Mexiko | Nummer 423/424 - Sept./Okt. 2009

Mörder auf freiem Fuß

Gerichtshof verfügt Freilassung von am Massaker von Acteal beteiligten Paramilitärs

Am 12. August entschied der Oberste Gerichtshof Mexikos zugunsten eines Revisionsantrag der Verteidigung von Paramilitärs, die für ihre Beteiligung am Massaker von Acteal (Chiapas) am 22. Dezember 1997 verurteilt worden waren. Daraufhin wurden 20 von ihnen am nächsten Tag freigelassen. Überlebende des Massakers fürchten nun die Rückkehr der Mörder.

Thomas Zapf

Wut und Entrüstung bestimmten die Worte der Abejas, der Organisation der Opfer und Überlebenden von Acteal. In ihrem Kommuniqué vom 17. August dieses Jahres äußern sie: „Wenn du Geschenke und Unterstützung für dein Haus und Land willst, bring’ Kinder und schwangere Frauen um, und du bekommst, was immer du willst“. So fassten sie die Entscheidung der chiapanekischen Regierung zusammen, den nun freigelassenen Paramilitärs die Rückkehr in ihre Dörfer zu verweigern, ihnen aber Land in einem anderen Landkreis zur Verfügung zu stellen. Dazu muss man wissen, dass die Landknappheit wenigstens seit den 1980er Jahren ein großes Problem für die Menschen im Hochland von Chiapas darstellt, dort wo sich kurz vor Weihnachten 1997 das Massaker in dem zapatistischen Dorf ereignete. 45 Menschen wurden damals ermordet, darunter 16 Minderjährige und 20 Frauen, von denen sieben schwanger waren.
Die Entscheidung der chiapanekischen Regierung war allerdings auch eine einseitig getroffene Maßnahme. Denn die Freigelassenen äußerten laut späteren Presseberichten schon den Wunsch, wieder in ihre Dörfer in der Region Acteal zurückkehren zu wollen. Bereits im Vorfeld der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Mexikos (SCJN) äußerte Las Abejas ihre Sorge, dass die von ihnen als Paramilitärs identifizierten Gefangenen sich rächen könnten, sollten sie freigelassen werden und wieder in ihre Dörfer zurückkehren.
Ende 2006 hatte das Zentrum für Ökonomische Forschung und Lehre (CIDE) auf Vorschlag des Gastdozenten Hugo Eric Flores Cervantes die Verteidigung mehrerer für das Massaker von Acteal Verurteilter übernommen. Es erreichte, dass der Oberste Gerichtshof Mitte Juli 2007 den Fall annahm. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Rechte der Angeklagten im Laufe des Prozesses gewahrt worden waren. Pikant daran ist, dass Flores Cervantes 1999 im engeren Umfeld von Ex-Präsident Zedillo tätig war und 2006 einen Pakt mit dem jetzigen Präsidenten Calderón schloss, damit dieser, als Gegenleistung für Wählerstimmen, auf eine Revision des Falles hinwirken würde. Flores Cervantes hat das CIDE allerdings Ende 2006 verlassen.
Am 12. August dieses Jahres entschied nun der Oberste Gerichtshof, dass in dem damaligen Prozess auf unzulässige Weise erlangte Beweise verwendet worden waren und die Staatsanwaltschaft Beweismaterial manipuliert hatte, was einen fairen Prozess für die Angeklagten verhindert habe. 20 von ihnen wurden am darauf folgenden Tag freigelassen, bei zwei Angeklagten wird der Prozess neu aufgerollt. Eine Entscheidung über einen Revisionsantrag für 37 weitere Verurteilte im selben Fall steht noch aus und könnte möglicherweise die gleiche Wendung nehmen.
Selbst die Verteidigung der Familienangehörigen der Opfer und der Überlebenden, das Menschenrechtszentrum „Fray Bartolomé de Las Casas“ (Frayba), hatte öffentlich erklärt, dass die Prozessrechte der Angeklagten nicht gewahrt worden waren. Jedoch warnte die Nichtregierungsorganisation davor, dies als ausreichenden Grund für ihre Freilassung anzuerkennen. Entsprechend entrüstet äußerte sich das Menschenrechtszentrum dann schließlich auch über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, 20 Paramilitärs freizulassen: „Die Entscheidung des SCJN fördert die Straffreiheit und gefährdet die Sicherheit und das Leben der Überlebenden des Massakers. Damit wird der Oberste Gerichtshof zu einem weiteren Täter des Massakers von Acteal, der die Strategie der Aufstandsbekämpfung in Chiapas verfolgt und der absichtlichen Fehldarstellung der Ereignisse vom 22. Dezember 1997 die Tore öffnet.“ Im Zusammenhang dieser Missachtung gegenüber den Überlebenden ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der Delegation der Abejas, die am Tag der Entscheidung in Mexiko-Stadt weilten, der Zugang zum Obersten Gerichtshof verweigert wurde, um ihre Anwesenheit bei der Urteilsverkündung zu verhindern.
Die Freilassung der zwanzig Verurteilten löste ein großes Echo in der mexikanischen Öffentlichkeit aus. In mehreren Kommentaren liberaler und konservativer Zeitungen wurde die Entscheidung begrüßt. Dabei wurde die Freilassung der 20 Paramilitärs als Akt der Gerechtigkeit bezeichnet, weil ihre Rechte während des Prozesses verletzt worden seien.
Die linke Presse hingegen verurteilte die Entscheidung. So schrieb der Verantwortliche der Meinungsseite der Tageszeitung La Jornada, Luis Hernández Navarro: „Das Massaker von Acteal ist ein Staatsverbrechen, begangen von der Regierung des Präsidenten Ernesto Zedillo. Die Freilassung der Mörder von Acteal und der Vorsatz, die Geschichte des Massakers umzuschreiben, sind kein Akt der Gerechtigkeit, sondern die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ Der Kommentator bezog sich dabei auch auf die jüngste Entwicklung. Denn eine Woche nach der Freilassung der Paramilitärs wurde von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation National Security Archive (NSA) zwei kürzlich freigegebene Telegramme des US-Militärgeheimdienstes DIA veröffentlicht. Diese belegen unter anderem die Autorisierung zur Schaffung und Unterstützung paramilitärischer Gruppen in Chiapas nach dem zapatistischen Aufstand durch die Präsidenten Salinas de Gortari (1988 – 1994) und Ernesto Zedillo (1994 – 2000). Damit bestätigen sie, was Frayba seit mehreren Jahren betont: Das Massaker von Acteal war Teil einer Aufstandsbekämpfungsstrategie, die von höchster Stelle abgesegnet wurde (siehe LN 408). Das Menschenrechtszentrum beruft sich dabei auf ein Dokument des mexikanischen Militärs, welches seit Jahren bekannt ist und als Grundlage des Kriegs „niederer Intensität“ in Chiapas diente, der so genannte „Plan de Campaña Chiapas 1994“. Zudem belegt der Fund der NSA erstmals, dass das US-Militär über die Verbindung zwischen der mexikanischen Armee und paramilitärischen Gruppen informiert war, auch über deren Zusammenarbeit unmittelbar vor dem Massaker.
Infolge der Freilassung der 20 Paramilitärs und der Erklärung des Obersten Gerichtshofs, dass nicht über ihre Schuld entschieden wurde, wurde die Forderung nach einer erneuten Untersuchung laut. Die mexikanische Bundesstaatsanwaltschaft ließ verlauten, dass diese Möglichkeit weiterhin bestehe.
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen, die eine Fortsetzung der Straffreiheit durch das Urteil beklagten, forderten erneut, auch die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, darunter den Ex-Präsidenten Zedillo sowie weitere hochrangige Funktionäre, die in der Zeit des Massakers im Amt waren. Allerdings werden die Telegramme des Pentagon dabei nicht viel nützen. Nach Aussage von JuristInnen haben sie vor mexikanischen Gerichten als Dokumente aus dem Nachbarland keine Beweiskraft. Die Organisation der Opfer und Überlebenden, Las Abejas, hat allerdings erklärt, dass sie kein Vertrauen in die mexikanische Justiz habe. So scheint sich ein neues Kapitel in der unendlichen Geschichte der Straflosigkeit in Mexiko abzuzeichnen. Und die Angst der Opfer, dass sich die Situation in der Region von Acteal erneut zuspitzt, hat aufgrund der Gerichtsentscheidung neue Nahrung bekomme

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