Modellstadt nicht nur für die Dritte Welt
Curitibas Probleme…
Trotz der zitierten eindrucksvollen Superlative bleibt Curitiba eine Stadt der Dritten Welt. Straßenkinder machen aus der Straße eine informelle Einkaufsquelle, AutofahrerInnen beachten hier ebenso wenig wie sonst in der Dritten Welt das Rotlicht der Ampeln, Elendsslums signalisieren auch hier das Mißverhältnis zwischen Wohnungsbedarf und Wohnungsangebot:
Sieben Prozent der 1,3 Millionen Einwohner Curitibas wohnen in ungeregelten Stadtrand- und Elendssiedlungen. Eine Folge der drastischen Bevölkerungszunahme in den 60er und 70er Jahren, als die Bevölkerungszahl von 345.000 (1960) auf 1.025.000 (1980) sprang, um sich in den 80er Jahren auf dem hohen Niveau von knapp 1,3 Millionen zu stabilisieren. Freilich: Die Bevölkerungsdichte läßt sich bei weitem nicht mit der von Los Angeles (11,5 Millionen Einwohner auf 5.300 Quadratkilometer) vergleichen. Den der Großraum Curitiba hat 1,976 Millionen Einwohner, die sich auf eine Fläche von 8.736 Quadratkilometer verteilen. Die Kernstadt Curitibas reicht jedoch mit 1,23 Millionen Einwohnern auf rund 500 Quadratkilometer an die Konzentrationsindizes von Los Angeles heran. 44 Prozent der Wohnungen verfügen nicht über einen Anschluß an die städtische Kanalisation, ein höherer Prozentsatz als beispielsweise in Belo Horizonte oder Sao Paulo. Eines von 40 Kindern stirbt vor Vollendung des ersten Lebensjahres (in Porto Alegre nur eines von 80 Kindern). Ein Fünftel der schulpflichtigen Bevölkerung ist des Lesens und Schreibens unkundig (mehr als in Belo Horizonte). Mehr als 700 Personen sterben jährlich infolge eines Verkehrsunfalls, eine Rekordzahl unter den brasilianischen Metropolen.
…und trotzdem ein Modell
Was macht Curitiba trotzdem zur Modellstadt? Hier möchte ich lediglich drei hervorragende Eigenschaften dieser Stadt etwas näher erläutern: Das integrierte Verkehrsnetz (Rede Integrada de Transportes RIT), das Müllsortier- und -sammelsystem und den Stadtentwicklungsplan (Plano Diretor)
Integriertes Verkehrsnetz
Trotz der großen Zahl von Verkehrstoten ist das Transportsystem Curitibas zum Aushängeschild Nummer eins geworden. Das integrierte Verkehrsnetz besteht aus insgesamt vier verschiedenen Buslinien, die mit einer Gesamtlänge von 791 km rund 80 Prozent der Stadtfläche Curitibas abdecken (eine hundertprozentige Deckung ist bis zum Jahr 1998 mit einer Investition von 80,6 Millionen US-Dollar geplant). Diese Linien werden über insgesamt zwanzig Integrations-Busbahnhöfe so miteinander verbunden, daß der Fahrgast mit einem einzigen Ticket zu einem Einheitspreis und mit bis zu viermaligem Umsteigen jeden Punkt Curitibas mit einem Bus erreichen kann.
Hervorstechendes Merkmal dieses Verkehrssystems sind seine Schnellbuslinien. Ihre insgesamt 313 rote Schnellbusse verkehren auf Exklusivspuren die die konzentrisch verlaufenden Verkehrslinien der peripheren Stadtteile mit dem Stadtzentrum verbinden. Obwohl auf diese Schnellbusse mit 48 Linien lediglich 316 km oder rund 40 Prozent des integrierten Verkehrsnetzes entfallen, sind diese Expressbahnen für die weltweit anerkannte Effizienz des curitibanischen Verkehrsnetzes entscheidend. Obwohl in der Effizienz durchaus mit einer U-Bahn vergleichbar, ist insbesondere das “ligeirinho”-Netz erheblich billiger als eine U-Bahn: Die Anlage- und Betriebskosten betragen rund ein Zwanzigstel der entsprechenden Kosten für ein U-Bahnetz. Durch “tubenartig” gebaute Busstationen, die das Lösen des Fahrscheins vor Betreten des Busses ermöglichen, wird der Zeitbedarf für den Einstieg auf ein Viertel der bei normalen Bussen benötigten Zeit gesenkt. Zusammen mit der Benutzung von exklusiven Busspuren soll dadurch die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit auf 32 Kilometer pro Stunde verdoppelt werden, womit die Fahrzeit bei einer Strecke von 20 km um bis zu eine Stunde verkürzt werden kann
Die Akzeptanz des öffentlichen Nahverkehrs in der Bevölkerung ist so groß, daß 75 Prozent der Stadtbevölkerung lieber mit öffentlichen Verkehrsmitteln als mit privaten fahren (Rio: 57 Prozent, Sao Paulo: 45 Prozent). 28 Prozent der rund 500.000 privaten PKW der Stadt bleiben werktags unbenutzt. Damit wird 25 Prozent weniger Kraftstoff verbraucht als in vergleichbaren Großstädten wie Recife und Belo Horizonte.
Zwar zählt der Bustarif in Curitiba mit 8.000 Cruzeiros zu den teuersten, doch dafür kann man mit einem Einheitsfahrschein dank des vollintegrierten Verkehrssystems Ziele im gesamten Netz erreichen. Und das System erhält von der Stadt keine öffentlichen Gelder, im Gegensatz etwa zu Sao Paulo, wo das Nahverkehrssystem mit täglich einer Million Dollar bezuschußt werden muß. Auch bei der Ausweitung des Schnellbusnetzes will die Stadtverwaltung den Staatsanteil möglichst gering halten: An dem für die nächsten vier Jahre geplanten Ausbau der 41,7 km langen Nord-Süd-Achse und der 37,4 km langen Ost-West-Achse soll sich die Gemeinde mit 35,2 Millionen US-Dollar, der Privatsektor aber mit 45,4 Millionen US-Dollar beteiligen. Das Verkehrsnetz wird mittels Konzessionen von privaten Unternehmen betrieben. Oberbürgermeister Jaime Lerner erklärt, er könnte “den geringsten Bustarif Brasiliens einführen; doch die Stadt zieht es vor, woanders zu investieren und das Verkehrssystem kostendeckend zu betreiben. Die Menschen sind zufrieden.” Die erwähnte Kraftstoffeinsparung von 25 Prozent brachte Bürgermeister Lerner 1991 den Preis des Washingtoner Internationalen Instituts für Energieeinsparung ein.
Müllsortierung und Müllsammlung
Eine ähnliche Anerkennung hatte der Bürgermeister ein Jahr zuvor mit seinem Müllverwertungssystem erhalten, damals war es der Umweltpreis 1990 der Vereinten Nationen.
Dieses System läßt sogar die Favelas von Curitiba anders aussehen als in den anderem Großstädten Brasiliens: Die Straßen sind inzwischen beleuchtet und sauber, weil die Slumbevölkerung beim Sammelsystem aktiv mitmacht.
Gegen Abgabe von recycelbarem Müll erhält der Sammler einen Gutschein zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder zum Bezug von Schulmaterial, von Gemüse oder Lebensmitteln. Zwanzigtausend Familien der ärmeren Stadtviertel beteiligen sich an dieser sogenannten “Aktion Grüntausch”. Bereits 95 Prozent des Mülls von Curitiba werden auf diese Weise sortiert. Zum Vergleich: In Montreal wird lediglich ein Anteil von zehn Prozent des Hausmülls sortiert. So werden in Curitiba monatlich 750 Tonnen recyclebaren Materials an die lokale Industrie verkauft.
Der Stadtentwicklungsplan
Dem Stadtentwicklungsplan und seinem Autor, Oberbürgermeister Jaime Lerner, verdankt es Curitiba, daß die Verdreifachung der Bevölkerung in zwei Jahrzehnten nicht zur Verschärfung sozialer und ökologischer Probleme geführt hat. Denn statt, wie noch zu seiner ersten Amtszeit im Jahre 1971, auf gigantische Bauwerke wie Brücken, Straßen, U-Bahnen und Wasserbauten zu setzen, ließ sich Architekt Lerner vom Konzept einfacher Lösungen leiten: Er verbannte die Autos aus der Stadtmitte und führte Fußgängerzonen ein, schuf Exklusivspuren für Autobusse, legte in der ganzen Stadt zahlreiche Grünflächen an und entwickelte damit einen Gegenentwurf zum Stadtentwicklungsplan Brasílias: Statt die Stadtviertel nach Funktionen aufzuteilen (Regierungsviertel, Botschaftsviertel, Bankenviertel, Handelsviertel, Wohnviertel), setzte er auf die bunte Mischung von Funktionen, Stilen, Kulturen und Ethnien.
Heute verfügt die Stadt Curitiba über 1.700 Hektar Parks, das entspricht einem Anteil von vier Prozent an der 430 Quadratkilometer großen Kernstadtfläche. Die Parks entstanden als Ergebnis der Suche nach einfachen Lösungen für ein gravierendes Problem in einer vom Regen überreichlich bedachten Stadt: Statt Flußläufe einzudeichen, zu vertiefen und zu kanalisieren, legte die Stadt zahlreiche Seen an. Von weiten Parks umgeben, erfüllten sie seitdem eine regulierende Funktion bei immer wieder auftretendem Hochwasser. Die Überschwemmungen beschränken sich zumeist auf die umgebenden freien Flächen und lassen Häuser und Straßen unberührt.
Auch beim Wohnungsbau vertritt Lerner ein Mischkonzept. Statt eintöniger Betonklötze ließ er im Stadtkern kleinere Wohnungseinheiten errichten. Die einzelnen Häuser dürfen dabei durchaus unterschiedlich sein. Auf unterschiedliche Funktionen wurde vor allem im historischen Stadtzentrum geachtet. Statt dieses für die Ansiedlung von Bank-, Versicherungs- und Holdingbüros zu reservieren, die nach Feierabend gewöhnlich eine öde Innenstadt hinterlassen, wurde die Einrichtung von Imbißbuden, Restaurants, Büchereien, Theatern, Kinos und Wohngebäuden gefördert. Zum Anziehungs- und Treffpunkt in der Stadtmitte haben sich mittlerweile die “24-Stunden-Straße”, in der eine 120 Meter lange Galerie 34 Läden unter einem Glasdach beherbergt, die Fußgängerzone und der historische “Platz der Ordnung” entwickelt. Es gelang so, den Verfall des Stadtzentrums, wie er etwa in Sao Paulo immer noch weitergeht, zu verhindern. 1993 wurde zum 300-jährigen Jubiläum der Stadt ein regelrechtes Feuerwerk an bunten, multikulturellen Festen und Veranstaltungen in zum Teil eigens errichteten einfachen Draht- und Eisenbauten ge-startet, darunter in der “Draht-Oper” (Opera de Arame), deren Grundriß von Lerner selbst entworfen wurde.
Kein Wunder, wenn Curitiba unter diesen Umständen mit jährlich zehn Mordfällen auf 100.000 Einwöhner weit unterhalb der Kriminalitätsraten von Sao Paulo und Rio de Janeiro liegt. Die Werte für Umweltverschmutzung sind halb so hoch wie die von Sao Paulo und geringer als die von Porto Alegre in Rio Grande do Sul. Pro Einwohner stehen 54 Quadratmeter Grünfläche zur Ver-fügung. Die Bewohner von Sao Paulo haben nur ein Dreizehntel, die von Belo Horizonte nur ein Zehntel dieses Angebots.
Kein Wunder auch, wenn Curitiba einen guten Ruf in ganz Brasilien genießt. Einer repräsentativen Meinungsumfrage in Rio, Sao Paulo und Bauru (Hinterland von Sao Paulo) zufolge haben 91 Prozent der Befragten “von Curitiba gut sprechen hören”, und 70 Prozent glauben gar, daß die dortigen Lebensverhältnisse besser sind als in ihren eigenen Städten.
Daß die Stadt trotzdem nicht mehr wie ein Magnet auf die von der Agrarmodernisierung betroffenen, landlos gewordenen Kleinbauern wirkt, liegt zum einen daran, daß inzwischen in der Provinz Paraná eine Kette prosperierender Mittelstädte im Binnenland des Bundesstaates entstand, die die Funktion eines Auffangbeckens wahrnehmen; zum Teil aber auch daran, daß es sich inzwischen herumgesprochen hat, daß Curitiba keine Arbeitsplätze mehr für unqualifizierte Berufe, etwa im Bausektor, sondern nur noch für höher gebildete Verwaltungsberufe und Freiberufler der gehobenen Schicht bietet.
Der Beitrag wurde gekürzt entnommen aus der Tagungsdokumentation der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Würtenberg: “Urbane Zukunft zwischen Wachstum, Ökologie und knapper Kasse.”