Berlinale | Film | Nummer 573 - März 2022

MUTIGES KINO FÜR SCHWIERIGE ZEITEN

Lateinamerika gab auf der Berlinale 2022 ein glänzendes Bild ab – nicht zuletzt wegen des Umgangs mit der Pandemie

Von Dominik Zimmer

Wenn dir das Leben Limetten gibt – mach Caipirinha daraus! So könnte der Jahrgang 2022 der lateinamerikanischen Berlinale-Filme beschrieben werden. Denn wo viele Filmemacher*innen verschämt eine cineastische Realitätsverweigerung der Corona-Pandemie betrieben (Masken waren so gut wie nie auf den Festival-Leinwänden zu sehen), jammerten die Vertreter*innen des Cine Latino nicht, sondern gingen stattdessen offensiv und kreativ mit der Thematik um. Die argentinische Komödie La edad media bespielte die Meta-Ebene des Lockdown-Wahnsinns, während Três Tigres Tristes, brasilianischer Teddy-Award-Gewinner für den besten queeren Film, das Covid-Szenario als Schauplatz für die Dystopie einer anderen Virus-Epidemie nutzte. Regie-Ikone Lucrecia Martel trommelte in Terminal Norte die Musikszene von Buenos Aires zu einer Jam-Session im Norden Argentiniens zusammen, um der Tristesse der Auftrittsverbote zu entfliehen. Und El Veterano aus Chile zeigte pandemisch-stilsicher ausschließlich Standbilder von menschenleeren Straßen und Häuserfronten, während dazu eine Stimme aus dem Off eine komplexe Geschichte für das geistige Auge ausbreitete. Sehr innovativ war auch der einzige lateinamerikanische Wettbewerbsbeitrag Robe of Gems aus Mexiko. Das psychologische Epos über den Drogenkrieg wurde für seine mutigen Ansätze in Ästhetik und Erzählstruktur mit dem Silbernen Bären Preis der Jury belohnt (Seite 29).

Vor allem Frauen drückten den lateinamerikanischen Filmen dieser Berlinale ihren Stempel auf. Neben López Gallardo stachen dabei zwei Regisseurinnen mit Filmen in der Sektion Panorama heraus, die überkommene Macho-Strukturen im ländlichen Raum fachgerecht zerpflückten: Flávia Neves‘ Fogaréu schickte in Brasilien eine moderne Desperada auf Rachefeldzug gegen ihre Familie. Und Alejandra Márquez Abella zeigte in El norte sobre el vacío wenig Mitleid mit den letzten selbsternannten Cowboys Mexikos. Empowerment pur gab es dagegen im vielleicht stärksten lateinamerikanischen Beitrag dieser Berlinale zu sehen: In der kolumbianischen Dokumentation Alis stellten sich 10 Teenager*innen aus Bogotá in bewegenden Interviews ihrer Vergangenheit vom Leben auf der Straße und zeigten dabei Power, Witz und ungebrochenen Lebensmut. Der Film gewann völlig zu Recht den Gläsernen Bären für den besten Jugendfilm und den Teddy Award für die beste queere Dokumentation. Schließlich war auch noch ein Kurzfilm aus Lateinamerika erfolgreich: Manhã de domingo aus Brasilien wurde von der Jury der Berlinale Shorts für sein introspektives Porträt einer Klavierspielerin mit dem Silbernen Bären Preis der Jury (Kurzfilm) ausgezeichnet. Dass Brasilien trotz der fast vollständigen Kürzung der Filmförderung durch die Bolsonaro-Regierung das Festival mit zwei Auszeichnungen verlässt, darf getrost als kleine Sensation gewertet werden.

Die Pandemie scheint der Schaffenskraft der lateinamerikanischen Filmemacher*innen also nicht geschadet, sondern sie eher noch beflügelt zu haben. Wie jedes Jahr bleibt zu hoffen, dass möglichst viele dieser sehenswerten Beiträge bald auch den Weg ins deutsche Kino finden werden – Garantien dafür gibt es aber erfahrungsgemäß leider nicht. Wer jetzt schon auf cineastische Reise durch Lateinamerika gehen will, kann dies aber auch auf unserer Homepage tun: Unter https://lateinamerika-nachrichten.de/kultur/film/berlinale/ haben wir Rezensionen zu allen lateinamerikanischen Filmen der Berlinale 2022 veröffentlicht. Viel Spaß beim Lesen!

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