Nummer 300 - Juni 1999 | Sachbuch

Nach Norden

Neuer Aufsatzband zur mexikanischen Migration in die USA

Mit „Nach Norden“ haben Dario Azzellini und Boris Kanzleiter eine Aufsatzsammlung zur mexikanisch-amerikanischen Grenze herausgegeben, wie sie auf dem deutschen Buchmarkt bisher gefehlt hat. Sie dient Neulingen als Einführung und Insidern als Zusammenfassung der Problematik.

Nicola D. Schmidt

Hoy son dolores, pero mañana serán dólares“ – Heute sind es Schmerzen, aber morgen werden es Dollars sein, in dieser Redewendung steckt all die Hoffnung der MigrantInnen, die sich auf den gefährlichen, illegalen Weg über die mexikanisch-amerikanische Grenze machen. Diesen Weg, seine sozialen und wirtschaftlichen Ursachen, die politischen Umstände auf der anderen Seite und die Problematik im eigenen Land zu erklären, ist das Ziel des neuen Buches der Forschungsstelle Flucht und Migration, „Nach Norden“, herausgegeben von Dario Azzellini und Boris Kanzleiter.
Der Wunsch der Herausgeber ist ausdrücklich, daß ihr Buch „auch Kreise und Gruppen erreicht, die sich bisher vielleicht noch nicht eingehender mit Flüchtlings- und Migrationspolitik beschäftigt haben.“ Für diese Zielgruppe haben sie einen ausgesprochen geeigneten Überblick über die Problematik der mexikanischen Arbeitsmigration zusammengestellt.
Ihr Anspruch ist umfassend: Sie wollen „die Migrationsbewegungen von Mexiko in die USA in einem sozialen, ökonomischen und politischen Kontext“ analysieren. Konkret bedeutet dies, daß sie neben der Gesetzgebung in den USA und der Verschärfung der Grenzanlagen auch die sozialen Ursachen der Migration, die Lebensbedingungen von MigrantInnen in den USA und die Binnenmigration in Mexiko untersuchen. Es schließt sich ein kleiner Anhang mit Kontaktadressen, Internet-Homepages und einer Auswahlbibliographie an – leider aber kein Literaturverzeichnis.
Den Anfang des Buches bildet ein informativer, klug gewählter Appetithappen, eine Reportage über den Alltag in der Grenzstadt Tijuana, der neugierig macht. Dieser Appetit wird in den folgenden vier Kapiteln für fast jeden Geschmack im Rahmen der machbaren Ausführlichkeit gestillt.

Betroffene kommen zu Wort

Lebendig wird das Buch vor allem dann, wenn neben den statistischen und wissenschaftlichen Quellen auch eigene Interviews der Autoren mit Menschenrechtsaktivisten, Geflüchteten und Angehörigen der Border Patrol, der US-amerikanischen Grenzpolizei, dargeboten werden. Auch wenn diese Aussagen keinen repräsentativen Wert besitzen, so können sie gerade wegen ihrer individuellen Sichtweise das Thema plastisch machen.
Migration wird in einen Zusammenhang mit der Wirtschaftsentwicklung in Mexiko und den wirtschaftlichen Interessen in den Vereinigten Staaten gestellt und insoweit innerhalb des herrschenden Erklärungskonsenses behandelt. Interessant sind zwei selbst aufgestellte Thesen der Autoren: Erstens, daß die Mexikaner eigentlich gar nicht in den USA bleiben wollen, sondern viele auch als Saisonarbeiter immer wieder in ihr Land zurückkehren würden, wenn die Gesetzgebung ihnen die Möglichkeit gäbe. Zweitens halten die Autoren die USA-freundliche Haltung des neuen mexikanischen Präsidenten für eine Ursache dafür, daß die Mexikaner ihre Abwehrhaltung gegen die Kultur des Nachbarn allmählich verlieren. Damit sinke die Hemmschwelle auszuwandern.
Auch der Seitenhieb auf die Globalisierung bleibt nicht aus: „Globalisierte Produktion – Rechtlose Arbeiterinnen in Weltmarktklitschen“ heißt Dario Azzellinis etwas reißerische Überschrift. Das Kapitel von Mike Davis ist der Entwicklung der Latino-Gemeinschaften gewidmet, die es in das gelobte Land geschafft haben. Seit die mexikanischen EinwanderInnen im politischen Diskurs der USA vermehrt als Gefahr dargestellt werden und sich durch die Politik der Regierung Clinton auch ihre eigene Situation immer mehr verschlechtert, kehrten sich traditionelle Strukturen der Solidarität zunehmend in Abwehrhaltungen um. Gleichzeitig grenzten sich diese Gemeinschaften jedoch durch eine Mischung der angloamerikanischen mit der ursprünglichen, das heißt mexikanischen Kultur gegen den Rassismus ab, dem sie tagtäglich ausgesetzt sind. Die Autoren schließen daraus, diese Gemeinschaften seien, „wie die transnationalen Unternehmen, künstliche Erzeugnisse des modernen weltweiten Systems“. Dieser Satz bleibt jedoch leider im luftleeren Raum stehen. Das „weltweite System“ wird als Dummie für alle möglichen Schuldzuweisungen benutzt. Gerade bei einem Buch, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Ursachen zu konkretisieren, mutet eine solche Phrase zu simpel an.
Das Autorenteam setzt sich vor allem aus Politologen mit journalistischem Hintergrund zusammen, der das Buch stark geprägt hat – zum Vorteil seiner Lesbarkeit. Allerdings werden im Zuge dessen dem Leser die Meinungen der Autoren als absolut verkauft. Eine Diskussion konträrer Thesen findet nicht statt. Das Buch vertieft allenfalls den herrschenden Konsens. Es belegt verständlich und nachvollziehbar die im nachhinein als verfehlt anzusehende Politik im mexikanischen Agrarsektor, bedauerlicherweise scheinen aber auch die Politologen keine politischen Alternativen zu haben – oder sie wollen sie nicht preisgeben. Nach dem Lesen des Buches ist klar, warum es so ist, wie es ist, aber der Leser bleibt seltsam allein mit der Überlegung, wie man es ändern könnte.

Keine Zukunftsperspektive

Zu lösen ist das dargestellte Problem offensichtlich nur durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung Mexikos – wie diese zu erreichen ist, das ist die spannende Frage, um die sich das Autorenteam drückt. Sie lassen ahnen, wie sie zum neoliberalen Mainstream (radikale Privatisierung, Öffnung der Märkte, etc.) stehen, aber es findet sich kein Kapitel, das die Frage wirklich diskutiert.
Empfehlenswert ist das Buch als umfassende Einführungsinformation in jedem Fall, denn es ist nicht nur informativ, sondern auch ausgesprochen angenehm geschrieben und dramaturgisch so gut aufgebaut, daß der Neuling auch trotz vieler Wirtschaftsdaten nicht aufgeben wird. Und die Insider werden hier eine gut lesbare Zusammenfassung der Diskussion um die Migrationsentwicklung zwischen den USA und Mexiko finden, die zum Weiterdenken anregen mag. Dies zumal, da die Untersuchung, auch wenn sie nicht erschöpfend sein kann, den Vergleich mit anderen Migrationsprozessen erleichtern soll, wobei die Autoren „nicht zuletzt“ die Grenze zwischen der BRD und Polen sowie der Tschechischen Republik im Blick haben. Auch hier brauchen wir den Mut für politische Lösungsansätze.

Dario Azzellini, Boris Kanzleiter (Hrsg.): Nach Norden. Mexikanische ArbeitsmigrantInnen zwischen neoliberaler Umstrukturierung, Militarisierung der US-Grenze und amerikanischem Traum. Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Strasse, Berlin und Göttingen 1999, 267 Seiten, 20,- DM (ca. 10 Euro).


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