Ecuador | Nummer 279/280 - Sept./Okt. 1997

Nach dem großen Schwindel

Ecuador im Post-Bucaramato

Sieben Monate nach dem fulminanten Rausschmiß des populistischen Präsidenten Abdalá Bucaram erholt sich Ecuador langsam von seinem Schock. In einer wahren Flut von Publikationen bemühen sich AutorInnen der unterschiedlichsten Disziplinen, das Phänomen des singenden Caudillos in Worte zu fassen. Leider hat eine der wichtigsten Errungenschaften der Massendemonstrationen vom 5. Februar – die Einberufung eines Organs für die geforderte Verfassungsreform – im bürokratischen Hürdenlauf und kongreßinternen Tauziehen an Sprengkraft verloren. Und leider ist der Rausschmiß Bucarams (vgl. LN 273) der einzige Konsens in der ecuadorianischen Gesellschaft geblieben.

Elisabeth Schumann

In seiner nur sechs Monate dauernden Amtszeit hatte der Präsident Abdalá Bucaram – “el loco” – des populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano PRE alle Rekorde gebrochen: Keiner vor ihm hatte derart dreist in die eigene Tasche gewirtschaftet und seinen Clan in die Schlüsselpositionen des Landes gehievt. Keiner hatte so selbstherrlich regiert und dabei über den kurzen Publikumserfolg hinaus so wenig an längerfristigen Konzepten eingebracht. Keiner hatte so unverhohlen die Presse- und Meinungsfreiheit in Frage gestellt und so inkohärente, aber entgegen allen Wahlversprechen drastische wirtschaftliche Maßnahmen durchgesetzt.
Und so reichte ein halbes Jahr, um auch die Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen, die in Bucaram in der Stichwahl Anfang Juli 1996 im Gegensatz zu dem Kandidaten des konservativen Partido Social Cristiano PSC, Jaime Nebot, das kleinere Übel gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Wahlsieg mit 54 Prozent der Stimmen möglich gemacht – trotz der ihm von den Medien bescheinigten Irrationalität und “Verhaltensauffälligkeit”. “O nos salvamos o nos hundimos”: Entweder wir retten uns, oder wir gehen unter. Alles oder nichts.

Nichts als Ablabla

Aber Bucaram ließ seine Versprechen platzen wie Seifenblasen: von einer Milderung der neoliberalen Anpassung keine Spur, paternalistische und inszenierte Almosen statt struktureller Hilfe, Großaufträge gingen außer Landes, keinerlei Investitionssicherheit, und das versprochene Ministerio Étnico kränkelte ebenfalls vor sich hin. Als Inbegriff des Neureichen von der Küste, der sich gegen die alteingesessenen Eliten aufbäumt und seinen Platz beansprucht, konnte er mit seinem discurso vulgar und seinem machistischem Gehabe eine Zeit lang von seiner Planlosigkeit ablenken. Mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein schaffte es Bucaram, gegen ihn gerichtete Kritik und Attakken in Stärken umzudeuten, sein selbstgebasteltes Image als loco machte ihn geradezu immun: nicht-endenwollende kitsch-triefende Auftritte als Sänger, Fußballspieler oder “Freund der Armen”, mit denen er um die Gunst der breiten Massen warb. Die staunende ecuadorianische Mittel- und Oberschicht sah darin den letzten Rest an nationaler Würde dahinschwinden. Abdalá, róbate el país, ¡pero no cantes! steht in großen Lettern auf einer Häuserwand in der Neustadt von Quito: Plündere ruhig das Land, aber sing bitte nicht!
Präsident Abdalá Bucaram wurde am 5. Februar wegen “geistiger Unfähigkeit” seines Amtes enthoben. Erst unmittelbar vor seinem politischen Ende dämmerte es ihm, daß seine Show zu Ende war, daß er die Massen nicht länger hinter sich, sondern gegen sich hatte, daß Gewerkschaften nicht mit kleinen Häppchen zufriedenzustellen sind und die Indígena-Bewegung nicht mit schnöden Versprechungen. Bucaram hatte sich selbst in einem atemberaubenden Schwindel in die absolute politische Isolation manövriert, “einsamer als die Charaktere von García Márquez” und unfähig, die Tatsachen um sich herum richtig zu deuten. Bereits seit Anfang Januar wurde im Kongreß eigentlich nur noch darüber diskutiert, wie man Abdalá am besten loswerden könnte. Daß ausgerechnet Parlamentspräsident Fabian Alarcón, der nur mittels eines Paktes mit Abdalá in den Kongreß und in sein Amt gelangt war, dessen Amtsenthebung vorantrieb und schließlich zum Interimspräsidenten ernannt wurde, lindert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht gerade. Dennoch wurde die Entscheidung des Kongresses im Nachhinein bestätigt: Am 25. Mai befürworteten in einer Volksabstimmung rund 76 Prozent der Bevölkerung die Amtsenthebung Bucarams. Für die Ernennung Alarcóns als Übergangspräsidenten stimmten aber gleichzeitig nur 68 Prozent.

Fürs Fotoalbum mit weißer Weste

Alarcón ist seit jeher das Fähnlein im Winde, stets auf Allianzen zum eigenen Vorteil bedacht. Nun selbst im höchsten Amt, scheut er klare Entscheidungen und ist als Interimspräsident abhängig vom Kongreß beziehungsweise vom den Kongreß dominierenden PSC. Innenpolitisch ist sehr wenig passiert seit dem Rausschmiß Bucarams. Alarcón hält sich bedeckt und setzt auf Schadensbegrenzung, so weit das Erbe Bucarams dies erlaubt. Viele Bestimmungen der Regierung Bucaram wurden ausser Kraft gesetzt, wie zum Beispiel der drastische Wegfall von Subventionen zum Beginn des Jahres, in anderen Fällen wurde bei bereits unterzeichneten Verträgen nachverhandelt.
Zwar wurde eine Antikorruptionskommission ins Leben gerufen, und immerhin schloß der Kongreß siebzehn Abgeordnete wegen dringenden Korruptionsverdachts aus den eigenen Reihen aus. Aber es ist nicht schwer, Korruption mit Bucaram gleichzusetzen und selbst die Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei seinem ersten Staatsbesuch in Paraguay zu Gesprächen über einen möglichen Beitritt Ecuadors in den Mercosur und das Protokoll von Rio de Janeiro war Alarcón ganz der Saubermann: eifrig bemüht, seinen rechtmäßigen Status zu unterstreichen und das Image Ecuadors zu kitten. Und was machen da schon die eine oder andere Anklage wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder im eigenen Lande…

Asamblea Light

Auch auf die zentrale Forderung der Massendemonstrationen vom 5. Februar war Alarcón vordergründig eingegangen: Die Einberufung eines Organs zur Überarbeitung der Verfassung war beschlossene Sache und durch die Volksabstimmung Ende Mai für dieses Jahr bestätigt. Doch dann ging die Diskussion um den Namen des Organs los: Asamblea Constituyente oder Asamblea Nacional? Dahinter verbirgt sich der Status der juristischen Kompetenz gegenüber Kongreß und Interimspräsidenten, und letztendlich wurde mit der Namensgebung Asamblea Nacional aus der Asamblea Constituyente eine Asamblea Light. In Ecuador ist es unter Velasco Ibarra bereits einmal dazu gekommen, daß eine verfassungsgebende Versammlung kurzerhand das Parlament aufgelöst hat, und da gingen die Abgeordneten doch lieber auf Nummer sicher.
Aber das war erst der Anfang. Während die sozialen Bewegungen auf eine schnelle Durchführung drängten, schienen die etablierten Parteien überhaupt keine Eile zu haben: lieber warten bis nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, um den schönen Wahlkampf nicht zu beeinträchtigen, und wer weiß, vielleicht ist die Zusammensetzung dann ja auch eine ganz andere… Entgegen der durch die Volksabstimmung bestätigten Fristen wurde im Kongreß ein Termin für Ende nächsten Jahres festgesetzt.

Entscheidungshilfen für Alarcón

An dieser Stelle war nun Alarcón gefragt, der gegen die Vorlage des Kongresses Veto einlegen und den mehrheitlich festgelegten Ablauf der Dinge hätte durchsetzen können. Mit einem landesweiten Streik am 11. und 12. August tat die CONAIE, die nationale Konföderation der Indígenas, ihren Unmut über die Verschleppungstaktiken kund und versuchte so, Alarcón, welcher sich hinter dem Meinungsbild im Kongreß versteckte, zu einem Veto zu zwingen. Letztendlich bedurfte es jedoch eines radikalen Sinneswandels von Jaime Nebot. Der Kopf des konservativen PSC setzte sich – auch zum Erstaunen seiner eigenen Parteikollegen – auf einmal vehement für die sofortige Durchführung der Nationalversammlung ein, um so Alarcón zu einer eindeutigen Stellungnahme, “dem Veto”, zu bewegen.
Nach einem weiteren vorläufigen Termin ist die Asamblea Nacional – derzeit – auf den 20. Dezember angesetzt, mit einer strikten Befristung auf drei Monate. Sie verfügt über weite Befugnisse zur Verfassungsreform, und die von ihr beschlossenen Änderungen werden direkt – ohne weitere Einflußmöglichkeiten seitens des Interimspräsidenten oder des Kongresses – übernommen. Die Mitglieder der Versammlung werden Mitte November gewählt, und da sie auch über die Zukunft des Kongresses und das präsidiale System befinden kann, hat der erbitterte Kampf um diese Ämter nun begonnen. Die Versammlung soll sich aus 70 Vertretern der Provinzen und 20 nationalen Vertretern zusammensetzen. Die von dem neomarxistischen Movimiento Popular Democrático MDP vorgeschlagene gemischte Personen- und Listenwahl soll die im Kongreß vorherrschenden Parteistrukturen aufbrechen und die Vertretung von Minderheiten gewährleisten. Als Wahlmodus innerhalb der Asamblea wurde die sogenannte autoregulación beschlossen, was bedeutet, daß das Organ selbst entscheidet, in welchen Fällen es mit einer einfachen oder mit einer zwei Drittelmehrheit beschlußfähig ist. Im schlimmsten Fall also langwierige Abstimm-Marathons über den Modus einer Abstimmung.

Was denn, Inhalte?

Dann ist ja jetzt alles in Ordnung: Die Versammlung hat einen Namen, ein Datum und einen Wahlmodus, die notwendige Gesetzesänderung zur Wahl der Abgeordneten ist auch schon fast auf dem Weg, aber halt – was war noch gleich mit den Inhalten? Fast drei Monate hat sich die Diskussion um technische Angelegenheiten hingezogen, und wenn die Erarbeitung von inhaltlich – programmatischen Vorlagen auch nur annähernd so vor sich hinkriecht, sind die drei Monate der Asamblea um, bevor es zur ersten Abstimmung gekommen ist. Lange Zeit hatte nur die Indígena-Organisation CONAIE ein regelmäßiges Forum, in denen mögliche Tagesordnungspunkte der Nationalversammlung und Stellungnahmen diskutiert werden. Außerdem hat die CONAIE im Rahmen der Koordinierung sozialer Bewegungen zusammen mit den Gewerkschaften für Oktober ein eigenes Vorbereitungsgremium angekündigt. Auch die anderen Parteien fangen jetzt langsam an, schon mal Schlagworte zu verbreiten. Die Vorstellungen reichen von leichten Korrekturen bis zu einer radikalen Überarbeitung der Verfassung, zum Beispiel im Hinblick auf das Präsidialsystem. Die öffentliche Debatte um die Agenda der Asamblea aber ist im Gerangel um die technischen Daten vollkommen zu kurz gekommen.
Dabei steht die Verfassungsreform seit langem auf der Tagesordnung und ist besonders im Präsidentschaftswahlkampf vergangenen Jahres durch den von Indígenas und Gewerkschaften unterstützten Kandidaten Freddy Ehlers zu einem zentralen Thema geworden. Ehlers’ Hauptforderungen waren zum einen die Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat und zum anderen die sogenannte “Unberührbarkeit” der als strategisch erachteten Sektoren wie Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. Die Debatte um den plurinationalen Staat, die 1990 während des ersten landesweiten Indígena-Streiks noch mit separatistischen Tendenzen und der Auflösung des ecuadorianischen Nationalstaates in einen Topf geworfen wurde, hat in den vergangenen Jahren breiten Rückhalt – auch in Teilen der nicht-indigenen Bevölkerung – bekommen. Eine Änderung der Verfassung in diesem Sinne würde für Ecuador einen riesigen Schritt in Richtung Anerkennung von Minderheiten und politische Partizipation bedeuten. Eine starke Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen sowie der Privatisierungsprozeß und im besonderen die Sozialversicherung werden wahrscheinlich weitere Hauptthemen der Asamblea Nacional sein.

Dieselben Kulissen

Nach Meinung des Soziologen Hernán Ibarra vom Centro Andino de Acción Popular CAAP wird sich in der Asamblea die Zersplitterung der politischen Parteien widerspiegeln, die auch den Kongreß immer wieder manövrierunfähig macht. (Ecuador verfügt über siebzehn Parteien bei rund fünf Millionen WählerInnen.) Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen: Wie kann durch die Veränderung der Konstitution eine Veränderung der Politik erreicht werden? Zwar können größere Spielräume für Staatsbürgerrechte festgeschrieben werden, ohne politische Bereitschaft sind diese jedoch nutzlos.
Es scheint, als ob das politische System Ecuadors zu verhakt und starr ist, um sich selbst zu reformieren. Die landesweite Indígenabewegung – seit den Wahlen 1996 mit der aus ihr hervorgegangenen Partei Pachakutik-Nuevo País erstmals im Parlament vertreten – bleibt die dynamische Ausnahme im Polit-Establishment. Ihre Errungenschaften in den letzten Jahren sind zweifellos wichtige Impulse auch für andere Gruppierungen, selbst wenn es im Hinblick auf Pachakutik starke Meinungsverschiedenheiten gibt.
Die Zivilgesellschaft hat sich im Februar als mächtiger Akteur gezeigt, der nicht länger bereit ist, Clownereien auf seine Kosten durchgehen zu lassen. Mit dem Rausschmiß Bucarams ist der Showmaster außer Landes, bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Kulissen jedoch als dieselben. Armut weiter Teile der Bevölkerung, Korruption in unvorstellbaren Ausmaßen und Politiker, die in ihrem alltäglichen Klein-Klein untereinander jegliche Beschäftigung mit zukunftsweisenden Projekten für das Land aus den Augen verloren haben – diese Gründe, die Abdalás Wahlsieg als Akt der Verzweiflung möglich gemacht haben, sind nach wie vor präsent. Abdalá hat Korruption, populistisches Gehabe und die “Unregierbarkeit” des Landes auf die Spitze getrieben, erfunden hat er sie jedoch nicht.
Die großen Hoffnungen auf bahnbrechende Veränderungen und ein “Neues Land” nach der Verfassungsreform sind durch den langatmigen und schwerfälligen Prozeß der Umsetzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon jetzt werden die ersten Unkenrufe laut: der Post-Asamblea-Frust kommt bestimmt. Also vom Post-Bucaramato in die Post-Asamblea-Analyse? Wann endlich kommt der Wechsel in vorwärtsgerichtete Visionen, wann der Spielraum für die im Land vorhandenen Gesellschaftsentwürfe?

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