, Taxifahrer, Handwerker oder in einem anderen privatwirtschaftlichen Bereich tätig sind.
Zeitgleich mit der Erweiterung der trabajo por cuenta propia wurde die Landwirtschaft reformiert, um die eingebrochene landwirtschaftliche Produktion wieder zu erhöhen. Man entschloss sich, einen Teil der Staatsfarmen in selbstständige Kooperativen, die Unidades Básicas de Producción Cooperativa (UBPC), umzuwandeln. Doch obwohl mittlerweile mehr als 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche von UBPCs bewirtschaftetet wird, blieben die erhofften Erfolge bisher aus.
Ein Jahr nach den agrarstrukturellen Veränderungen öffneten die ersten nicht-staatlichen Agrarmärkte (mercados agropecuarios), auf denen Staatsbetriebe, Kooperativen und Kleinbauern ihre über das Plansoll hinaus produzierten Güter zu freien Preisen vermarkten dürfen. Diese Reformmaßnahme ist ebenfalls kontrovers diskutiert worden. Denn schon in den 80er Jahren gab es Bauernmärkte, die aber wieder geschlossen wurden, weil die Parteiführung eine „Bereicherung“ der Zwischenhändler nicht akzeptierte. Doch vor dem Hintergrund der balsero-Krise des (Spät-)Sommers 1994, in der mehr als 30.000 Menschen auf selbst gebauten Flössen versuchten, die Küste der USA zu erreichen, mussten der Bevölkerung gewisse Zugeständnisse gemacht werden.
Die Reformbestrebungen der kubanischen Regierung beschränkten sich nicht nur auf den binnenwirtschaftlichen Bereich. Außenwirtschaftlich galt es, Kuba nach dem Wegfall des RGW-Handels in den Weltmarkt zu integrieren, ein Vorhaben, das auf Grund der seit Beginn der 60er Jahre bestehenden und in den 90er Jahren noch zwei Mal verschärften Wirtschaftsblockade der USA erheblich erschwert wurde. Einerseits mussten die zu großen Teilen ineffizienten kubanischen Industriebetriebe wettbewerbsfähig gemacht und andererseits Handelspartner im Ausland gefunden werden. Der Schlüssel zur Lösung dieser beiden Probleme war die Öffnung des Landes für ausländische Investoren, die über das Kapital zur Umgestaltung bestehender oder den Aufbau neuer Unternehmen verfügten. Auch das marktwirtschaftliche Know-how und die internationalen Geschäftsbeziehungen der ausländischen Geschäftspartner waren zur Positionierung kubanischer Exportprodukte auf dem Weltmarkt unerlässlich. Um Investoren ins Land zu holen, schuf man ein neues Investitionsgesetz, das als eines der liberalsten in Lateinamerika gilt. Als flankierende Maßnahmen wurde der Außenhandel entflochten, das Bankenwesen reformiert, neue Zollregelungen verabschiedet, Freihandelszonen geschaffen sowie zahlreiche bilaterale Investitionsschutzabkommen abgeschlossen.
Das günstige Investitionsklima in Kuba führte zum raschen Anstieg der ausländischen Investitionen auf der Insel. Gab es 1988 lediglich zwei Abkommen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, so waren es im Jahr 2000 bereits 394 mit einem Investitionsvolumen von fünf Milliarden US-Dollar. Die meisten dieser Abkommen sind in der Industrie oder im Tourismus, dem Schlüsselsektor der kubanischen Wirtschaft, angesiedelt. Bisher haben vor allem spanische, kanadische und italienische Firmen in Kuba investiert, aber auch Unternehmen aus Frankreich, Großbritannien, Mexiko und Venezuela engagieren sich verstärkt auf der Insel. Mittlerweile werden ganze Wirtschaftssektoren vollständig von Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung beherrscht, wie beispielsweise die Förderung von Erdöl und metallischen Rohstoffen, die Produktion von Petroleum, die Herstellung von Seife und anderen Körperpflegemitteln sowie der Telekommunikationssektor. Auch in der Nickel- und in der Zementerzeugung spielt ausländisches Kapital eine wichtige Rolle. Ein Ausverkauf Kubas steht jedoch nicht zu befürchten, da die meisten Auslandsinvestitionen in Form von Joint Ventures getätigt werden. An diesen gemischten Unternehmen sind quasi-staatliche kubanische Firmen beteiligt, die über alle Maßnahmen mitbestimmen. Zudem muss jede ausländische Investition vom Wirtschaftsministerium genehmigt werden.

Nachlassender Reformdruck im Zuge der wirtschaftlichen Konsolidierung

Aus makroökonomischer Sicht ist die kubanische Reformpolitik außerordentlich erfolgreich gewesen. Nach dem dramatischen Einbruch der Wirtschaft zu Beginn der 90er Jahre war 1994 erstmals wieder ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. In diesem Jahr stieg das BIP um 0,7 Prozent, im Folgejahr um 2,5 Prozent und 1996 sogar um stolze 7,8 Prozent. Die schwierigste Etappe schien überwunden zu sein, sodass der Druck zur weiteren Umgestaltung der Wirtschaft nachließ. Reformen wurden seitdem nur noch im außenwirtschaftlichen Sektor realisiert. Im Inneren begannen sich wieder orthodoxe, dem Reformkurs kritisch gegenüberstehende Kräfte durchzusetzen. Der Armeegeneral und Verteidigungsminister Raúl Castro, der Bruder Fidels, initiierte eine ideologische Kampagne gegen die cuentapropistas (Selbstständige im Rahmen der trabajo por cuenta propia), die seither dem pauschalen Vorwurf der Bereicherung und des antisozialen Verhaltens ausgesetzt sind. Um dem „Anwachsen des Lumpenproletariats und der Kriminalität“ begegnen zu können, wurde die Polizei technisch aufgerüstet: 100.000 neue Polizisten, die zeitweise an jeder Straßenecke postiert sind, kontrollieren vor allem junge, schwarze, männliche Kubaner. Darüber hinaus verschärfte man das Strafrecht. Seitdem werden schon geringe Vergehen drastisch bestraft (z. B. vier bis zehn Jahre Freiheitsentzug für das illegale Schlachten einer Kuh).
Den positiven Konjunkturverlauf, der sich Mitte der 90er Jahre abzeichnete, beeinflusste die allgemeine Verschlechterung des innenpolitischen Klimas nicht. Seit 1997 stieg das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 3,9 Prozent pro Jahr. Solche Daten dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die kubanische Wirtschaft nach wie vor mit diversen Problemen zu kämpfen hat. Eines davon ist der Mangel an Arbeitsplätzen. Obwohl das Recht auf Arbeit in Kuba verfassungsmäßig garantiert ist, lag die Arbeitslosenquote im letzten Jahr bei 5,5 Prozent. Nach offiziellen Angaben stehen im Zuge der Schließung oder Umgestaltung unrentabel arbeitender Staatsbetriebe Massenentlassungen an, die bis zu 20 Prozent aller kubanischen Beschäftigten betreffen könnten. Bisher ist darauf verzichtet worden, sodass die Betroffenen zwar ihren Arbeitsplatz behalten, jedoch keine Arbeit haben. Gegenwärtig sind etwa 800.000 Arbeitnehmer unterbeschäftigt.

Kubas Wirtschaft heute

In der letzten Dekade ist die kubanische Ökonomie komplett umgekrempelt worden. Traditionell basierte sie auf der Erzeugung und Ausfuhr von Zucker. Noch 1990 entfielen 80 Prozent aller Exporteinnahmen bzw. 75 Prozent der Deviseneinnahmen auf Zucker und dessen Derivate. Doch in der período especial war die Produktionsleistung der 80er Jahre von durchschnittlich 7,5 Millionen Tonnen Rohzucker pro Jahr nicht mehr zu erreichen. Die Ernten der 90er Jahre erbrachten im jährlichen Durchschnitt nur noch 4,5 Millionen Tonnen, ein Rückgang von 40 Prozent. Dementsprechend sanken die Einnahmen aus dem Zuckerexport ab und erreichten 1999 mit knapp 463 Millionen US-Dollar einen historischen Tiefstand. Die Exporterlöse von Nickel, Tabak und Fischerzeugnissen, die bedeutendsten Exportprodukte nach dem Zucker, sind im vergangen Jahrzehnt zwar gestiegen oder zumindest einigermaßen stabil geblieben, konnten jedoch den Rückgang beim Zucker nicht kompensieren. Nur noch etwas mehr als ein Drittel der Deviseneinnahmen entfallen auf den Export kubanischer Waren.
Der Einbruch der Exporterlöse wurde durch zwei Faktoren aufgefangen: durch den massiven Ausbau des Tourismus und durch den zunehmenden Geldtransfer der Exilkubaner. Schon 1994 war der Tourismus zum wichtigsten Devisenbringer Kubas aufgestiegen. Seitdem haben sich die Brutto-Einnahmen aus dem Fremdenverkehr, die 1999 bei 1,9 Milliarden US-Dollar lagen, mehr als verdoppelt. Dies war nur auf Grund des (z.T. durch ausländische Investoren finanzierten) massiven Ausbaus der Hotel- und Bettenkapazität möglich, wodurch die Besucherzahl in den 90er Jahren nahezu verfünffacht werden konnte. Im laufenden Jahr rechnet man erstmals mit mehr als zwei Millionen Gästen.
Fast ebenso rasant wie die Einnahmen aus dem Tourismus haben sich die remesas entwickelt, durch die mittlerweile mehr Devisen ins Land kommen als durch den Zuckerexport. Ihre Höhe wird auf mindestens 800 Millionen US-Dollar im Jahr geschätzt. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Geldüberweisungen hauptsächlich von den Exilkubanern aus Florida kommen, die nicht gerade für ihre Castro-freundliche Einstellung bekannt sind, wird die Verletzbarkeit der kubanischen Wirtschaft deutlich. Im Falle einer drastischen Reduzierung des privaten Geldflusses aus den USA wäre ein ökonomischer Kollaps vorprogrammiert. Und auch der Fremdenverkehr ist ein sensibler Bereich, da sich Urlauber durch politische Unruhe oder gar Anschläge auf touristische Einrichtungen schnell von einem Besuch der Insel abschrecken lassen würden.
Insgesamt schlugen sich der Bedeutungsverlust der klassischen Exportprodukte und die wachsende Bedeutung von Tourismus und remesas in der Dollarisierung des Landes nieder. Immer mehr Bereiche des Wirtschaftsprozesses werden vom Dollar durchdrungen, sei es in Bezug auf geschäftliche Vereinbarungen zwischen staatlichen Firmen und Institutionen oder hinsichtlich des Endverbrauchs. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Transformation einer sozialistischen, in den RGW eingebundenen Zentralverwaltungswirtschaft zu einer dualen Ökonomie, deren eines Segment im planwirtschaftlichen Bereich verharrt, während deren anderes Segment auf den Weltmarkt ausgerichtet ist.

Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Bevölkerung

Die Dualität der Ökonomie färbt auch auf den Alltag der kubanischen Bevölkerung ab. Jeder einzelne Haushalt ist sowohl in das Devisensegment und damit in das nicht-staatliche Segment der kubanischen Wirtschaft eingebunden, als auch in das „sozialistische Segment“, also in denjenigen Teil, in dem der Staat, der nach seinem Selbstverständnis sozialen Zielen verpflichtet ist, kostenlose oder kostengünstige Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Zu dem sozialistischen Segment gehören die schulische und universitäre Bildung sowie die medizinische Versorgung, wenngleich in jüngerer Zeit immer mehr Medikamente von den Patienten in harter Währung gekauft werden müssen. Die staatliche Wohnungspolitik führte dazu, dass sich mittlerweile 80 Prozent des Häuser- und Wohnungsbestandes im Besitz der jeweiligen Bewohner befinden. In den anderen Fällen sind die Ausgaben für Unterkunft vergleichsweise gering, da die Mietzahlungen gesetzlich auf zehn Prozent des Haushaltseinkommens begrenzt sind und in einigen Wohnungen sogar ganz wegfallen. Auch die Wohnnebenkosten für Strom, Gas, Wasser, Abwasser und ähnliche Posten bewegen sich in einem moderaten Rahmen.
Eine besondere Form der sozialen Unterstützung ist die bereits in den 60er Jahren eingeführte libreta, ein Bezugsheft für rationierte Waren. Die libreta steht unabhängig von Einkommen und tatsächlicher Bedürftigkeit jedem ständig auf der Insel lebenden kubanischen Staatsangehörigen zu. Auch wenn Menge und Qualität der zugeteilten Produkte in der período especial stark zurückgegangen sind, bietet die libreta nach wie vor einen Grundstock für die Versorgung der Bevölkerung. Die libreta ist hochsubventioniert. Für alle Produkte zusammen fallen monatlich Kosten von lediglich 15 bis 20 Pesos pro Person an. Allmonatlich stehen jedem Kubaner etwa sechs Pfund Zucker, sechs Pfund Reis, fünf Pfund Brot, ein Pfund Hülsenfrüchte, ein drei viertel Pfund Salz und 170 Gramm mit getrockneten Erbsen verlängerter Kaffee zu. In unregelmäßigem Rhythmus kommen hinzu: Obst und Gemüse der Saison, Speiseöl, Nudeln, Kekse, Kartoffeln, Eier, Fisch sowie Fleisch und mit Soja gestreckte Fleischprodukte (viele Kubaner sprechen schon von soyalismo anstatt von socialismo). Für Kinder, Alte und Kranke gibt es Sonderrationen. Verschiedene Non-food-Produkte ergänzen das Angebot, wobei vor allem Körperpflegeartikel und Waschmittel Mangelware sind. Gegenwärtig werden durch die libreta pro Person und Tag 1.130 kcal zur Verfügung gestellt. Die libreta deckt damit rund 63 Prozent des von der FAO ermittelten durchschnittlichen Mindestenergiebedarfs des Menschen und in etwa die Hälfte des tatsächlichen Pro-Kopf-Kalorienverbrauchs auf der Insel ab.
Um die bestehende Kalorien- und vor allem Proteinlücke zu schließen und um die nicht durch die libreta abgedeckten Produkte des Grundbedarfs zu erwerben, ist die Bevölkerung auf das Angebot des nicht-staatlichen und des Devisensegments der kubanischen Ökonomie angewiesen. Lebensmittel werden hauptsächlich auf dem mercado agropecuario (Markt mit Agrarprodukten) oder auf dem Schwarzmarkt erworben, Hygieneartikel und Kleidung sowie bestimmte Lebensmittel vornehmlich im Dollarshop gekauft. Die Preise dort sind im Verhältnis zum Lohnniveau extrem hoch. Beispielsweise kostet eine Flasche Sonnenblumenöl im Dollarshop 2,40 US-Dollar, was in etwa 50 Pesos oder 23 Prozent des kubanischen Durchschnittslohns (221 Pesos pro Monat) entspricht. Auf Grund des hohen Preisniveaus in den Dollarshops, auf den mercados agropecuarios und auf dem Schwarzmarkt reicht der Arbeitslohn der staatlichen Angestellten kaum noch für das Nötigste.
Vor diesem Hintergrund sind viele Kubaner gezwungen, zusätzliche Einkünfte zu erzielen. Dies ist sowohl im staatlichen als auch im nicht-staatlichen Bereich möglich. Im staatlichen Bereich setzt man in bestimmten, für die kubanische Ökonomie besonders bedeutenden Sektoren in zunehmendem Maße Prämien ein. Die Prämien werden beim Überschreiten eines festgesetzten Plansolls in Devisen oder in Naturalien (typischerweise Produkte wie Shampoo, Seife oder Speiseöl) ausgezahlt. 1999 profitierten etwa anderthalb Millionen Arbeitnehmer vom Prämiensystem. Der durchschnittliche Wert der Prämien lag bei 10,50 US-Dollar pro Monat, sodass die zusätzlichen Zahlungen zwar niemanden reich machten, aber einen wichtigen Beitrag zur Deckung des Grundbedarfs leisten konnten. Eine andere Möglichkeit ist die Ausübung einer Nebentätigkeit, zum Beispiel als Wächter. Vor allem Rentner machen davon Gebrauch, da 60 Prozent der Rentenbezieher über weniger als 100 Pesos im Monat verfügen. Besonders begehrt sind außerdem die etwa 70.000 Arbeitsplätze im Tourismussektor, denn die in diesem Bereich anfallenden Trinkgelder übersteigen die Gehälter um ein Vielfaches.
Im nicht-staatlichen Sektor gibt es eine ganze Reihe von Einkunftsmöglichkeiten. Hier sind zunächst die cuentapropistas zu nennen. Verschiedene Studien ergaben, dass Selbstständige ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen erwirtschaften, das drei bis fünf Mal so hoch liegt wie der Durchschnittslohn im Staatssektor. Dabei hängt die Verdienstmöglichkeit sehr von der jeweils ausgeübten Tätigkeit ab. Während „Berufe“ wie Feuerzeugauffüller oder Palmenstutzer zu den unteren Einkommensgruppen privatwirtschaftlich Tätiger zählen, gehören Taxifahrer oder Betreiber von privaten Kleinstrestaurants (paladares) zu den Spitzenverdienern. Monatliche Einkünfte von 20.000 Pesos und mehr sind in diesen Bereichen keine Seltenheit. Auch der informelle Sektor bietet zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. Die meisten Kubaner gehen in irgendeiner Form informellen Geschäften nach, sei es, dass sie an ihrem Arbeitsplatz im staatlichen Sektor etwas „abzweigen“ können, um es zu verkaufen, dass sie unter der Hand bezahlte Dienstleistungen erbringen oder dass sie ohne Lizenz im privatwirtschaftlichen Sektor arbeiten. Eine besondere Form der nicht-staatlichen Zusatzeinkünfte sind die remesas, deren Höhe je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Verwandten im Ausland zwischen wenigen und einigen hundert Dollar im Monat schwankt.
Betrachtet man den einzelnen Haushalt, so ist eine Diversifizierung der Einkunftsquellen zu beobachten. Es gibt kaum noch Familien, die ausschließlich von ihrem Einkommen aus dem staatlichen Sektor leben können. Nach einer in 140 kubanischen Haushalten durchgeführten Befragung übersteigen die Zu-satzeinkünfte aus remesassowie informeller oder privatwirtschaftlicher Tätigkeit das reguläre Einkommen im Durchschnitt um das Doppelte. Damit wird bezahlte Lohnarbeit zunehmend unbedeutender.
Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind weit reichend. Die Tatsache, dass ein Kellner oder Taxifahrer ein Vielfaches von dem Lohn eines Arztes oder Lehrers verdient, führt zur Umkehrung der kubanischen Sozialpyramide. Vor diesem Hintergrund stellen sich vor allem Jugendliche die Frage, ob sich eine Qualifizierung durch Ausbildung oder Studium überhaupt lohnt, da man beispielsweise mit Schwarzmarktgeschäften ein viel besseres Auskommen hat als in einem richtigen Beruf. Gleichzeitig kommt es unter den Berufstätigen vermehrt zur Abwanderung von Fachkräften in diejenigen Bereiche, in denen gute Verdienste locken. Nicht wenige gut ausgebildete Kubaner gehen ins Ausland. Die langfristigen Folgen dieses Braindrain für die kubanische Wirtschaft sind noch nicht abzusehen.
Insgesamt hat die wirtschaftliche Umgestaltung des Landes dazu geführt, dass die einstmals egalitäre kubanische Gesellschaft heute einem stärkeren Differenzierungsprozess ausgesetzt ist. Die Schere zwischen Arm und Reich beginnt sich zu öffnen. Den neuen Pesomillionären aus dem privatwirtschaftlichen Sektor und den Empfängern von remesas stehen diejenigen gegenüber, die ihr Auskommen hauptsächlich im staatlichen Sektor suchen müssen. Nach kubanischen Angaben hatten 1999 38 Prozent der Kubaner keinen Zugang zu Devisen. Zu ihnen gehören vor allem Schwarze, die nur in seltenen Fällen Verwandte im Ausland haben, und allein stehende alte Menschen. Ob diese Gruppe irgendwann vom sozioökonomischen Fortschritt abgekoppelt und sich Kuba zu einer klassischen Zweidrittel-Gesellschaft entwickeln wird, hängt nicht zuletzt davon ab, in welchem Maße sich die kubanische Wirtschaft weiter erholen und wann die período especial endlich überwunden werden kann. Dem Ziel der Verantwortlichen, dass die Bevölkerung ihr Einkommen wieder vermehrt durch Arbeit erzielt statt durch den Geldtransfer aus dem Ausland oder durch irgendwelche informellen Aktivitäten (vgl. das Interview mit Juan Triana in diesem Heft), kommt hinsichtlich der Nivellierung der Lebensverhältnisse und der Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung eine Schlüsselrolle zu.

Weiterführende Literatur:
Burchardt, H.-J.: Kuba – der lange Abschied von einem Mythos. Stuttgart 1996 (ISBN 3-89657-600-3; 29,80 DM).
Burchardt, H.-J.: Kuba – im Herbst des Patriarchen. Stuttgart 1999 (ISBN 3-89657-602-X; 29,80 DM).
Bähr. J. und S. Widderich (Hrsg.): Vom Notstand zum Normalzustand – eine Bilanz des kubanischen Transformationsprozesses. Kiel 2000 (Der Sammelband enthält drei deutsche und fünf spanischsprachige Beiträge. ISBN 3-923887-45-0; 22,20 DM).


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