Nach dem Referendum ist vor der Wahl
CHÁVEZ GIBT KORREKTUREN INNERHALB DES BOLIVARIANISCHEN PROZESS BEKANNT
Das neue Jahr versprach im polarisierten Venezuela versöhnlich zu beginnen. Gut vier Wochen nach dem gescheiterten Referendum über die Verfassungsreform unterzeichnete Hugo Chávez am letzten Tag des Jahres 2007 ein weitreichendes Amnestie-Dekret. Es umfasst insgesamt 13 Delikte mit politischem Hintergrund, wobei die meisten mit dem Putsch im April 2002 und der Sabotage der Erdölindustrie am Ende desselben Jahres in Zusammenhang stehen. „Wir möchten ein Land, das Richtung Frieden marschiert”, begründete Chávez das Dekret. „Niemand wird mehr behaupten können, dass er ein politischer Gefangener sei“.
VertreterInnen der Opposition und die katholische Kirche hatten in den Wochen zuvor vehement gefordert, endlich die „politischen Gefangenen” zu amnestieren. Sie kritisierten das Dekret dennoch als „nicht weitreichend genug“ und „diskriminierend“. Da es nur für jene gilt, die sich der Justiz gestellt haben und außerdem nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit anwendbar ist, kommen nicht alle an dem Putsch und der Sabotage beteiligten Personen in den Genuss der Maßnahme.
Ansonsten begann das neue Jahr in Venezuela mit einigen politischen Veränderungen. Zunächst bildete Chávez wie erwartet sein Kabinett um. Insgesamt wurden 13 der 27 MinisterInnen sowie der Vizepräsident ausgetauscht. Entscheidender als diese personellen Änderungen, die in regelmäßigen Abständen stattfinden, ist aber die neu ausgerufene inhaltliche Richtung des bolivarianischen Prozesses. Chávez erkannte offen an, die Bevölkerung mit der im letzten Jahr geplanten rasanten Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems überfordert zu haben. „Ich bin dazu verpflichtet, das Tempo rauszunehmen“, verkündete er Anfang des Jahres in seiner TV-Show Aló Presidente. An den grundsätzlichen Zielen des Aufbaus eines partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts ändere sich aber nichts. Das Projekt werde bis auf Weiteres auf Grundlage der bestehenden Verfassung weitergeführt.
Chávez verkündete als neue Leitlinie seiner Regierungspolitik die als 3R bezeichneten Grundsätze „revisión, rectificación, reimpulso“ (Revision, Korrektur, Neuantrieb). Darauf aufbauend rief er in seiner Jahresansprache vor dem Kongress am 9. Januar das „Jahr der Lösungen“ aus. Die alltäglichen Probleme der VenezolanerInnen wie Inflation, Knappheit von Grundnahrungsmitteln, Unsicherheit, Korruption und Bürokratie sollen behoben werden. Das Jahr 2007 schloss Venezuela mit einer Inflationsrate von 22, 5 Prozent ab. Anvisiert waren zwölf. Der neue Finanzminister Rafael Isea kündigte an, die Inflation in diesem Jahr auf elf Prozent zu senken, ohne jedoch Sozialausgaben kürzen zu wollen. Da die Teuerungsrate allein im Januar dieses Jahres bereits bei 3,4 Prozent lag, dürfte dieses Ziel jedoch kaum erreicht werden. Auch wenn die Inflation in den 1990er Jahren durchschnittlich zwei- bis dreimal so hoch war und der Mindestlohn seit Chávez’ Amtsantritt schneller als die Inflationsrate gewachsen ist, stellt die rasante Geldentwertung gerade für die ärmeren Bevölkerungsschichten ein Problem dar. Ebenso wie die regelmäßige Knappheit von Grundnahrungsmitteln.
„Wir möchten ein Land, das Richtung Frieden marschiert”, begründete Chávez das Amnestie-Dekret.
Während in gut sortierten Shopping Malls fast jede erdenkliche importierte Gourmetspeise erstanden werden kann, sind ausgerechnet Grundnahrungsmittel wie Milch, Zucker oder Mehl häufig nur zu üppigen Preisen auf dem Schwarzmarkt erhältlich.
Bei der Erklärung dieses Phänomens herrschen auf beiden Seiten des politischen Spektrums einseitige Erklärungsansätze vor. Laut Opposition sind die Engpässe schlicht durch die staatlich festgelegten Preise für zahlreiche Waren zu erklären. Die Regierung hingegen wirft den Lebensmittelkonzernen Spekulation und Hortung von Lebensmitteln vor. In diesem Zusammenhang schloss Chàvez zukünftige Enteignungen großer Konzerne nicht aus. Auch würden laut Regierung zahlreiche Waren illegal nach Kolumbien geschmuggelt, um sie dort zu deutlich höheren Preisen zu verkaufen. Daher wird im Grenzbereich jetzt verstärkt kontrolliert. Zudem soll die nationale Produktion deutlich angehoben werden. „Wir werden Venezuela zu einer wahren Supermacht in der Lebensmittelproduktion machen“, kündigte Chávez Mitte Januar anlässlich der Einweihung einer „sozialistischen“ Milchfabrik im Bundesstaat Zulia an. Ziel ist das Erreichen von Ernährungssouveränität. Noch immer werden jedoch etwa 70 Prozent der Lebensmittel importiert. Zwar ist die nationale Produktion in den letzten Jahren leicht angestiegen, noch kräftiger wuchs allerdings die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten.
Zur Verbesserung der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wurde jetzt eine „Flexibilisierung“ der Preisbindung angekündigt. Ob das Problem dadurch gelöst werden kann, ist aber fraglich. Der Preis für H-Milch wurde bereits im Dezember freigegeben, das Produkt ist aber immer noch rar.
Die Alltagsprobleme gilt es nicht zuletzt in Hinblick auf die Ende des Jahres stattfindenden Regionalwahlen rasch zu lösen. Voraussichtlich am 16. November sind die VenezolanerInnen dazu aufgerufen, GouverneurInnen sowie Abgeordnete der Regionalparlamente zu wählen. Ob die Wahl der BürgermeisterInnen zum gleichen Zeitpunkt oder erst im darauf folgenden Jahr zusammen mit den Kommunalwahlen stattfindet, ist noch nicht entschieden.
Die Wahlen sind von entscheidender Bedeutung für die politische Zukunft des Landes. Die Opposition, die bei den letzten Regionalwahlen mit Zulia und Nueva Esparta lediglich zwei Gouverneursposten erringen konnte, sieht sich seit Chávez’ Referendumsniederlage vom Dezember im Aufwind. Mindestens in zwölf der 24 Staaten des Landes will sie den Gouverneurssessel erobern und darüber hinaus möglichst viele regionale Abgeordnete und BürgermeisterInnen stellen, um so in Venezuela einen politischen Wandel einzuleiten. Erreicht werden soll dies durch ein Element, dessen Fehlen der Opposition in den letzten Jahren fast völlig den politischen Einfluss gekostet hat: die Einheit der anti-chavistischen Kräfte.
Symbolträchtig unterzeichneten zunächst neun Oppositionsparteien am 23. Januar dieses Jahres, dem 50. Jahrestag des Endes der Pérez Jímenez-Diktatur, ein gemeinsames Dokument mit dem Titel „Die Alternative für den Wandel“. Neben den beiden größten Oppositionsparteien Un Nuevo Tiempo (UNT) und Primero Justicia (PJ) sind unter anderem die in der politischen Versenkung verschwundenen beiden ehemaligen Regierungsparteien AD und Copei sowie die ehemaligen Linksparteien MAS und La Causa R mit von der Partie. In dem Dokument sind die strategische Ausrichtung sowie einige inhaltliche Punkte in Hinsicht auf die Wahlen aufgeführt. So will die Opposition ausschließlich gemeinsame KandidatInnen aufstellen. Auf der Basis von Konsens und Umfragewerten soll jeweils die Person antreten, der die größten Chancen zugeschrieben werden. Die jeweiligen Parteiinteressen sollen hingegen keine Rolle spielen und demokratische Vorwahlen nur dann stattfinden, wenn durch Umfragen kein eindeutiges Ergebnis ermittelt werden kann. UNT-Politiker Omar Barboza betonte, die Übereinkunft reflektiere den Wunsch der VenezolanerInnen nach Versöhnung und sei daher „keine Übereinkunft eines Grüppchens, sondern des ganzen Landes“.
Die Opposition sieht sich seit Chávez’ Referendumsniederlage im Aufwind.
Auf der anderen Seite sieht man dies wie erwartet anders. Bereits eine Woche vor der Unterzeichnung des Oppositionspapiers warnte Chávez davor, dass die Opposition im Falle weit reichender Wahlerfolge das Land destabilisieren würde. „Diese Wahlen werden von strategischem Charakter sein”, so der Präsident. Daher werden auch die chavistischen Kräfte gemeinsame KandidatInnen für die Wahlen aufstellen. Nach der Gründung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), die am 9. März diesen Jahres abgeschlossen sein soll, wird über die Auswahl der KandidatInnen entschieden werden. Hierzu ist geplant, gemeinsam mit Patria para Todos (PPT), der Kommunistischen Partei PCV und sozialen Gruppen den „Patriotischen Pol“ wieder zu beleben. Unter diesem Namen trat das heterogene Parteienbündnis an, das Chávez bei den Präsidentschaftswahlen 1998 unterstützte. Das genaue Prozedere der KandidatInnenauswahl soll auf einer Sitzung des Gründungskongresses der PSUV am 24. Februar beschlossen werden. Wie erfolgreich die neue Partei bei den Regionalwahlen abschneiden wird, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, ob die Parteibasis auch das letzte Wort bei der Auswahl der KandidatInnen spricht.
Die Spannungen zwischen chavistischer Basis und FunktionärInnen bleiben im Hinblick auf die Wahlen von Bedeutung.
Die aus politischen, sozialen und kulturellen Organisationen bestehende Basis des chavistischen Projekts pocht nämlich auf mehr Eigenständigkeit gegenüber der offiziellen Regierungspolitik. Am 18. und 19. Januar trafen sich in Caracas hunderte BasisaktivistInnen, um über die politische Linie jenseits des offiziellen Diskurses zu diskutieren. Viele AktivistInnen machen BürokratInnen und FunktionärInnen im Regierungsapparat direkt für die Niederlage beim Referendum im Dezember (mit)verantwortlich. Das zweitägige Treffen, das vor allem von der Nationalen Vereinigung Freier und Alternativer Medien (AMNCLA) und der Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora (FNEZ) organisiert wurde, endete mit der Vereinbarung, ein eigenes politisches Programm für die Weiterentwicklung des bolivarianischen Prozesses zu erarbeiten. Da die erste Wahlniederlage von Chávez im vergangenen Dezember durch die Enthaltungen der eigenen AnhängerInnen zustande kam, werden die Spannungen zwischen chavistischer Basis und FunktionärInnen auch im Hinblick auf die Wahlen im November von Bedeutung bleiben.