Argentinien | Musik | Nummer 574 - April 2022

MIT FUNKELNDEN MESSERN

Marilina Bertoldis neues Album Mojigata erschüttert mit lesbischer Sichtbarkeit den argentinischen Rock

Von Jara Frey-Schaaber

„Die einzige Person, die diesen Preis gewonnen hat und kein Mann ist, war Mercedes Sosa vor 19 Jahren. Heute gewinnt ihn eine Lesbe.“ Mit diesen Worten nahm Marilina Bertoldi 2019 den wichtigen argentinischen Musikpreis Gardel de Oro für ihr Album Prender un fuego (Ein Feuer entfachen) entgegen. Wie unverzichtbar diese Sichtbarkeit ist, weiß Bertoldi selbst nur zu gut. Aufgewachsen in der Kleinstadt Sunchales in der Provinz Santa Fe, scheiterte sie in ihrer Jugend bis zur Verzweiflung daran, einen Ausdruck für ihr Begehren zu finden. Jahrzehnte nach ihrem lesbischen Comingout kämpft sie nun für echte Diversität. In ihrer Musik können sich auch jene wiederfinden, die sonst keinen Platz haben.

Mojigata heißt Bertoldis viertes, selbst produziertes Soloalbum. Der Titel nimmt Bezug auf eine eher im ländlichen Raum genutzte abwertende Bezeichnung für Personen, die nur keine Aufmerksamkeit erregen wollen. Auch Bertoldi legt es nicht darauf an, zu provozieren, eckt aber mit ihrer bloßen Anwesenheit als lesbische Frau im Musikbusiness oft genug an. Oftmals wurde sie auf Festivals von Musikern und Managern angefeindet: Sie ruiniere den Rock, sei Teil einer Bewegung, die auf Repräsentation und Vielfalt mehr Wert lege als Qualität.

Mojigata ist ein erneuter Beweis, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Platte ist eine absolut notwendige Erneuerung, die dem argentinischen Rock überhaupt erst eine Zukunft schafft. Das stellen zehn Lieder und ein kurzes Intro eindrucksvoll unter Beweis. Kaum einer der Songs ist länger als drei Minuten, sie bleiben schnörkellos auf das Wesentliche reduziert. Eingängige Riffs, eine unglaublich präzise groovende Rhythmusgruppe, kurze, prägnante Gitarrensoli. Dazu singt, flüstert, schreit, knurrt Bertoldi mit ihrer unvergleichlichen Stimme.

Auch die Texte sind schlicht, aber umso eindrücklicher, die fast abgehackt wirkenden Sätze zutiefst argentinisch und durchzogen von Anglizismen, eine Hommage an ihre Vorbilder Fiona Apple und Sheryl Crow. Es geht um Alltägliches, psychische Probleme, Begehren. Im funky „Vivo Pensando en Ayer“ (Ich lebe ans Gestern denkend) wacht im Hintergrund eine Stimme auf, die später in „Beso, Beso, Beso“ (Kuss) poltert. Im Interview beim Programm Caja Negra verrät Bertoldi, dass diese Stimme eine Art vertonte Neurose sei. Denn in der queeren Community gebe es einen feinen Sinn für Humor, ausgelöst von dem Trauma, mit dem dort alle umgehen müssen.

Queeres Begehren ist auch Thema der bisher produzierten Musikvideos. In der sphärischen Ballade „Amuleto“ (Amulett) tritt Bertoldi mit der chilenischen Sängerin Javiera Mena auf. Im Video wird der Tagtraum einer erotischen Begegnung zwischen Mena als Ärztin und Bertoldi als Patientin inszeniert – laut Bertoldi das erste Video zweier offen lesbischer Musikerinnen aus Lateinamerika. Weniger subtil tritt die Musikerin in „La Cena“ (Das Abendmahl) gemeinsam mit der Sexworkerin und Aktivistin María Riot in einem ländlichen Anwesen auf. Das Video spielt mit der Romantik der Gauchos und ist gleichzeitig eine lesbische Utopie, die Klischees und Binaritäten aufwirft, um sie dann wieder zu verwerfen.
„Ich verbringe die Zeit damit, Messer zu schleifen“, faucht Bertoldi in „La Cena“ und es ist das Funkeln dieser Messer, das ausreicht, um die Dinosaurier des Rocks zittern zu lassen. Aber, wie sie selbst sagt: „Das Beste kommt erst noch, und der Rest kann brennen.“

Marilina Bertoldi // Mojigata // Pelo Music // veröffentlicht am 18. März 2022 // 11 Lieder, 26:50 Minuten


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