Medien | Nummer 465 - März 2013

Mythen über Medien

Venezuela verfügt über eine ausgeprägte Meinungs- und Medienvielfalt

Entgegen der Berichterstattung über Venezuela ist das Medienangebot im Land selbst in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Davon profitieren auch die privaten Medien, die überwiegend kommerzielle Inhalte anbieten. Durch die Schaffung eines „Rechts auf Kommunikation“ entstanden zudem viele Alternativmedien von unten.

Malte Daniljuk

Zu den Allgemeinplätzen über Venezuela gehört, dass es in dem südamerikanischen Land um die Meinungsfreiheit schlecht bestellt ist. Die Berichterstattung erwähnt Venezuela zumeist in Verbindung mit seinem Präsidenten Hugo Chávez, von der Springer-Presse gerne als „Tropen-Caudillo“ betitelt. Seine Regierung wird dafür kritisiert, die Medienlandschaft des Landes zum eigenen Vorteil zu zensieren. Bereits als politisch interessierte Besucher_in des Landes drängt sich eine gewisse Dissonanz zu diesen Einschätzungen auf: Bis in die abgelegensten Orte sind die Zeitungskioske mit unterschiedlichsten Zeitungen gefüllt; wer das Radio oder den Fernseher einschaltet, findet die Frequenzbänder dicht belegt mit venezolanischen, aber auch internationalen Kanälen.
Auch die Inhalte scheinen sich auf den ersten Blick nicht besonders von denen anderer lateinamerikanischer Länder zu unterscheiden: viele Telenovelas, viel Werbung. Die Darsteller_innen sind gegenüber dem Landesdurchschnitt auffällig hellhäutig und extrem schlank. Einzige Ausnahme sind die Nachrichtensendungen: Sie bestehen zum großen Teil aus Berichten über Kriminalität und hier finden auch gewöhnliche Menschen ihren Platz – als mutmaßliche Verbrecher_innen oder deren Opfer. Für die Kommunikationswissenschaftlerin Annette Massmann ist dies ein typisches Phänomen in der lateinamerikanischen Medienlandschaft. Die Bevölkerung mit geringerem Einkommen hat nicht nur schlechteren Zugang zu Medienangeboten, sie selbst, ihre Kultur und Lebenswelt kommen in den etablierten Medien einfach nicht vor. Ist Venezuela also ein ganz normaler Vertreter der lateinamerikanischen Medienkultur?
In wissenschaftlichen Beiträgen wird Venezuela eher als ein positives Beispiel für Medien- und Meinungsvielfalt diskutiert. So kommen Jairo Lugo-Ocando und Andrés Cañizales, letzterer ein nachdrücklicher Kritiker der aktuellen wie auch vorheriger Regierungen, zu der Einschätzung: „Verglichen mit anderen Ländern der Region nutzen prozentual mehr Menschen Radio- und Fernsehangebote. Medienkonsum ist in Venezuela hoch differenziert und Medienkompetenz in der Bevölkerung weit verbreitet.“ Ein Blick auf die Zahlen bestätigt, dass das Land eine moderne und vielfältige Medienlandschaft besitzt. Täglich erscheinen etwa einhundert Zeitungen, von denen immerhin acht landesweite Ausgaben veröffentlichen. Mehr als ein Drittel der Haushalte nutzen Kabel- oder Satellitenempfang, aber auch die Infrastruktur für offenes Fernsehen und Radio kann für Lateinamerika als luxuriös gelten: Im Jahr 2008 verfügte das Land über 108 Sendestationen für Fernsehen, 794 Radiosender im UKW-Bereich und weitere 210 Sender auf Mittelwelle.
Bei dem Thema Frequenzvergabe fallen öffentliche Beschreibung und tatsächliche Entwicklung besonders drastisch auseinander. Dass die Regierung im Jahr 2007 einem der größten Fernsehsender, RCTV, die Sendelizenz nicht verlängerte, führte international zu heftigen Polemiken: Von taz bis FAZ hieß es, das Land befinde sich vor dem journalistischen Blackout. Eine Überprüfung der vergebenen Lizenzen – alle Zahlen lassen sich problemlos online recherchieren – zeigt, dass die privaten Fernsehsender die Anzahl ihrer Frequenzen seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez tatsächlich mehr als verdoppelt haben: nämlich von 29 Stationen im Jahr 1998 auf 65 im Jahr 2008. Im selben Zeitraum wurden 181 neue Lizenzen an private Radiobetreiber vergeben. In beiden Bereichen nutzen private Unternehmen 60 Prozent der vergebenen Ressourcen – die von der venezolanischen Opposition beschworene „Diktatur“ sieht anders aus.
Tatsächlich wird das venezolanische Mediensystem bis heute von kommerziellen Unternehmen geprägt. Dabei dominieren besonders einzelne transnational agierende Medienkonzerne. In Venezuela sind das vor allem die Gruppe Cisneros, die mit Venevisión den Fernsehmarkt sowie mit FM Center den Radiomarkt bestimmt, aber auch das Unternehmen 1BC mit Fernseh- und Filmproduktionen oder der spanische Medienkonzern Prisa mit seinen zahlreichen Radiosendern (Unión Radio). Daneben halten sich mehrere starke Einzelnunternehmen, wie etwa Cadena Capriles, die mit Últimas Noticias die größte Tageszeitung des Landes herausgibt.
Einen Eindruck von der politischen Linie der Medien bietet der Umstand, dass drei der wichtigsten Unternehmen – die Cisneros-Gruppe, Cadena Capriles und der Verlag Bloque de Armas – nach 1958 von Exil-Kubaner_innen gegründet wurden. So überraschte es nicht, dass am 11. April 2002, beim Putsch gegen Hugo Chávez, ausgerechnet Miguel Ángel Capriles, der Gründer von Cadena Capriles, das totalitäre Dekret des Putschpräsidenten Pedro Carmona mit unterzeichnete. Bereits in der Vorbereitung nahmen die privaten Medien eine sehr aktive Rolle ein. Später gestand Eleazar Díaz Rangel, Leiter von Últimas Noticias: „Die mächtigste Kraft bei der Durchführung des Putsches waren die Medien.“
Auch zehn Jahre nach diesen Ereignissen hat sich an der aktiven politischen Einflussnahme der Medienunternehmen grundsätzlich nichts geändert. Miguel Ángel Capriles etwa ist der Onkel von Henrique Capriles, dem Präsidentschaftskandidaten der venezolanischen Opposition bei den Wahlen im Oktober 2012. Seine Tageszeitung Últimas Noticias, die vergleichsweise ausgewogen berichtet, erhielt während des Wahlkampfes eine Rüge vom Wahlrat, weil sie ihrem Kandidaten unverhältnismäßig viele Nachrichten und Werbeplätze einräumte. Dieses Capriles-Phänomen geht zurück auf die Zeit der Vierten Republik, die von 1958 bis 1998 andauerte. Praktisch alle privaten Medienunternehmen des Landes weisen enge persönliche Verbindungen zur alten politischen Klasse und jetzigen Opposition auf. Diese Symbiose zwischen alten wirtschaftlichen und politischen Eliten und den Medienunternehmen, der so genannte politische Parallelismus, ist ein in Lateinamerika weit verbreitetes Phänomen und tritt gemeinsam mit einer äußerst parteiischen Journalismuskultur auf.
In dem politisch polarisierten Land führte die Konfrontation der etablierten Medien mit der neu gewählten Regierung von Hugo Chávez dazu, dass zahlreiche Journalist_innen die privaten Medien verließen. „Damals wurden nur parteiische Nachrichten gesendet, die Medien kamen ihrer Informationspflicht nicht nach“, sagt etwa Silvia Cabreras zu ihrer Entscheidung, den Sender Venevisión zu verlassen. Zudem erreichte die Glaubwürdigkeitskrise, unter der das etablierte Parteiensystem in den 1990er Jahren zerbröselt war, auch die Medien: Die Auflagen der führenden Tageszeitungen haben sich seitdem halbiert. Präsident Hugo Chávez nutzte seinerseits die bereits vorhandenen staatlichen Medien, den Fernsehkanal VTV und den Radiosender RNV, um direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Zum einen begann er eine eigene Fernsehsendung, Aló Presidente. Um seine Politik auch über private Medien zu verbreiten, verwendete er die Nationale Kettenschaltung, die Cadena Nacional, bei der zu bestimmten Zeiten auf allen Kanälen dieselben Nachrichten gesendet werden. Beide Formate wirken in Europa befremdlich, sind aber in Lateinamerika nichts Besonderes: Viele Präsident_innen betreiben eigene Sendungen, auch die Cadena Nacional existiert in fast allen lateinamerikanischen Mediensystemen.
Beide Formate spielten eine wichtige Rolle im verfassunggebenden Prozess im Jahr 1999, der eine zentrale Änderung der Medienpolitik anstieß. Der Paragraph 57 der neuen Verfassung enthält das Recht „von jedwedem Medium Gebrauch zu machen, um das Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben“. Das „Recht auf Kommunikation“ soll somit den allgemeinen Zugang zu medialen Verbreitungskanälen sicherstellen.
Im Jahr 2000 wurde daraufhin die Gründung von Bürger- beziehungsweise Nachbarschaftsmedien verbindlich geregelt. Die Folge war ein historisch einmaliger Boom an neuen Alternativmedien. Bis heute entstanden landesweit etwa 500 neue Radio- und Fernsehsender. Alleine in Caracas senden gegenwärtig über 20 Radios und drei alternative Fernsehsender. Oft haben die Projekte eine lokale Reichweite und werden von der unmittelbaren Nachbarschaft genutzt. Einige Projekte wie Al son del 23 sind in der gesamten Stadt zu empfangen, letzterer gilt als einer der populärsten Sender in Caracas.
Zusätzlich zu diesem Boom an selbstverwalteten Medien entstanden ab 2003 mehrere öffentliche Medien. Sie sind anders als der Staatssender VTV unabhängiger gegenüber der Regierung. So können die Mitarbeiter_innen des Kulturkanals ViveTv teilweise selbst über die Inhalte der Sendungen entscheiden. Der internationale Nachrichtenkanal TeleSur und der Unterhaltungssender Tves werden durch einen Beirat beziehungsweise eine Stiftung verwaltet, wo neben Vertreter_innen des Ministeriums auch andere gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind.
Durch diese verschiedenen Initiativen für öffentliche Medien können die Venezolaner_innen sich heute aus unterschiedlichen Quellen informieren. Die Dominanz der privaten Medien wurde schwächer – nicht etwa durch Verbote und Einschränkungen, sondern indem zusätzliche Frequenzen vergeben wurden. Kritiker_innen monieren, teilweise zu Recht, dass sich an der Journalismuskultur des Landes kaum etwas geändert habe, auch die neuen öffentlichen Medien würden parteiisch berichten. Doch private, staatliche und alternative Medien stellen immerhin unterschiedliche Per­spektiven dar, auch wenn diese überwiegend einheitlich berichten. Besonders die privaten Medien sind heute weniger „Kampfpresse“, auch wenn sie weiterhin im Sinne der Opposition berichten. Gegenüber früheren Jahren sind jedoch gewisse Qualitätsstandards eingezogen.
Die wesentlichste Errungenschaft der letzten Jahre ist allerdings, dass über alternative Medien erstmals Bevölkerungsgruppen ihr Recht auf Kommunikation wahrnehmen können, die früher Opfer der von Annette Massmann festgestellten „Exklusion entlang ökonomischer Merkmale“ waren.

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