Amazonien | Nummer 414 - Dezember 2008

Modernes Mittelalter

Im brasilianischen Teil Amazoniens gab es noch nie ein öffentliches Gewaltmonopol

Die Konflikte um Umweltschutz, Ressourcennutzung und die Rechte der in der Amazonasregion lebenden Bevölkerung können nicht verstanden werden, ohne die dortige politische Struktur zu erklären. Sie ist geprägt durch die Privatisierung des Gewaltmonopols durch reiche GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen. Die Wurzeln dieser Strukturen reichen bis in die frühe Kolonialzeit und ins mittelalterliche Portugal.

Thilo F. Papacek

Am 29. Oktober organisierte die Heinrich Böll Stiftung in Berlin eine Veranstaltung unter dem Titel „Drogen, Dollars, Demokratie“. Verschiedene ReferentInnen sollten erklären und diskutieren, wie die internationale Drogenökonomie in Lateinamerika sich Einfluss auf die drei Gewalten des Staates kaufe und so das staatliche Gewaltmonopol unterhöhle. Dr. Regine Schönenberg war geladen, ihre Forschungsergebnisse zum Drogenhandel im brasilianischen Amazonien zu präsentieren. Gleich zu Anfang musste sie aber die Fragestellung für Amazonien richtig stellen: Ein Gewaltmonopol des Staates, unter öffentlicher Kontrolle, so die Schönenberg, habe es in Amazonien einfach nie gegeben. Von einer Unterhöhlung des Gewaltmonopols durch private Akteure könne daher keine Rede sein.
Als das kleine und bevölkerungsarme Königreich Portugal Brasilien im 16. Jahrhundert annektierte, hatten die staatlichen Beamten keinerlei Möglichkeit, das riesige Gebiet zu kontrollieren. Es blieb ihnen somit nichts anderes übrig, als die Regierung des Territoriums Privatleuten zu überlassen, die das Land von Sklaven bewirtschaften ließen. Diese Rechtsinstitution hieß sesmaria. Entwickelt hatten sie die Portugiesen seit 1375, und dann auch in Brasilien angewandt.
Insbesondere in der Amazonasregion konnte und wollte der brasilianische Staat diese Privatisierung des Staates nicht durchbrechen. Es handelte sich ja um eine wirtschaftlich marginale Region, die bis ins 19. Jahrhundert nicht viel zu bieten hatte, was man auf dem Weltmarkt hätte verkaufen können. Wo Zucker und Kaffee angebaut wurden, entstand dagegen zumindest ein rudimentärer Rechtsstaat.
So gedeihen seit der Kolonialzeit in der Amazonasregion Klientelismus und Korruption. Als der brasilianische Nationalstaat entstand, wurde de jure auch in Amazonien die Gewaltenteilung eingeführt. Doch de facto wurden Exekutive, Legislative und Judikative von den Netzwerken der Reichen und Mächtigen unterwandert. RichterInnen und StaatsanwältInnen, PolitikerInnen, Polizeichefs
und UnternehmerInnen sind in Netzwerken miteinander verbunden und helfen sich mit Gefälligkeiten. So verschwindet auch heute schnell mal eine Anklageschrift gegen einen Großgrundbesitzer wegen Auftragsmord in den Archiven der Gerichte. So kann die Gefälligkeit eines Richters gegenüber einem befreundeten Landbesitzer konkret aussehen. Der ärmeren Bevölkerung bleibt nichts übrig, als zu versuchen, sich in den Klientelsystemen der Reichen einzurichten. Sie versucht, loyal zu bleiben, zum Beispiel indem sie das Kreuz an die richtige Stelle auf dem Wahlzettel machen, und erhoffen sich als Gegenleistung den Schutz der Mächtigen.
Ab dem 19. Jahrhundert modernisierte sich aber auch die Wirtschaft in Amazonien. Zuerst mit Gummi, und später mit dem Anbau von Soja, der Rinderzucht, dem Verkauf von Edelhölzern und demnächst wohl mit Agrartreibstoffen, bietet die Amazonasregion doch Möglichkeiten für die wirtschaftlichen Eliten, sich enorm zu bereichern. So existiert eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Amazonien: Moderne wirtschaftliche Entwicklung, in Brasilien seit der Militärdiktatur staatlich gefördert, existiert neben politischen Strukturen, die aus dem Mittelalter stammen. Die Klientelsysteme der Mächtigen haben bislang erfolgreich verhindert, dass sich ein Rechtsstaat hätte etablieren können.
Die neuen wirtschaftlichen Entwicklungen bringen naturgemäß Konflikte mit der Bevölkerung, die seit Jahrhunderten in der Region ansässig ist. Gerade im weitläufigen Amazonien leben viele Menschen von der Subsistenzwirtschaft und sind kaum in die Weltwirtschaft integriert. Dabei handelt es sich mitnichten nur um indigene Gruppen, auch viele Nachfahren von Weißen und Schwarzen leben als so genannte ribeirinhos an den Ufern der großen Flüsse von Fischfang und Ackerbau. Ihr Land wird nun beansprucht für die Produktion für den Weltmarkt. Da es keine einheitliche Registrierung des Landes in Amazonien gibt, weiß kaum jemand genau, wem welches Land eigentlich gehört. Fast 50 Prozent des Territoriums der Amazonasregion ist umstritten, das heißt mehrere Parteien beanspruchen es.
Laut einem Bericht der brasilianischen Bundesregierung aus dem Jahre 1999 wurden in Amazonien mittels gefälschter Urkunden annähernd 100 Millionen Hektar illegal angeeignet. Und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß der brasilianischen Abgeordnetenkammer zur Überprüfung der illegalen Aneignung von Land in Amazonien konstatierte im Jahr 2001 allein für den Bundesstaat Pará 30 Millionen Hektar, für den Bundesstaat Amazonas 37 Millionen Hektar illegal angeeigneten Landes. Der Untersuchungsausschuß berichtete von dem Fall eines Großgrundbesitzers namens Carlos Medeiros, der sich mittels 1.200 gefälschter Eigentumsurkunden mehr als 13 Millionen Hektar Land angeeignet hatte. Nur: Carlos Medeiros gab es nicht, es war ein fiktiver Name, den die Hintermänner für ihre illegale Landaneignung und den munteren Weiterverkauf nutzten, gedeckt und in Kumpanei mit der lokalen Justiz.
Dass der Vorteil bei den Landkonflikten bei den Reichen und Mächtigen liegt, ist offensichtlich. Gerade die Amazonasregion ist geprägt von einer extremen Straflosigkeit, jedenfalls für die Verbrechen der wirtschaftlichen Eliten. Diese können sich widerrechtlich riesige Ländereien aneignen, ohne das sie irgendetwas von den örtlichen Gerichten zu befürchten haben. Wer sich den Interessen der Eliten in den Weg stellt, steht auf deren Abschusslisten; und das im wahrsten Sinne des Wortes: In fast allen Städten Amazoniens sind in bestimmten Bars oder anderen öffentlichen Orten Listen einzusehen, auf denen die Namen von GewerkschafterInnen, MenschenrechtlerInnen, AnführerInnen von Landarbeiterbewegungen und UmweltschützerInnen mit einem Preis daneben stehen. Dieser Preis wird gezahlt, wenn die entsprechende Person umgebracht wurde. Der Mord an einer AnführerIn von einer Landarbeitergewerkschaft bringt etwa 1.000 US – Dollar ein, eine MitarbeiterIn der staatlichen Umweltbehörde IBAMA bringt es dagegen auf über 10.000 US – Dollar. In der Regel werden – wenn überhaupt – nur die Auftragsmörder gerichtlich belangt. Diejenigen, die für die Morde bezahlen, haben kaum etwas zu befürchten. So wird jede Person, die Widerstand leisten will, schon durch die Präsenz solcher Listen eingeschüchtert: Wer will schon seinen Namen auf einer Todesliste finden? Die Menschenrechtskommission der brasilianischen Abgeordnetenkammer über Gewalt im Süden und Südosten Parás urteilte im Jahre 2001: „Die Namen werden erst dann von der Liste gestrichen, wenn die Personen tot sind. Anscheinend ist das Problem für die Regierung von Pará nicht wichtig. Mit dieser Taktik wird ein Klima der Angst geschaffen, welches die Landarbeiter und Anführer der sozialen Bewegungen einschüchtern soll.“
Aus diesem Grund sahen Menschenrechtsorganisationen es zunächst als einen historischen Sieg an, als einer der beiden mutmaßlichen Auftraggeber für den Mord an der Ordensschwester Dorothy Stang, der Großgrundbesitzer und Sägewerkbesitzer Vitalmiro Bastos de Moura, am 15. Mai 2007 zur Höchststrafe von 30 Jahren verurteilt wurde. Jedoch wurde das Urteil dieses Jahr wieder aufgehoben, und der zweite Auftraggeber, der Großgrundbesitzer Regivaldo Pereira Galvão befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß. Die in den USA geborene Dorothy Stang hatte der armen Bevölkerung geholfen, ihr Land vor dem Zugriff der Großgrundbesitzer zu schützen. Sie wurde im Februar 2005 ermordet.
Einer Studie von verschiedenen brasilianischen Menschenrechtsorganisationen über Landkonflikte im brasilianischen Bundesstaat Para aus dem Jahr 2004 zufolge, wurden in den 33 Jahren vor Veröffentlichung 837 Morde im Kontext von Landkonflikten begangen, vor allem an Anführern von Landarbeitergewerkschaften. In nur drei Fällen wurden die Auftraggeber verurteilt.
In dieser Wildwest-Gesellschaft florieren denn auch archaische Ausbeutungssysteme. Moderne Formen der Sklaverei werden in der Amazonasregion sogar immer häufiger. Dabei „besitzen“ die GroßgrundbesitzerInnen ihre Sklaven nicht, sondern halten sie in Schuldknechtschaft. Auf einer Farm, die über 100 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt liegt, können sich die ArbeiterInnen nicht gegen diese illegalen Ausbeutungsverhältnisse wehren. Wenn sie es versuchen, werden sie zur Zielscheibe von den pistoleiros der GroßgrundbesitzerInnen.
Und auch Gesetze, die von außen implementiert werden, obgleich mit guten Absichten, haben oft auch nachteilige Effekte: Zum Beispiel kann ein Umweltschutzgesetz traditionelle Wirtschaftszweige kriminalisieren. Ein Beispiel ist etwa der Fischfang, der in manchen Regionen verboten wurde, von dem aber die arme Bevölkerung abhängt. Nur über Klientelnetzwerke, also den Schutz der Reichen, können die armen Fischer überleben. So erlangen die Eliten auch den Rückhalt in der Bevölkerung, den sie benötigen. Gerade solche Umweltgesetze, die nicht die tatsächlichen Lebensverhältnisse vor Ort einbeziehen, haben zur Folge, dass die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit auch von der armen Bevölkerung nicht erwünscht wird. In Amazonien ist Gesetzesbruch nicht geächtet und die Ausnahme, sondern anerkannt und die Normalität.
So erscheint auch der internationale Drogenhandel in Amazonien, der an Bedeutung zunimmt, nicht als ein Bruch mit bisherigen Überlebensstrategien. Dass also ausgerechnet der Drogenhandel Rechtsstaatlichkeit und öffentliches Gewaltmonopol im brasilianischen Amazonien unterhöhlen würde, ist eine falsche Annahme. Vielmehr ist der wachsende Drogenhandel ein Geschäftszweig in einer Region, in der ein staatliches Gewaltmonopol ohnehin nie richtig bestanden hatte. Viele, ob arm oder reich, scheren sich ohnehin wenig um Gesetze.
// Thilo F. Papacek

Literatur zum Thema: FDCL (Hrsg.) // Menschenrechtsverletzungen im Amazonas – Landkonflikte und Gewalt im Grenzgebiet von Pará // Lusophonie // Eichstätten 2005 // Es handelt sich um die deutsche Übersetzung einer Studie von verschiedenen brasilianischen Menschenrechtsorganisationen. Sie kann bestellt werden unter www.fdcl.org

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