Aktuell | Brasilien | Nummer 611 – Mai 2025

Mit Gesetzen und Getreide

Kämpfe gegen die extreme Rechte Brasiliens

Das Ende der Regierung Jair Bolsonaro (2019 – 2023) brachte nicht das Ende des Bolsonarismus, geschweige denn der extremen Rechten in Brasilien, mit sich. Die Folgeregierung Lula, die im Januar 2023 angetreten ist, hat eine fortschrittliche und demokratische Politik wieder aufgenommen, konnte aber die Rückschritte der Vorgängerregierung nur bedingt widerrufen. LN sprach mit Denise Simeão vom Sekretariat für politische Bildung der Partei Sozialismus und Freiheit und mit Ayala Ferreira von der nationalen Direktion des Menschenrechtssektors der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) über Strategien zur Bekämpfung rechter politischer Kräfte.

Von Karina Tarasiuk

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Ele Não “Der-Nicht”– Bewegung bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (Foto: Sâmia Bomfim via Flickr (CC BY-SA 2.0))

2018 wurde der ultrarechte Jair Bolsonaro von der Liberalen Partei (PL) mit einem „Anti-System“-Diskurs gewählt, der den Neoliberalismus in der Wirtschaft und den Konservatismus in Bezug auf die Gesellschaft vertritt und mit Nostalgie auf die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 zurückblickt. Die Ära Bolsonaro hat viele fortschrittliche Politiken zerstört, die die vorherige linke Regierung 13 Jahre lang (2003 – 2016) versucht hatte aufzubauen. Während der in seine Amtszeit fallenden Covid-19-Pandemie hat Bolsonaro die öffentliche Gesundheit des Landes vernachlässigt und die Opfer verhöhnt.

Im März dieses Jahres ließ der Oberste Gerichtshof zudem die Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten formell zu: Jair Bolsonaro soll an dem Putschversuch vom 8. Januar 2023 beteiligt gewesen sein – dem Tag, an dem der Nationalkongress, der Planalto-Palast und das Oberste Bundesgericht (STF) in Brasília gestürmt und verwüstet wurden (siehe LN 598). Der Gerichtshof kündigte ein Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten an. Trotz zahlreicher Beweise und Hinweise auf seine Rolle als einer der Drahtzieher der Angriffe auf die demokratischen Institutionen des Landes bleibt das politische Phänomen des Bolsonarismus stark – mit Unterstützer*innen sowohl im Nationalkongress als auch in zivilen und staatlichen Institutionen. Der Bolsonarismus stellt somit eine anhaltende Bedrohung für die Demokratie in Brasilien dar, ebenso wie für die Menschenrechts- und Umweltpolitik. Doch es gibt auch eine vielfältige, breite Bewegung an Menschen, die gegen ihn kämpft. Im Kontext der vom 27. bis 30. März von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Konferenz „Good Night Far Right – Strategien gegen Rechts“ sprachen die LN mit zwei brasilianische Referentinnen über deren Strategien zur Bekämpfung der extremen Rechten innerhalb der Institutionen durch Parteipolitik sowie außerhalb durch die Organisierung sozialer Bewegungen: Denise Simeão vom Sekretariat für politische Bildung der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) und Ayala Ferreira von der nationalen Direktion des Menschenrechtssektors der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST). Die Referentinnen sind überzeugt: Die extreme Rechte muss sowohl innerhalb als auch außerhalb der formalen Strukturen der Politik bekämpft werden. Das Narrativ der Rechten umkehren Denise Simeão glaubt, dass die brasilianische Gesellschaft lange gebraucht hat, um die Bedeutung der Bedrohung durch die extreme Rechte zu verstehen. „Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erlebten wir in Lateinamerika eine Situation, die wir die ‚Rosa Welle‘ nannten, mit vielen fortschrittlichen Regierungen.“ Die „Rosa Welle“ war ein politisches Phänomen in Südamerika, das durch die Wahl von Regierungen der progressiven Linken in Opposition zu den neoliberalen Reformen der 90er Jahre geprägt war. „Wir haben die Auswirkungen der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus, des Neoliberalismus und der Wirtschaftskrise von 2008 selbst nur langsam verstanden“, erklärt sie. Diese „Naivität“ hielt bis 2018 an: „Als Bolsonaro kandidierte, glaubte niemand, dass er gewählt werden würde.“ 2018 war ein Jahr, welches von Gewalt und der Verbreitung von Desinformation geprägt war – die Verbreitung von Fake News über WhatsApp war eine der Strategien, die Jair Bolsonaro zum Wahlsieg verhalfen. Am 14. März wurde die der PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) zugehörigen Stadträtin Marielle Franco ermordet (siehe LN 598). Die Schwarze, queere Feministin setzte sich für Menschenrechte ein und kritisierte das Verhalten der Militärpolizei in den Außenbezirken von Rio de Janeiro, nachdem sie mehrere Fälle von Machtmissbrauch gegenüber Anwohner*innen von Randgemeinden angeprangert hatte. Erst im Jahr 2024 konnte die Generalstaatsanwaltschaft die Verantwortlichen für das Verbrechen ermitteln.

Simeão hebt eine wichtige Mobilisierung hervor, mit der versucht wurde, Bolsonaros Wahl zu verhindern: Die Bewegung “Ele não” (Der nicht), die von Frauen angeführt wurde, die auf die Straße ging, um gegen Bolsonaros sexistische, rassistische und homofeindliche Positionen zu demonstrieren. Diese Mobilisierung war jedoch letztendlich nicht ausreichend – Bolsonaro wurde trotzdem gewählt. Daraus schließt Simeão, dass „der Weg, den wir einschlagen müssen, [auch] darin besteht, innerhalb der Institutionen, im Parlament, zu kämpfen.“

Ihre aktuelle Strategie bestehe darin, „an die Themen anzuknüpfen, die die Menschen mobilisieren können”, so Simeão. Als Beispiele nennt sie die Besteuerung großer Vermögen und die Verkürzung der Arbeitszeit, die neben Aktionen im Kongress auch eine Präsenz auf der Straße erfordern. „Die Mobilisierung ist von grundlegender Bedeutung, man muss mit einem Bein in diesem institutionellen Kampf stehen, aber auch mit einem Bein in der Mobilisierung. Andernfalls wird es für uns sehr schwierig sein, der extremen Rechten Niederlagen abzuringen“, erklärt sie.

Es sei auch entscheidend, die Logik der extremen Rechten zu verstehen, um ihr wirksam entgegentreten zu können, bekräftigt Simeão. „Ein Beispiel dafür ist die Genderfrage – eines der Themen, die von der extremen Rechten gezielt gewählt wurden, um eine moralische Panik zu schüren.“ Diese moralische Panik bedroht die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen derzeit akut. 
„Es geht auch darum, um Deutungshoheit und Narrative zu kämpfen.“ Ein konkretes Beispiel dafür ist der Gesetzentwurf 1904/2024, der von einem Mitglied der liberalen Partei (Partido Liberal), der rechtskonservativen Partei Bolsonaros, eingebracht wurde. Er sieht vor, Abtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche mit dem Straftatbestand des einfachen Mordes gleichzusetzen – selbst in Fällen, in denen die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Das würde bedeuten, dass ein Vergewaltigungsopfer im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs härter bestraft würde als der Täter selbst.

Die Strategie der Linken, um den Gesetzentwurf zu stoppen, bestand darin, das Narrativ umzudrehen, es „Vergewaltigungsgesetz“ zu nennen und den Satz „Kinder sind keine Mütter“ zu rufen. „Wenn es uns gelingt, den Platz dieses Narrativs zu sichern, gewinnen wir die Debatte in der Gesellschaft. So haben wir eine breite Unterstützung gewonnen: Das Gesetz wurde von einer großen Mehrheit abgelehnt, es gab Mobilisierungen auf der Straße und das Gesetz wurde von der Tagesordnung genommen, es kam nicht zur Abstimmung.“ Das Wichtigste sei es, „darüber nachzudenken, wie man die Menschen erreicht“.

Kampf für die Agrarreform

Ayala Ferreira ist in der nationalen Direktion der Bewegung der Landlosen Landarbeiter (MST) aktiv, eine Bewegung, die seit 41 Jahren für eine Agrarreform kämpft. Sie weist darauf hin, dass die Agrarreform in der Bundesverfassung vorgesehen ist und es sich daher nicht um einen revolutionären Kampf handelt, sondern um einen Kampf für ein gesetzliches Recht: „Wenn das Land seine soziale Funktion nicht erfüllt, ist es Aufgabe des Staates, es sich anzueignen und für die Agrarreform bereitzustellen.“

Sie betont auch, dass kein Kampf individuell sei: „Wir sind kollektive Subjekte, die in diesem Kontext der Rechtsverletzungen leben. Die Auseinandersetzung damit muss also auch ein kollektiver Kampf sein“. Im Fall des Kampfes um Land geht es nicht nur um sesshafte Bauernfamilien, sondern auch um Indigene Völker, Quilombolas (Gemeinden der Nachfahren ehemals versklavter Menschen, Anm. d. Red.) und ribeirinhos (Gemeinden, die an Flussufern angesiedelt sind und von Fischfang und Landwirtschaft leben, Anm. d. Red.): „Gemeinschaften, für die eine Beziehung zur Natur im Zentrum ihres Lebens steht“, wie Ferreira sagt. Deswegen müsse der Kampf gegen die extreme Rechte kollektiv und vor allem pluralistisch sein sowie „verschiedene Erfahrungen und verschiedene Flaggen verbinden“.

Wie andere soziale Bewegungen ist auch die MST seit 2016 Angriffen von rechts ausgesetzt, insbesondere im Zusammenhang mit der Amtsenthebung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff. Ferreira erwähnt, dass die Anti-Links-Politik unter der Regierung Bolsonaro besonders stark war. Jene hatte den Kampf für eine Agrarreform enorm behindert und die MST mit Fake News und Hassreden angegriffen – die MST war ständig das Ziel medialer und gerichtlicher Kriminalisierung, einschließlich der Versuche, sie als „terroristische Organisation“ einzustufen. Bolsonaro setzte sich auch aktiv gegen die Abgrenzung Indigener Territorien und gegen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt ein.

Ferreira zufolge hat die grundlegende Anzweiflung der Agrarreform Auswirkungen, die über die Verweigerung eines verfassungsmäßigen Rechts hinausgehen: „Wenn man die Agrarreform in Frage stellt, stellt man eine Perspektive der landwirtschaftlichen Produktion in Frage, die auf die Versorgung des heimischen Marktes ausgerichtet ist. Wir haben es in Brasilien heute mit steigenden Lebensmittelpreisen zu tun. Das Problem der steigenden Lebensmittelpreise in Brasilien hängt mit dem agrarindustriellen Produktionsmodell zusammen“.

Die Agrarindustrie – eine Hauptverursacherin der Umweltkrise – zielt weniger auf die Versorgung der brasilianischen Bevölkerung ab, sondern konzentriert sich vor allem auf den Export von Monokultur-Produkten wie Soja, Kaffee, Eukalyptus und Zuckerrohr. Laut Studien des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) stammen jedoch rund 70 % der Lebensmittel, die in brasilianischen Haushalten konsumiert werden, aus kleinbäuerlichen Familienbetrieben – ein entscheidender Faktor für die Ernährungssicherheit im Land.

Land für die Ernährung des Volkes

Als Antwort auf diese alarmierende Schieflage hat sich die Landlosenbewegung der Förderung einer gesunden und vielfältigen Nahrungsmittelproduktion verschrieben.

Trotz massiver Angriffe durch die Regierung Bolsonaro blieb die Organisation aktiv und wandte sich den alltäglichen Problemen der Bevölkerung zu, insbesondere während der COVID-19-Pandemie. Diese praktische Solidarität diente zugleich als strategische Neupositionierung. Während ein großer Teil der Bevölkerung unter Hunger litt und die Regierung soziale sowie gesundheitliche Fragen vernachlässigte, verteilte die Bewegung allein in den ersten beiden Pandemiejahren über 6.000 Tonnen Lebensmittel – eine Initiative, die mit dem Preis des UN-Sozialpakts gegen den Hunger ausgezeichnet wurde
„Es war eine Zeit, in der wir uns der Gesellschaft stärker geöffnet haben, und heute ernten wir die Früchte dieser Fähigkeit, die Situation richtig gelesen zu haben und zu sagen: ‚Seht her, jetzt ist es an der Zeit, dass wir diese Agrarreformsiedlungen, diese Orte, an denen wir Lebensmittel produzieren können, nutzen, um uns auf die Organisation dieser Gebiete zu konzentrieren‘“. Während die Regierung Bolsonaro die MST angriff, half die Bewegung der hungernden Bevölkerung. Die MST konnte so zeigen, dass sie im Gegensatz zu dem, was die extreme Rechte darstellen wollte, keine kriminelle Bewegung war, sondern eine Bewegung, die die grundlegenden Probleme der Bevölkerung auf struktureller Ebene angeht und dabei konkrete Verbesserungen bewirken kann – anders als rechte Parteien. Ferreira erklärt: „Bolsonaro hat nie das Leben verteidigt. Als sich alle Sorgen machten, wie man mit der Pandemie umgeht, wie man das Leben schützen und erhalten kann, sagte er abfällig: ‚Ach, das ist jedermanns eigenes Problem. Lasst uns mit der Arbeit weitermachen. Ich werde den Impfstoff nicht garantieren.‘ Im Gegensatz zu ihm verteidigen wir [die MST] das Leben.“

Öffnung hin zur Gesellschaft

In den vier Jahrzehnten ihres Wirkens hat laut Ferreira die Bewegung die Kohärenz ihres politischen Projekts beibehalten, was für Ferreira ihre wichtigste Grundlage ist. „Wir haben unsere Ziele nicht aufgegeben, auch nicht in sehr schwierigen Zeiten, wie es beim Vormarsch der extremen Rechten in Brasilien der Fall war. Wir sind diesem Prinzip, das am Anfang unserer Bewegung stand, treu geblieben, und die Ausweitung der Solidarität ist das, was für die Menschen grundlegend war, um die Bewegung heute anzuerkennen und sich mit ihr zu identifizieren.“

Ein weiterer Weg, über den sich die Landlosenbewegung (MST) Sichtbarkeit verschafft hat, ist die Verbreitung ihrer charakteristischen Kappe mit der Flagge der Bewegung. Was früher ausschließlich von Mitgliedern getragen wurde, hat sich mittlerweile auf ein breiteres progressives Spektrum ausgeweitet – auf Unterstützer*innen der Bewegung sowie auf Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzen. „Unabhängig davon, ob jemand direkt mit einer Siedlung oder der Organisationsstruktur verbunden ist, erkennt er in der Kappe, im Symbol, in der Fahne, in der Militanz eine Praxis, auf die er stolz ist“, erklärt Ferreira. „Niemand setzt sich das Symbol einer anderen Organisation auf den Kopf, wenn er sie nicht als Vorbild betrachtet.“ Die rote Kappe mag wie ein kleines Detail erscheinen – und doch steht sie für ein von linken Bewegungen geprägtes, erfolgreich etabliertes Narrativ.


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