Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

Mit Eimer, Rolle und Dose

Von muralismo und Graffiti im längsten Land der Welt

Graffiti existieren auch in Chile; das weiß jede/r, der/die schon einmal in Santiago war. Doch dieses Phänomen ist nicht nur in der Hauptstadt anzutreffen, sondern bewegt die Jugendlichen des ganzen Landes. Ein kleiner Leitfaden durch die Geschichte der chilenischen Straßenmalerei.

Alsino Skowronnek

Mit einem Rucksack, zwei Farbeimern und drei Farb-rollen bewaffnet, machen sich vier Jugendliche am helllichten Tag auf den Weg zu einer bestimmten Straße am Rande von Iquique, einer Großstadt im Norden Chiles. Auf dieser Ausfallstraße in Richtung Süden donnern pausenlos Autos und LKWs vorbei.
Es ist trocken und heiß. Die Jugendlichen kommen ihrem Ziel langsam näher: eine etwa 600 Meter lange Wand direkt an der Hauptstraße haben sie sich als passenden Untergrund für ihr Vorhaben ausgewählt. Sie alle sind Graffitikünstler und haben vor, sich mit ihren Namen auf der Wand zu verewigen. Es geht auch sofort los. Die Eimer mit der weißen Farbe werden geöffnet und jeder der Jugendlichen beginnt zunächst mit der groben Umrandung von großen Buchstaben auf der Wand. Im späteren Verlauf müssen die Buchstaben mit Farbe ausgemalt und schließlich die so genannten Outlines (Umrandungen) in einer anderen Farbe gezogen werden. Da die Jugendlichen bei ihrer Arbeit mitten auf der Straße stehen, müssen sie sich immer wieder vor den vorbei rasenden Autos auf die andere Straßenseite retten. Das Atmen in der heißen, abgasschwangeren Luft fällt dabei alles andere als leicht.
Warum machen die Jugendlichen das? Was bewegt sie dazu, unter diesen widrigen Umständen ihrem Hobby nachzugehen? Das Bemalen von Wänden besitzt in Chile eine geschichtlich verankerte Tradition, deren Anfänge auf die Wandmalereien im Jahr 1964 zurückgehen, die der Unterstützung von Allendes Wahlkampagne dienten. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich in Chile eine nach dem mexikanischen Vorbild des muralismo (Wandmalerei) organisierte Bewegung. Dabei ging es den Beteiligten zunächst einmal um die direkte Zugehörigkeit zu einer Partei, deren Programm sie publik machen wollten. Die Hauptthemen in der Bildsprache der muralistas (WandmalerInnen) waren vor allem sozialpolitischer und nationaler Natur. Der Fokus auf diese Themenbereiche wurde logischerweise gerade nach dem Militärputsch 1973 immer stärker, obwohl gleichzeitig durch ein Verbot die Zahl der murales (Wandbilder) in den Straßen Santiagos abnahm. Im Widerstand lebte der muralismo jedoch erneut auf und entwickelte sich innerhalb der poblaciones (Armutsviertel) zu einer Form des öffentlichen Protests auf den Straßen. Das veränderte Bewusstsein der Menschen spiegelte sich somit auch in Bezug auf ihren Lebensraum wider.

crews und brigadas

Auch wenn Graffiti in seiner heutigen Form und im Kontext des chilenischen Hip-Hop nur begrenzt vergleichbar sind mit der Arbeit der traditionellen WandmalerInnen, gibt es doch beachtliche Parallelen. Die wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Subkulturen liegt zunächst einmal in ihrem Selbstverständnis als illegale urbane Kunstform. Bei beiden steht die Gestaltung des öffentlichen Raumes ohne Restriktionen, ob künstlerischer oder politischer Art, im Vordergrund. Auch liegt beiden Ausdrucksformen das gleiche organisatorische Muster zugrunde. Sowohl die escritores (SprüherInnen) als auch die WandmalerInnen organisieren sich in Gruppen. Im Graffitibereich spricht man von crews, im Zusammenhang mit muralismo von brigadas. Eine wesentliche Gemeinsamkeit ist außerdem der autodidaktische Aspekt beider Ausdrucksformen. Graffiti haben eine plastische und grafische Formsprache, die in keiner Schule gelernt werden kann, weil es eine in sich freie und nicht geduldete Kunst ist. „Ich glaube es hat etwas mit dem Respekt für eine bestimmte Sache oder Situation zu tun, unabhängig von den politischen oder sozioökonomischen Hintergründen jedes Einzelnen“, fasst es Rio, ein bekannter chilenischer escritor aus Santiago, zusammen.

Hip-Hop-Anfänge in Chile

Anders als der muralismo entwickelten sich Graffiti unter der Diktatur nicht weiter. Für Graffiti, die im weitesten Sinne Ausdruck der individuellen Persönlichkeit durch Buchstaben ist, war die Repression in der Diktatur zu tiefgehend. Die in den USA Anfang der 80er Jahre entwickelte Kunstform erreichte Chile deshalb zunächst kaum, jedenfalls nicht in nennenswertem Ausmaß. Es dauerte über ein Jahrzehnt bis Graffiti – nach dem Beginn der Demokratisierung – auch in Chile allmählich Fuß fassten. Zwar waren auch vorher schon erste Anzeichen der Hip-Hop-Kultur deutlich spürbar, wie beispielsweise die Gründung von Breakdance- und Rap Crews, die durch Bootleg-Videokassetten Zugang zu Filmen wie „Beatstreet“ oder „Wildstyle“ erhalten hatten. Trotzdem sollte es bis Mitte der 90er Jahre dauern, bis sich eine richtige Bewegung daraus entwickelte. Vor allem der Aspekt des Selbergestaltens in der Hip-Hop- und Graffitikultur schien plötzlich für viele Jugendliche eine Möglichkeit zu sein, die kreative Freiheit auszuleben, die in der Zeit der Diktatur unterdrückt worden war. Zu den ersten renommierten Graffiticrews gehören in Chile Gruppierungen wie die Niños Con Spray (Kinder mit Spray) und die Children With Problems (Kinder mit Problemen).
Im Gegensatz zu anderen Ländern entwickelten sich jedoch die Inhalte der chilenischen Graffitiszene in eine ganz bestimmte Richtung. Graffiti werden andernorts oftmals – obwohl von Jugendlichen der Mittelschicht praktiziert –wegen ihrer Entstehungsgeschichte als „Ghettokultur“ bezeichnet. In Chile aber war und ist es –wie zuvor im Geburtsort des Graffiti, New York City – Ausdrucksform der Unterschicht und somit automatisch politisch. Dieses Phänomen spiegelt sich ganz deutlich in den Thematiken der Bilder wider. So kann in Chile in besonders hohem Maße die Karikierung von politischen Vorgängen oder der direkte Bezug zur Geschichte des Landes in den Bildern der Jugendlichen festgestellt werden.
Auch wenn der generelle Diskurs über die tatsächliche Aufarbeitung der Geschichte in der chilenischen Öffentlichkeit und insbesondere unter den Jugendlichen oft in Frage gestellt wird, so bietet doch speziell das Medium Graffiti den jüngeren Generationen zumindest Ansätze zur konkreten Auseinandersetzung mit dem Thema.
Mittlerweile haben die Jugendlichen an der Hauptstraße ihre Buchstaben sowohl ausgemalt als auch mit einer schmalen Farbrolle umrandet. Als letzter Arbeitsschritt folgt die zweite Umrandung des gesamten Schriftzuges mit einer anderen, möglichst grellen Farbe. Als Motivation seines Hobbys nennt Agoras, der zu der lokalen Graffiticrew Toxiko Escritores (Giftige Sprüher) zählt: „Mir geht es darum meine im täglichen Leben erlebten Dinge in einer Weise auszudrücken, die Außenstehende nicht verstehen. Natürlich ist es auch eine Form der Kommunikation mit der mich umgebenden Gesellschaft, nur eben eine einseitige.“ Als er gefragt wird, warum er beim Bemalen der Wände Wandfarbe anstatt Sprühdosen benutzt, gibt er lachend zurück: „Das hat einen finanziellen Grund. Ich habe einfach kein Geld, um mir Marson-Sprühdosen zu kaufen, die pro Stück umgerechnet 1,80 Euro kosten, wenn ich damit nicht einmal ein Viertel der Fläche bemalen kann, die ein Farbeimer hergibt. Natürlich benutze ich auch manchmal Dosen, doch meistens sind die mir zu teuer.“
Letztere Aussage zeigt deutlich ein weiteres Problem der chilenischen Graffitiszene. Weder wird die Kunstform in der breiten Öffentlichkeit wirklich anerkannt, noch werden die Jugendlichen bei ihrer kreativen Tätigkeit finanziell oder auf sonstige Weise unterstützt, wie dies etwa in Europa oder den USA im Rahmen von Jugendzentren der Fall ist. Während hierzulande endlos über Legalität oder Illegalität dieser Kunstform diskutiert wird, versucht wird das ganze Phänomen gesellschaftsfähiger zu machen, lachen die chilenischen Jugendlichen über solche Bemühungen: „Graffiti kommen von der Straße und da gehören sie auch hin“, meint ein anderer Jugendlicher der Gruppe.
Ob Graffiti in einem Land wie Chile überhaupt jemals wirklich gesellschaftsfähig werden können oder sollen, sei einmal dahingestellt. Ganz sicher ist jedoch Eines: Solange in Chile die Vielschichtigkeit dieser Jugendsubkultur nicht erkannt wird und man sich auch nicht darüber im Klaren ist, dass sie schon längst eine Symbiose mit traditionellen Kunstformen wie dem muralismo eingegangen ist, solange werden noch viele Wände wie diese hier in Iquique bemalt werden.

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