Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst
Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst
Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argentinisch-jüdisches Zentrum. In dem siebenstöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlaufstelle für bedürftige Menschen, ein Theater und ein Arbeitsvermittlungsbüro untergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jähriger Leiter des Instituts für jüdische Studien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beerdigung teilgenommen.” Das Lebenswerk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig verlorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das Attentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nutzen, versprach: “Die geistigen und materiellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kurzer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich dagegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicherheitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, erklärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsgebenden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer geladenen Stimmung gegenüber. Die Buhrufe waren auf der Tribüne nicht zu überhören.
Angesichts dieses zweiten großen Terroranschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsidenten noch vor kurzem als Erfolg verbucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das internationale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusorischen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außerdem sei diese Entscheidung ohne Zustimmung des Kongresses per Dekret verordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu machen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignissen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interessant. Immerhin scheint der syrische Waffenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Menem zu sein. Der reiche Geschäftsmann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, erhielt die argentinische Staatsbürgerschaft in der Rekordzeit von 30 Tagen – eine erstaunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken argentinischen Bürokratie. Den argentinischen Reisepaß erhalten normalerweise selbst verheiratete AusländerInnen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienangehöriger der ehemaligen Präsidentengattin. In elf Tagen erhielt er nicht nur das blaue Dokument, sondern auch noch einen verantwortungsvollen Posten in der Zollbehörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Drogengeschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsanwalt Juán José Galeano außer der zweifelhaften Aussage eines ehemaligen iranischen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag verwendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer iranischen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauderwelsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die iranische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mitglied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischsprachige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentalisten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachforschungen seien aber damals aufgrund innenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Präsidenten Menem mit Syrien” eingestellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internationaler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesellschaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemühen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklärungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Nationalität oder seines Glaubens verdächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergangenheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es unter Juan Domingo Perón zu Ausschreitungen gegenüber argentinischen Juden. Über die “Rattenlinie” gelangten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurchschnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleichzeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unterschlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungsantrag für einen deutschen Nazi aus Italien vor: Der amerikanische Fernsehsender ABC hatte den ehemaligen SS-Mann Erich Priebke in Bariloche (Provincia de Río Negro) aufgespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im September eine besondere Überraschung: Angehörige der 1944 exekutierten Italiener beabsichtigen, den argentinischen Luftkurort in Kürze zu besuchen, um dem Auslieferungsgesuch Nachdruck zu verleihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppierungen in der Bundesrepublik und Argentinien sind bekannt. Ein Forschungsprojekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeitzeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argentinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie erwähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachigen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runtergeht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventioniert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanöver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzweifelte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schändung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsituationen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine besten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten unzählige Porteños Werkzeuge und Lebensmittel zu der israelischen Rettungsmannschaft, die eigens eingeflogen worden war. Daß Angehörige von vermißten Personen allerdings Anrufe erhielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung gemacht wurde: “Ich habe Ihre Tochter lebend im Krankenhaus gesehen,” verdeutlicht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, erklärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nachbarschaft der AMIA fürchteten. Sportveranstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeutsche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. Inzwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetreten. Diese neue, schwer begreifbare Dimension des Terrors stelle die Gesellschaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheimdienste durch eine eigenständige Berichterstattung zu durchbrechen und die Isolation der bedrohten Gruppe durch Solidarität zu überwinden. Zudem sei die Meinung politisch unabhängiger Persönlichkeiten in solchen Krisensituationen äußerst wichtig. “Die können eine psychologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politisches Kapital daraus schlagen wollen”